Red Power: Amerikas indigene Stämme kämpfen bis heute um Souveränität

Gebrochene Verträge und rassistische Assimilierungspolitik unterdrückten die Kultur der Native Americans jahrhundertelang. In den Siebzigern kämpfte eine kühne – und kontroverse – Bewegung für Gerechtigkeit.

Von Erin Blakemore
Veröffentlicht am 3. Dez. 2020, 16:42 MEZ
Unthanksgiving Day

Am 28. November 2019 versammeln sich amerikanische Ureinwohner auf der kalifornischen Insel Alcatraz zur Sonnenaufgangszeremonie, die alternativ auch als Unthanksgiving Day bezeichnet wird. Die jährliche Veranstaltung findet seit der Besetzung von Alcatraz im Jahr 1969 durch Aktivisten statt, die gegen die repressive US-Politik gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern protestierten.

Foto von Liu Guanguan, China News Service, Vcg, Getty

Von der Bürgerrechts- über die Frauenbewegung bis hin zu Protesten gegen den Vietnamkrieg waren die 1960er und 1970er eine Ära des Protests. Unter diesen Aktivisten befanden sich auch Mitglieder einer der am stärksten marginalisierten Gruppen der Vereinigten Staaten: die amerikanischen Ureinwohner.

Seit der Gründung der Vereinigten Staaten im späten 18. Jahrhundert waren die Ureinwohner Amerikas die Hauptleidtragenden diskriminierender Politik, gebrochener Verträge und systemischer Ungerechtigkeit. Mit der Red-Power-Bewegung stellten junge indigene Aktivisten diese Praktiken offensiv in Frage, kultivierten erstmals ein Gefühl der gesamtindianischen Identität und des Stolzes auf ihre Herkunft, und forderten Souveränität und Selbstbestimmung.

In den ersten hundert Jahren der Geschichte des Landes unterzeichnete die US-Regierung mehr als 350 Verträge mit den amerikanischen Ureinwohnern. In diesen Verträgen, von denen viele unter Zeitdruck ausgehandelt wurden, übertrugen die Ureinwohner ihr angestammtes Land an die US-Regierung – mit dem Versprechen, dass sie souverän über die neuen Gebiete, in denen sie sich niederließen, herrschen würden. Doch als die weißen Siedler nach Westen expandierten, brachen die USA ihre Versprechen und drängten die Stämme in immer kleinere Reservate.

Eine junge Indianerin malt die Aufschrift „Indian American Land“ (dt.: indianisch-amerikanisches Land) auf eine Wand der Insel Alcataz in der Bucht von San Francisco. 1969 übernahmen Dutzende von indigenen Aktivisten aus Protest gegen die US-Politik das ehemalige Bundesgefängnisgelände und machten es sich als ein kulturelles und spirituelles Zentrum zu eigen.

Foto von Bettmann, Getty

Ab den 1940ern begann die US-Regierung, die die Stämme der Ureinwohner Amerikas zuvor als eigene Nationen anerkannt hatte, die Souveränität der Ureinwohner im Rahmen einer Politik der „Termination“ abzubauen. Unter dem Vorwand, den Ureinwohnern bei der Assimilation in die amerikanische Gesellschaft zu helfen, entzog die Bundesregierung den Stammesstatus von mehr als 100 Stämmen und Verbünden, hob den Schutzstatus von mehr als 250.000 Hektar ihres Landes auf und versuchte, die Ureinwohner aus den Reservaten in städtische Gebiete umzusiedeln. Das Bureau of Indian Affairs (BIA; dt.: Büro für Indianerangelegenheiten) – die Bundesbehörde, die den Indianern seit 1824 ohne ihre Mitwirkung oder Zustimmung Gesetze auferlegt hatte –wurde zu einem Symbol für Hass und Unterdrückung.

Von sozialen Ungleichheiten benachteiligt, sahen sich die Ureinwohner mit Armut, Kriminalität und Verzweiflung konfrontiert. Die US-Regierung und die amerikanische Gesellschaft erkannten die gebrochenen Verträge kaum an. Fehlgeleitete Assimilationsversuche hatten zum Verlust der indigenen Sprachen und zur Unterdrückung vieler religiöser und kultureller Praktiken der Ureinwohner geführt.

BELIEBT

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    Als Reaktion darauf versuchte eine wachsende Bewegung junger Ureinwohner, ihre Souveränität durch die sogenannte Red-Power-Bewegung zurückzuerobern. Die junge Generation war medienversiert und durch die Protestbewegungen der 1960er inspiriert. Sie veranstalteten öffentlichkeitswirksame Proteste, um das Bewusstsein für die Probleme der Ureinwohner zu schärfen.

    Eine der ersten solchen Aktionen war die Besetzung der Insel Alcatraz in der Bucht von San Francisco, auf der sich ein stillgelegtes Gefängnis befindet. Dort wurden einst Hopi-Männer und andere amerikanische Ureinwohner gefangen gehalten. Im November 1969 übernahm eine Gruppe, die sich Indians of All Tribes (dt.: „Indianer aller Stämme“) nannte, die Insel und rief sie im Namen aller Indianer zu einem kulturellen und spirituellen Zentrum aus. Die Besetzung dauerte bis Juni 1971, als sie sich aufgrund von organisatorischen Problemen, Machtkämpfen und zunehmend schlechteren Bedingungen auflöste, da die US-Regierung Strom und Wasser für die Insel abschaltete.

    Obwohl die Aktivisten ihre Insel nicht behalten konnten, inspirierte ihre Aktion ein größeres Problembewusstsein und weitere Proteste von Gruppen wie der des American Indian Movement (AIM). Das AIM wurde 1968 in Minneapolis, Minnesota, gegründet und entwickelte sich bald zur sichtbarsten und umstrittensten Organisation der Bewegung.

    Die Besetzung der Insel Alcatraz befeuerte eine Bewegung, durch die die Ureinwohner Amerikas einen Großteil ihrer Souveränität zurückgewannen. Dieses Erbe setzt sich in modernen Protesten über Land- und Wasserrechte fort, ebenso wie in den Verträgen, deren gebrochene Versprechen bis heute nicht eingelöst wurden.

    Foto von Liu Guanguan, China News Service, Vcg, Getty

    Im Oktober 1972 organisierte die AIM den „Trail of Broken Treaties“, eine Karawane, die von der Westküste nach Washington, D.C., reiste. Die Teilnehmer forderten die Wiederherstellung der Vertragsautorität der Stämme, die Abschaffung des Büros für Indianerangelegenheiten und Investitionen in Arbeitsplätze, Wohnraum und Bildung. Nach ihrer Ankunft in Washington verbarrikadierten sie sich im Gebäude des Büros für Indianerangelegenheiten. Die Pattsituation endete eine Woche später, als die Bundesregierung sich bereit erklärte, sich mit den Beschwerden der Gruppe zu befassen und einen Ureinwohner für einen Posten innerhalb der BIA zu ernennen.

    Es folgte eine 71-tägige Belagerung von Wounded Knee in South Dakota, die im Februar 1973 begann. Die im Indianerreservat Pine Ridge gelegene Stadt war 1890 Schauplatz eines Massakers, bei dem Soldaten der US-Armee schätzungsweise 150 Ureinwohner abschlachteten. In den 1970ern dominierten Armut und Kriminalität das Reservat. Eine Gruppe von Oglala Lakota bat AIM um Hilfe bei der Absetzung ihres Stammesvorsitzenden Richard Wilson, den sie der Korruption verdächtigten. Ein Versuch, ihn anzuklagen, war zuvor bereits gescheitert.

    AIM-Aktivisten und Mitglieder der Oglala Lakota übernahmen die Kontrolle über Wounded Knee, forderten Wilson zum Rücktritt auf und wiederholten ihren Aufruf an die US-Regierung, ihre Verträge einzuhalten. Bald waren sie von einer „provisorischen Bundesarmee“ des FBI umgeben, wie der Historiker Ian Record es ausdrückte. Die Gesetzeshüter waren mit Maschinengewehren und militärischer Ausrüstung bewaffnet. Als die Demonstranten, deren Versorgung mit Lebensmitteln und Vorräten abgeschnitten wurde, 71 Tage später kapitulierten, waren zwei Aktivisten bereits erschossen worden. Die Besetzung hatte landesweit Schlagzeilen gemacht.

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    Der letzte große Protest der Bewegung, der Longest Walk im Jahr 1978, führte die Teilnehmer auf einem fünfmonatigen, 4.800 Kilometer langen spirituellen Protestmarsch nach Washington, D.C. Die Aktion sollte die Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Bundesgesetzen lenken, die die Land- und Wasserrechte der Ureinwohner weiter gefährdeten und sie von sozialen Diensten abschnitten. Präsident Jimmy Carter weigerte sich, sich mit den Aktivisten zu treffen. Der Kongress zog die Gesetze jedoch zurück und verabschiedete stattdessen den American Indian Religious Freedom Act von 1978, der die Rituale der Ureinwohner schützte.

    Die Red-Power-Bewegung war in den 1980ern im Niedergang begriffen, nachdem jahrelange Überwachung, Untersuchungen und Infiltration durch das FBI unter ihren Mitgliedern Machtkämpfe und Misstrauen geschürt hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie jedoch bereits bedeutende Veränderungen in der Bundespolitik angestoßen. Im Jahr 1975 kehrte die US-Regierung ihre Politik der Termination um und gab den Stämmen wieder die Möglichkeit, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Die USA beendeten in den 1970ern auch große Teile ihrer langjährigen Assimilationspolitik und investierten in Bildung und Gesundheit der amerikanischen Ureinwohner.

    Mitglieder der Red-Power-Bewegung demonstrierten vor der Handelskammer in Gallup, New Mexico, gegen das Gallup Inter-Tribal Indian Ceremonial der Stadt. Sie betrachteten die jährliche Veranstaltung als ausbeuterisch für die Kultur der amerikanischen Ureinwohner.

    Foto von Paolo Koch, Gamma-Rapho, Getty

    Aber das vielleicht größte Vermächtnis der Bewegung ist das Gefühl des Stolzes, das aus ihr hervorging. Die amerikanischen Ureinwohner waren nun bewaffnet mit einem neuen nationalen Bewusstsein für die Ungerechtigkeiten, denen sie historisch ausgesetzt waren. Dank der neuen Investitionen in den Erhalt ihrer Kultur gelang es den Ureinwohnern Amerikas, einen Großteil jener Souveränität wieder zurückzuerobern, die ihnen lange vorenthalten wurde. Bruce Johansen, ein Professor für Indianerstudien an der University of Nebraska in Omaha, bezeichnet diese Zeit als „eine Reise der Entdeckung und Rückgewinnung der Kultur“.

    Es ist eine Reise, die bis heute andauert. Noch immer kämpft eine neue Generation von indigenen Aktivisten für alles Mögliche, von Wasserrechten bis zur Anerkennung ihres Rechts, Verbrechen auf ihrem Land zu ahnen, das ihnen in Verträgen aus dem 19. Jahrhundert zugesichert wurde. „Die Amerikaner haben erkannt, dass die Ureinwohner immer noch hier sind, dass sie einen moralischen und gesetzlichen Status haben“, sagte AIM-Mitbegründer Dennis Banks während eines Protests im Jahr 2000. „Auf dieser Grundlage begann unser Volk ein Gefühl des Stolzes zu entwickeln.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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