London im Römischen Reich: Schädel erzählen Geschichte der Gewalt

Wissenschaftler untersuchten die Spuren an 39 Schädeln aus Londinium und fragen: Gehörten sie Gladiatoren, Verbrechern oder Kriegsopfern?

Von Dan Vergano
Veröffentlicht am 3. Aug. 2021, 13:16 MESZ
Die Darstellung auf diesem Kupferstich zeigt Gladiatoren, die in der Arena um ihr Leben kämpfen.

Die Darstellung auf diesem Kupferstich zeigt Gladiatoren, die in der Arena um ihr Leben kämpfen.

Foto von Time & Life Pictures, Mansell, Getty

Die Gladiatoren im Römischen Reich hatten einen lebensgefährlichen Job: Hieb-, Stich- und Schnittverletzungen waren bei jedem Einsatz garantiert und auch mit dem Tod war immer zu rechnen. Ein Team forensischer Archäologen hat eine Sammlung von Schädeln aus der Zeit untersucht, die in London gefunden wurden. Sie wiesen Spuren brutaler Gewalteinwirkung und Enthauptung auf und legen nahe, dass dies die herkömmlichen Todesursachen der Gladiatoren, Verbrecher und Kriegsgefangenen im Römischen Reich waren.

Archäologischen Schätzungen nach wurde die römische Siedlung Londinium etwa 47 n. Chr. gegründet. In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts erlangte sie den Status der Hauptstadt der römischen Provinz Britannia und wuchs beständig weiter. Sie war Stützpunkt der römischen Legionen, Heimat störrischer Briten und verfügte über ein Amphitheater, in dem Gladiatorenkämpfe ausgetragen wurden.

Im heutigen London finden sich einige unterirdische Flüsse, sogenannte „lost rivers“, die im Laufe der fortschreitenden Ausdehnung der Stadt überbaut wurden. Einer von ihnen ist der Walbrook-Bach, der auf der Nordseite in die Themse mündet. Als London noch Londinium hieß und das Gewässer überirdisch lag, gab es an seinem Ufer Gerbereien und Gruben in denen Tote informell verscharrt wurden. Im Jahr 1989 fanden Arbeiter in seinem Flussbett 39 Schädel, die aus dieser Zeit stammen.

Londinium: Spuren brutaler Gewalt

Rebecca Redfern, leitende Kuratorin für Archäologie am Museum of London, und Heather Bonney, leitende anthropologische Kuratorin am Natural History Museum in London, haben die Schädel analysiert. In ihrer Studie, die in der Zeitschrift „Archaeological Science“ erschien, berichten sie von den Spuren von Gewalt und Enthauptung, die die Exponate aufweisen.

„Es ist möglich, dass diese Schädel hingerichteten Kriminellen und Gladiatoren zugeordnet werden können. Möglicherweise handelt es sich aber auch um Trophäenköpfe“, erklärt Rebecca Redfern. „Wir sind in jedem Fall davon überzeugt, dass die Verletzungen, die wir an diesen Überresten festgestellt haben, nicht aus Versehen entstanden sind, sondern den Menschen absichtlich zugefügt wurden.“

Gladiatorenkämpfe waren die beliebteste und häufigste Form der Unterhaltung im Alten Rom. Die Kämpfer traten in Amphitheatern überall im Römischen Reich gegeneinander oder gegen Tiere an, dabei trugen sie verschiedene Kostüme, die die unterschiedlichen Kampfgattungen auswiesen. Zeitgenössische Darstellungen zeigen oft kämpfende Gladiatoren – aber auch römische Legionäre, die die abgetrennten Köpfe ihrer besiegten Feinde dem Imperator präsentieren. Für beide und andere grausamen Praktiken zu Zeiten der Alten Römer könnten die Schädel ein Beleg sein.

Der Unterkieferknochen eines erwachsenen Mannes, der in der Grube am Walbrook-Bach gefunden wurde, wurde vermutlich von einem Hund angenagt.

Foto von Time & Life Pictures, Mansell, Getty

Die untersuchten Schädel stammen hauptsächlich von Männern im Alter von 26 bis 35 Jahren, wobei vier von ihnen nicht sicher Männern oder Frauen zugeordnet werden konnten. Belegt ist aber, dass sie auf einen Zeitraum zwischen 120 und 160 n. Chr. datiert werden können, in die Hochzeit des antiken Londiniums.

An allen Schädeln konnten Spuren von Verletzungen durch stumpfe Gewalteinwirkung oder Stich- und Schnittwunden festgestellt werden. Eine mikroskopische Verschleißanalyse zeigte in den meisten Fällen Frakturen im Bereich der Augen und dem Jochbein, sowie Hinweise auf Schläge auf den Hinterkopf – einige Schädel waren permanent eingedellt. Keiner der Schädel war ohne Spuren überstandener Verletzungen, an acht von ihnen waren Hinweise auf Brüche zu erkennen, die vor dem Tod ihres Besitzers wieder verheilt waren.

Doch es sind die Verletzungen, die kurz vor oder nach dem Tod zugefügt wurden und nicht mehr heilen konnten, die dabei helfen, die Todesumstände der Männer zu rekapitulieren. Über die Hälfte der Schädel trugen mehr als eine Verletzung, die ihren Besitzern zu diesem Zeitpunkt zugefügt worden sein muss. Einer der Schädel zeigt deutliche Spuren einer Enthauptung. Dass aber in der Nähe der anderen Schädel bis auf einen Oberschenkelknochen keine anderen Reste von Körperteilen gefunden wurden, lässt der Studie nach vermuten, dass auch ihre Besitzer vor oder nach ihrem Tod geköpft wurden.

Wem gehören die Schädel?

Die Autorinnen der Studie kommen zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Exponaten wohl um die Schädel von Gladiatoren handelt, die im Amphitheater Londiniums, das in der Nähe des Walbrook-Bachs stand, ihr Leben verloren haben.

In der Studie heißt es: „Die Hinweise könnten Zeichen für die Enthauptung tödlich verletzter Kämpfer im Amphitheater sein.“ Obwohl römischen Gladiatoren prinzipiell offizielle Begräbnisse zugestanden wurden, „sind die Leichen vieler Kämpfer in dem Amphitheater nicht von Angehörigen abgeholt worden, wodurch eine formelle Bestattung auf einem Friedhof oder die Kremation ausgeschlossen war.“

Kathleen Coleman, klassische Philologin an der Harvard University in Massachusetts, zweifelt diese Theorie an. Anders als auf dem Gladiatorenfriedhof im türkischen Ephesos wurden am Walbrook-Bach keine Grabsteine gefunden. „Es gibt keine Beweise, die die Schädel mit Gladiatoren in Zusammenhang bringen“, sagt sie. „Die verstümmelten menschlichen Überreste, stammen meinem Erachten nach eher von Opfern von Überfällen, Bandenkriegen oder Stadtaufständen.“

Rebecca Redfern hält dagegen, dass all diese Gründe nicht die große Ansammlung von Schädeln erklären würden. „Es sind keine Belege für soziale Unruhen, Kämpfe andere Fälle von organisierter Gewalt in Londinium bekannt, die in die Zeit fallen, aus der die Schädel stammen“, sagt sie. Für sie gäbe es „zwei mögliche Erklärungen: Entweder stammen die Schädel von verletzten Gladiatoren oder es handelt sich um Trophäenköpfe, was auch eine spannende Perspektive ist.“

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Köpfe sammeln – Hobby der Legionäre

Das Sammeln von Feindesköpfen als Kriegstrophäe von Legionären ist belegt. Unter anderem findet man auf der Trajanssäule in Rom Darstellungen römischer Soldaten, die die Köpfe ihrer Feinde auf Pfählen aufgespießt haben, um sie zu präsentieren. An den Schädeln aus London fehlen zwar die Beschädigungen, die dieses Aufspießen der Köpfe zur Folge gehabt hätte, laut den Autorinnen der Studie bedeutet das aber nicht, dass die Praxis in Londinium nicht gängig gewesen wäre.

„Die Praxis des Sammelns von Feindesköpfen war im römischen Militär weit verbreitet“, heißt es in der Studie. Die Gefechte am Hadrianswall im Norden des Landes, nahe der heutigen Grenze zwischen England und Schottland, hätten genug Gelegenheit dazu gegeben. Die Anzeichen für eine Enthauptung, bestimmte Stichwunden und die reine Menge der gefundenen Schädel sind mögliche Hinweise darauf, „dass es sich zumindest bei einigen der Schädel um Trophäenköpfe handeln könnte.“

Eine andere Möglichkeit, die die Wissenschaftlerinnen in Betracht ziehen, ist, dass die Schädel zu Verbrecher gehörten, deren Köpfe nach ihrer Hinrichtung für das Volk ausgestellt wurden. Einer der Schädel scheint von einem Hund angenagt worden zu sein, bevor er in der Grube landete.

„Man sagt, die Alten Römer waren blutrünstig. Für ihr brutales Verhalten in Londinium haben wir hiermit zum ersten Mal Hinweise“, sagt Rebecca Redfern. Ihr zufolge sind die gesammelten Belege noch nicht konkret genug, um definitiv zu bestimmen, ob die Schädel von Gladiatoren, Kriminellen oder Feinden des Römischen Reichs stammen.

Doch die Archäologen hoffen, mithilfe einer Isotopenuntersuchung die Herkunft der Besitzer der Schädel zu ermitteln. Dadurch ließe sich feststellen, ob die Menschen aus der Umgebung von Londinium stammten, oder ob sie unglückliche Verschleppte aus anderen Orten der Welt waren, die zum Beispiel als Gladiatoren einen grausamen Tod im antiken London fanden.

Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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