Deutschlands spannendste Moorleichen: Was die Toten über unsere Vergangenheit verraten

Vor Jahrtausenden gestorben, im Moor konserviert: Moorleichen sind wertvolle, archäologische Seltenheiten voller Geheimnisse. Wie sie entstehen und warum neue Funde unwahrscheinlich sind.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 2. Feb. 2023, 08:43 MEZ
Nahaufnahme des Kopfes und Oberkörpers einer Moorleiche.

Der Mann von Rendswühren war ungefähr 40 bis 50 Jahre alt, als er im 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. starb. Der Lederstreifen an seinem Fuß leistet einen besonders raren Beitrag zur materiellen Überlieferung jener Zeit: Im normalen Milieu wäre er nicht erhalten geblieben.

Foto von Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen 2023

Die Haut des Mannes ist schwarz gegerbt, unter ihr sind die Umrisse von Knochen zu erkennen, am rechten Knöchel ist ein Lederstreifen befestigt. Sein Tod lag ungefähr 17 Jahrhunderte zurück, als seine Leiche im Jahr 1871 von Torfarbeitern entdeckt und dem nassen, kalten Grab im schleswig-holsteinischen Heidmoor entnommen wurde. Nun liegt die Moorleiche des Mannes von Rendswühren, der im 1. oder 2. Jahrhundert n. Chr. lebte, hinter Glas im Museum für Archäologie im Schloss Gottorf – so gut erhalten, dass man kaum glauben kann, dass so viele Jahren zwischen seinen und unseren Lebzeiten liegen sollen.

Beim Betrachten einer Moorleiche fühlt man eine besondere Verbindung zur Geschichte. Was lange vergangen ist, fühlt sich plötzlich ganz nah an und man will wissen: Wer war diese Person? Wie starb sie? Und warum endete sie im Moor?  

Wie entstehen Moorleichen?

Das Besondere an Moorleichen ist, dass ihre Körper nicht artifiziell erhalten wurden, sondern natürlich mumifiziert sind. Anders als bei den Mumien des alten Ägyptens geschieht die Konservierung nicht durch Eingriff von Menschenhand, sondern ausschließlich aufgrund des feuchten Moormilieus. Unter anderem hält der Luftausschluss Bakterien von der Leiche fern und verlangsamt dadurch den Verwesungsprozess. Doch es sind noch andere Kräfte am Werk.

„Wichtig sind vor allem die Huminsäuren“, erklärt Angelika Abegg-Wigg, Archäologin und Kuratorin der eisenzeitlichen Sammlung im Schloss Gottorf in Schleswig. „Das sind Stoffe im Moor, die antibakteriell und konservierend auf den Körper wirken, ihm das Wasser entziehen und so den Fäulnisprozess hemmen.“ Ein chemischer Prozess, der mit dem Gerben von Tierhäuten vergleichbar ist. Huminsäuren sind aber nicht in jedem Moor im selben Maße vorhanden oder aktiv. „Nicht jedes Moor konserviert gleich“, so Abegg-Wigg. „Stand der Forschung ist, dass die Konservierungseigenschaften selbst innerhalb eines Moores ganz unterschiedlich sein können.“

“Die klassische Hochmoorleiche ist vor allem ein durch die Last der Torfschichten plattgedrückter Hautschlauch.”

von Marion Heumüller
Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege

Die wichtigste Trennlinie verläuft allerdings zwischen Nieder- und Hochmoor. Niedermoore werden durch das Grundwasser, Hochmoore durch Regenwasser gespeist. „Im Vergleich zu den Niedermooren haben Hochmoore einen extrem niedrigen pH-Wert“, erklärt Marion Heumüller, Referentin für Moor- und Feuchtbodenarchäologie beim Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege. „Nur das ermöglicht die Erhaltung der typischen Moorleichen, also mumifizierter Menschen, die Jahrhunderte oder Jahrtausende nach ihrem Tod mit Haut, Haaren, Nägeln und in einigen Fällen auch mit inneren Organen erhalten sind.“

Im Niedermoor werden hingegen Knochen und pflanzliche Fasern besser konserviert, sodass hier meist nur noch Moorskelette gefunden werden. Im Hochmoor wird Knochen und Zähnen das Kalzium entzogen. Das lässt sie ganz weich werden. „Die klassische Hochmoorleiche ist vor allem ein durch die Last der Torfschichten plattgedrückter Hautschlauch“, sagt Heumüller. Für die Ausstellung im Museum werden diese dann meist plastisch präpariert.

BELIEBT

    mehr anzeigen

    Der Mann von Damendorf ist eine typische Hochmoorleiche, von der nur noch die Hauthülle und rotgefärbte Haare erhalten sind. Das Moor, in dem er lag, hat außerdem die Teile seiner Kleidung, die nicht aus pflanzlichen Fasern bestanden, konserviert: Mantel, Hose und Wickelbinden aus Wolle sowie Gürtel und Schuhe aus Leder. 

    Foto von Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen 2023

    Besonders faszinierend ist der Erhaltungszustand der Haare, die durch die Huminsäuren rötlich eingefärbt sind. Ihre Struktur bleibt jedoch erhalten – und manchmal sogar Frisuren wie beim Mann von Osterby, dessen Kopf im Schloss Gottorf zu sehen ist. Obwohl der Mann – wohl durch Enthauptung – bereits in der Römischen Kaiserzeit starb, schmückt dessen Kopf noch heute ein Schläfenknoten – die typische Männerfrisur des germanischen Stammes der Sueben.  

    Archäologische Seltenheit

    In Europa sind Moorleichenfunde vorwiegend aus nördlichen Gebieten bekannt, in denen die Landschaftsform des Hochmoors stark verbreitet ist. „Das geht in Irland los, über England, Deutschland, den skandinavischen Raum und vereinzelt bis Osteuropa“, sagt Abegg-Wigg. Aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein, den Hauptfundorten für Moorleichen in Deutschland, sind jeweils 60 Funde bekannt. Den letzten gab es im Jahr 2000 in Niedersachsen zu vermelden. Die europaweite Gesamtzahl zu bestimmen, ist schwer: Die Fachliteratur geht von etwa 1.000 bis 1.100 Funden aus, von denen allerdings viele inzwischen nicht mehr erhalten sind – und es ist unwahrscheinlich, dass neue hinzukommen werden.

    „Moorleichen sind heute in jedem Fall ausgesprochen seltene Funde“, sagt Marion Heumüller. Grund dafür sei die für sie typische Entdeckungsgeschichte: Meist ist der Zufall im Spiel – und der Torfabbau. „Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurden in Deutschland immer wieder Moorleichen gefunden, die meisten zwischen 1850 und 1950, als Torf verstärkt und meist noch per Hand als Brennmaterial abgebaut wurde“, erklärt sie.

    Der Schädel des Mannes von Osterby aus der Eisenzeit wurde im Jahr 1948 beim Torfstechen entdeckt. Er war in Fellstücke eingewickelt und wies Spuren einer Enthauptung auf, an der rechten Kopfseite sind die Haare zu einem Schläfenknoten gebunden. Der Körper wurde nicht gefunden. Ob auch er im Moor niedergelegt wurde und ob der Mann hingerichtet oder geopfert wurde, lässt sich heute nicht mehr ermitteln.

    Foto von Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen 2023

    In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts riss diese Fundserie schlagartig ab. Dort, wo, wie in Niedersachsen, noch Torf abgebaut wird, geschieht dies nicht mehr von Hand, sondern unter Einsatz großer Maschinen. „Da ist es wirklich Zufall, wenn die Arbeitskraft oben auf der Maschine sieht, dass da unten im Moor etwas ist. Meist sind die Leichen dann schon zerstört“, sagt Abegg-Wigg. „Die frühen Funde aus dem 19. Jahrhundert, die von Hand freigelegt wurden, sind im Vergleich deutlich besser erhalten.“

    Doch der Torfabbau wird ohnehin stark zurückgefahren. Um die bedrohten Ökosysteme zu retten, wurden in Schleswig-Holstein die meisten Moore bereits unter Naturschutz gestellt. „Da finden keine Baumaßnahmen, keine Untersuchungen und kein wirtschaftlicher Abbau statt. Niemand geht da mehr rein und entdeckt etwas“, sagt Abegg-Wigg. „Es wäre also ein großer Zufall, wenn hier in Zukunft noch Moorleichen gefunden werden.“

    Den Geheimnissen der Moorleichen auf der Spur

    Umso wertvoller sind die Moorleichen, die bis heute gefunden wurden. Sie stammen aus verschiedenen Zeitaltern: Von Soldaten und Piloten aus dem Zweiten Weltkrieg über Menschen der Neuzeit und des Mittelalters bis in die Bronzezeit und teilweise darüber hinaus. Die Mehrheit der klassischen europäischen Hochmoorleichen hat ihren Ursprung jedoch in der Zeit zwischen 600 v. Chr. und 400 n. Chr., also in der Vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit.

    Die Datierung von Moorleichenfunden ist jedoch nicht ganz einfach – insbesondere, wenn keine eindeutigen archäologischen Beifunde wie zum Beispiel Keramiken, Münzen oder Fibeln vorliegen, die bei der chronologischen Einordnung helfen könnten. Wo früher oft nur spekuliert werden konnte, ist es heute dank naturwissenschaftlicher Analysemethoden wie der Pollenanalyse oder der C-14-Methode möglich, Moorleichen eine Vielzahl von Geheimnissen zu entlocken: Neben Alter und Geschlecht, lassen sich so inzwischen auch relativ konkrete Aussagen zum Erscheinungsbild, dem Gesundheitszustand und möglichen Todesursachen machen.

    Doch Vorsicht ist geboten. Laut Angelika Abegg-Wigg sind Moorleichen ein äußerst sensibles Sammlungsgut, das nicht einfach so destruktiv beprobt werden kann. „Wird ein Stück Haut für die Untersuchung entnommen, ist es für immer weg“, sagt sie. Auch bei nicht-invasiven Methoden wie dem Röntgen oder CT besteht die Gefahr, dass die fragile Leiche aus Versehen beschädigt wird. „Eine Untersuchung wird darum eigentlich nur erlaubt, wenn davon ausgegangen werden kann, dass sie ein neues Ergebnis oder einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn bringt.“

    Auch das Kind von Windeby lebte in der Eisenzeit. Der ursprünglichen Deutung seiner Moorleiche lagen eine Reihe irrtümlicher Interpretationen zugrunde. Heute wird in Betracht gezogen, dass es sich bei der Deponierung um eine sorgfältige Bestattung gehandelt hat. Warum das Kind jedoch abseits der Gemeinschaft beigesetzt wurde, ist nicht geklärt.

    Foto von Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen 2023

    Beim Kind von Windeby, das sich ebenfalls im Museum auf Schloss Gottorf befindet, war dies der Fall. Als die Moorleiche in den 1950er Jahren im Domslandmoor bei Eckernförde gefunden wurde, gab man ihr aufgrund ihres zierlichen Knochenbaus und des falsch gedeuteten Fundzusammenhangs zunächst den Namen Mädchen von Windeby. Als einige Wochen später in der Nähe eine weitere, eindeutig männliche Moorleiche entdeckt wurde, war man sich sicher: Bei dem Mädchen handelte es sich um eine Ehebrecherin, die zur Strafe gemeinsam mit ihrem Geliebten ins Moor getrieben worden war.

    Untersuchungen im Jahr 2005 widerlegten die Theorie. „Es wurde festgestellt, dass das Kind von Windeby aus der Römischen Kaiserzeit und die männliche Leiche aus der Vorrömischen Eisenzeit stammt“, sagt Abegg-Wigg. „Zwischen ihnen liegen rund 300 Jahre, das ist ein Abstand von mehreren Generationen – die kannten sich gar nicht.“ Zudem warf eine gentechnische Analyse der jüngeren Moorleiche Zweifel an ihrem bisher angenommenen Geschlecht auf. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, ob die Leiche männlich oder weiblich ist, doch die Tendenz geht eher in die männliche Richtung. Auch das zeige, so Abegg-Wigg, wie vorsichtig man mit einer Interpretation sein müsse.

    Hinrichtung, Menschenopfer, Bestattung – oder Unfall?

    Im Fall des Kindes von Windeby deckte sich die ursprüngliche Deutung in vielen Punkten mit Berichten aus der Schrift Germania, die der römische Historiker Tacitus im 1. Jahrhundert n. Chr. über die Germanen verfasst hat. Seinen Tod mit der Ehebrecherinnen-These zu erklären, lag also nahe. Doch auch sonst ist die Versuchung groß, in den Fund einer Leiche in einer unheimlichen Landschaft wie dem Moor eine spannende Geschichte hineinzudeuten. Während das Phänomen die Fantasie beflügelt und in der Literatur schon viele Romane inspiriert hat, gibt es dafür aus wissenschaftlicher Sicht bis heute keine allgemeingültige Interpretation.

    Das Problem: Nur selten gelingt es, die genaue Todesursache zu ermitteln. Hinrichtungen und Gewaltverbrechen hinterlassen Spuren: etwa beim Mann von Dätgen, der enthauptet wurde, oder dem Jungen von Kayhausen, der Stichverletzungen erlag. Doch „diesen wenigen Beispielen von klarer Gewalteinwirkung steht die große Mehrzahl der Moorleichen gegenüber, bei denen nichts dergleichen festgestellt werden konnte“, sagt Marion Heumüller. „Meist lassen sich die Umstände und die Ursachen des Todes nicht mehr klären. Daher ist die Deutung immer stark dem jeweiligen Zeitgeist unterworfen.“

    Bei dem Götterpaar von Braak handelt es sich um zwei Figuren, die im 5. Jahrhundert v. Chr aus den Astgabeln von Eichen gefertigt worden sind. Sie stammen aus einem Moor in Schleswig-Holstein und sind die größten anthropomorphen Holzidole, die je gefunden wurden: Die männliche Figur ist 2,8 Meter, die weibliche 2,3 Meter hoch. 

    Foto von Katarina Fischer

    Laut Heumüller ist eine Deutung, die heute bei der Interpretation von Moorleichen oft favorisiert wird, die des Menschenopfers. Moore sind unwirkliche Welten und archäologische Funde wie das fast drei Meter hohe Götterpaar von Braak aus der Vorrömischen Eisenzeit legen nahe, dass sie für die Menschen auch spirituelle Bedeutung hatten. Möglicherweise wurde das Moor in kultische Rituale mit einbezogen, bei denen ganz bewusst Menschen geopfert wurden.

    Jeder Fund ein Cold Case

    Ob dies direkt im Moor geschah, oder die Toten im Anschluss an das Ritual lediglich dort niedergelegt wurden, lässt sich heute nicht mehr ermitteln. So ist es im Grunde unmöglich, zwischen einem ehemaligen Menschenopfer und einer Person zu unterscheiden, die einfach nur im Moor bestattet wurde. Letztere Möglichkeit ist jedoch nicht weniger spannend, denn die Niederlegung von Toten im Moor wäre für die damalige Zeit äußerst unüblich gewesen.

    „In der römischen Kaiserzeit wurden auf dem Gebiet des heutigen Schleswig-Holsteins Verstorbene auf dem Scheiterhaufen verbrannt und die Überreste in Urnen auf großen Gräberfeldern bestattet“, erklärt Abegg-Wigg. Seltener, aber ebenfalls aus der Zeit bekannt, sind Körperbestattungsnekropolen. „Moorleichen sind jedoch tote Körper, die in einem völlig anderen Milieu liegen und das meist ganz alleine – es wurden keine 20 bis 30 Moorleichen nebeneinander gefunden.“ Funde, bei denen die Art der Niederlegung oder Grabbeigaben auf eine sorgsame Beisetzung hindeuten, werfen also die Frage auf, warum dieser Mensch außerhalb der normalen rituellen Vorschriften und abseits der Gemeinschaft bestattet wurde.  

    Gemieden haben die damaligen Menschen die Moore nicht – das zeigen archäologische Funde von Bohlenwegen aus der Eisenzeit. Sie waren fester Bestandteil der Landschaft und wurden bewusst überquert und wirtschaftlich genutzt. Somit besteht auch immer die Möglichkeit, dass ein alltäglicher Unfall den Tod des Menschen herbeigeführt hat, den wir heute als Moorleiche im Museum betrachten können.

    „Jeder Fall ist unterschiedlich“, sagt Angelika Abegg-Wigg. Das betont auch Marion Heumüller. „Es muss immer nach individuellen Ursachen und Umständen gesucht werden“, sagt sie. Genau darin liegt wohl die große Faszination des Moorleichen-Phänomens: Es geht um Einzelschicksale und rätselhafte Todesumstände. Jeder mumifizierte Körper aus dem Moor ist wie ein Kriminalfall, ein wortwörtlicher Cold Case. Die wenigsten werden wohl je gelöst werden – doch die Archäologie ermittelt weiter.

     

     

    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie
    • Video

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved