Cowboys in Patagonien: Das Ende des Weges

Patagoniens Cowboys bändigen das wildeste Vieh der Welt. Doch bald braucht man sie nicht mehr.

Von Alexandra Fuller
bilder von Tomás Munita
Foto von Tomás Munita

Zusammenfassung: "Bagualeros" heißen Patagoniens Cowboys. Sie machen Jagd auf wilde Rinder in Sutherland, einem Landfinger im chilenischen Teil Patagoniens. Es ist eine unwegsame Landschaft, weit entfernt von der Zivilisation. Die Familie Iglesias baute dort in den 60er Jahren eine Farm, die jedoch schon lange nicht mehr bewohnt wird. Zurück blieben einige Rinder, die verwilderten und sich vermehrten. Eine Gruppe "Bagualeros" begibt sich zum letzten Mal auf die Suche nach dem „wilden Vieh“, um es zum Verkauf zusammenzutreiben. Alexandra Fuller begleitet diesen Ritt in die Wildnis, den Kampf mit der Kälte, gegen den Hunger, die Geschichten am Lagerfeuer und das brutale Aufeinandertreffen zwischen Mensch und Tier .

Diese Geschichte handelt von Blut, Mut und Traditionen. Wie in vielen solcher Geschichten kommen Pferde darin vor. Und Männer, echte Kerle, die etwas können, und ja, natürlich, in Lebensgefahr geraten.

Wie die meisten dieser Geschichten spielt sie in einer mythischen Wildnis, auf normalen Wegen kaum zu erreichen. Wenn man weiß, wo man suchen muss, findet man Sutherland auf einer topografischen Karte: ein Landfinger im Süden Patagoniens, der in den chilenischen Fjord Última Esperanza ragt. Etwas weiter nördlich erstreckt sich der ebenfalls unzugängliche Nationalpark Torres del Paine, dahinter liegen die wilden, unpassierbaren Eis­felder, die Patagonien vom Rest Chiles trennen. Die zerklüftete Meeresbucht im Osten wird häu­fig von starkem Wind aufgewühlt und ist mit dem Schiff nicht immer ohne Risiko zu befah­ren. Erst an der Küste kommt man wieder in die Zivilisation, nach Puerto Natales mit seinen Touristenläden und Restaurants.

In Sutherland werde ich dem Stier begegnen.Es war schon vorher zu ahnen, dass meine Reise gefährlich sein würde. Und etwas verwirrend. Diese Welt ist nicht nur schwer zu berechnen, sondern auch schwer zu fassen. Man müsse weit zurückblicken, wenn man das Leben hier ver­stehen will, sagt Sebastián: „Jemand, der keine Beziehung zu seinen Ahnen und zu seinem Land hat, wird das nicht nachvollziehen können.“

Sebastián García Iglesias ist 26 Jahre alt, von Beruf Agraringenieur, aber Cowboy im Herzen, ein Mann, der sein Leben mit großen Tieren verbracht hat. Angeblich sieht er seinem Groß­onkel Arturo Iglesias ähnlich, der 1919 in Puerto Natales geboren wurde, und über den man sich regelrechte Sagen erzählt. Gewissermaßen habe ich Arturo Iglesias diese Reise zu verdanken.

Die Familie Iglesias hatte sich 1908 als eine der ersten hier niedergelassen und einen Ge­mischtwarenladen für Pioniere eröffnet. Wenig später gründete sie auf einem Stück Land, das sich pittoresk zwischen Meer und Berge schmiegt, eine Farm, die Estancia Mercedes.

1960 erwarb Arturo dann die Estancia Ana María hinzu, die nur mit dem Boot zu erreichen ist – oder mit einem zehnstündigen Ritt, wenn man bereit ist, einen Sumpf zu durchqueren, in dem das Pferd immer wieder bis zum Bauch im Schlamm versinkt. Und als wäre Ana María nicht abgelegen genug, baute Arturo noch eine Ansiedlung in Sutherland, einem nahezu uner­ reichbaren Winkel der Estancia.

Ganz zu Anfang wohnten dort ein Farm­helfer, seine Frau und ihre beiden Kinder in einem kleinen Haus, aber die Frau lief mit einem Fischer davon. Später zogen auch der Mann und die beiden mutterlosen Kinder fort. Die Rinder, die sie dort gezüchtet hatten, nahmen sie mit. Die meisten jedenfalls.

Einige versprengte Tiere aus Arturos Herde blieben zurück, verwilderten und vermehrten sich. Mit den Jahren wurden die Nachkommen immer größer und grimmiger. Jedes Jahr im Sommer ritt Arturo mit seinen Hunden und seinen besten Pferden hinaus und trieb sie zusammen, die baguales, das „wilde Vieh“.

Video: So erlebte der Fotograf Tomás Munita die Jagd auf die wilden Rinder.

Manchmal schickte er sie mit dem Schiff auf den Markt in Puerto Natales. Manchmal trieb er sie auf dem Landweg, entlang messerscharfer Klippen, durch Sümpfe und über glitschige Felsen. Er ritt mit einem Packpferd und einem wilden Stier im Schlepp, an seiner Unterlippe hing stets eine selbst gedrehte Zigarette.

Und was brachte mich hierher? Familie Iglesias hat unlängst Ana María samt Sutherland an einen reichen Rinderzüchter verkauft. Der erlaubte Sebastián, ein letztes Mal wildes Vieh auf dem Land einzufangen. Sebastián verpflichtete also in Puerto Natales die besten bagualeros – Cowboys, erfahren im Umgang mit störrischen Rindern. Etwa 50 Baguales will er einfangen, zum Markt bringen und verkaufen. Der Fotograf Tomás Munita und ich dürfen ihn begleiten – vielleicht weil Sebastián hofft, dass die Story Touristen anlockt, die er durch die Gegend mit den wilden Stieren und Pferden führen kann.

So viel war klar: Ein normaler Abtrieb würde das nicht. Die Baguales, die sich noch in Sutherland herumtreiben, haben nie ein Lasso gespürt. Und um dorthin zu gelangen, müssen wir mit Sebastián, drei anderen Bagualeros, 20 Pferden und 30 Hunden zunächst tagelang durch ein Gelände reiten, das jeden falschen Schritt mit dem belohnt, was nach dem Leben kommt. Oder wo plötzlich ein wütender schwarzer Stier vor einem auftaucht.

Er kommt mit einem Krachen. Das Unterholz birst, als breche ein Bulldozer hindurch.

„Such dir einen Baum“, hatten die Bagualeros mir für diesen Fall geraten. Aber ehe ich mein Pferd in Trab setzen kann, ist der Stier schon da. Zwar hängen 30 Hunde an seinen Schenkeln und Fesseln, sie beißen und reißen an seinem Fleisch, doch das Tier scheint unbezwingbar. Von den Männern ist keiner zu sehen. Mit bebenden Flanken bleibt der Stier stehen. Es ist, als prüfe er die Lage. Wer auch immer glaubt, Tiere hätten keine Emotionen, hat noch nie einem wütenden Bullen in die Augen geblickt.

Ich wende mein Pferd, wir galoppieren einen Hang hinauf zu einer Baumgruppe. „Die Stiere werden dich angreifen“, hatte man mich gewarnt, „also klettere hoch!“ Früher, als Kind, fühlte ich mich in den Ästen eines großen Baumes unsichtbar und mächtig zugleich. Doch vor diesem Stier scheint mir jeder Baum zu niedrig, selbst wenn ich vom Pferd aus hinaufklettere.

Noch am Abend zuvor hatte uns Abelino Torres de Azócar, ein 42-jähriger Bagualero mit für mich geradezu übermenschlicher Kraft und großer Würde, von seiner Begegnung mit einem Stier erzählt. „Ich weiß nicht, ob er der Teufel war oder was“, sagte er. „Wir haben Fallen aufgestellt, wir haben auf ihn geschossen, wir haben auf ihn eingestochen, aber wir konnten ihn nicht töten.“ Eines Nachts brach der Bulle ins Lager ein und griff die schlafenden Bagualeros an. „Wir hörten die Zweige brechen, aber wir hatten keine Zeit mehr zu fliehen. Der Bulle machte unser Zelt platt, wir waren noch drin. Wir haben überlebt, voller Wunden und Blutergüsse.“

Ja, ja, hatte ich gedacht, wieder eine jener Geschichten, die so oft am Lagerfeuer erzählt werden, wenn man sich die Stunden zwischen Abendessen und Schlafsack vertreiben will: der Bruder des Missionars, der von einem Elefanten totgetrampelt wurde, der Berufsjäger, den sein Kunde erschießt. Diese Schilderungen sind ja auch deshalb so reizvoll, weil man überzeugt ist, dass einem selbst so etwas nie zustößt.

Bis zu diesem Moment glaubte ich das auch. Meine Eltern waren nicht zimperlich, sie erzogen mich, nie zu jammern und immer ruhig zu bleiben. Aber solange man nicht auf die Probe gestellt wird, weiß man eben nicht, wie mutig und belastbar man wirklich ist.

Beim Aufbruch hatte Sebastián uns versichert, dass später ein Schiff nach Sutherland kommen werde, um die eingefangenen Rinder und uns abzuholen. Aber bis dahin würde der Ritt mühsam sein. Er dauerte nicht einen oder zwei Tage, sondern eine Woche. Seit Arturos Zeiten ist die Vegetation auf der Halbinsel offenbar heftig gewuchert.

Mehr als einmal sagte Sebastián: „Morgen sind wir in Sutherland.“ Doch die Pferde waren unwillig, rutschten auf dem durchweichten Boden aus. Zweimal stürzte ein Packpferd den Hang hinab und überschlug sich, bis es von einem Felsen oder einem Baum aufgehalten wurde. Es dauerte Stunden, das Tier wieder auf den Pfad zurückzubringen. Und Sebastián? Der erzählte seiner Freundin, als er zum letzten Mal Handyempfang hatte: „Alles läuft hervorragend. Alles bestens.“

Am dritten Abend – Sutherland war immer noch eine ungewisse Zahl von Tagen entfernt – gingen uns die Lebensmittel aus. Unterwegs hungern zu müssen, das hatten die Bagualeros noch nie erlebt. Obwohl sie es gewohnt waren, mit leichtem Gepäck zu reisen, um die Pferde nicht zu überlasten. „Passt auf die Hunde auf “, warnten sie uns, als das Futter knapp wurde. „Die fangen an, das Lederzeug zu fressen.“

Aber die Hunde sind schlau und warten auf ihre Chance. Als wir abends unsere nasse Kleidung am Feuer trockneten und uns wärmten, fraßen sie die Riemen von Sebastiáns Stiefelsporen, die Lederhülle einer Flasche und einen Sattelgurt. „Morgen finden wir einen Stier, dann gibt es zu essen“, munterte Sebastián uns auf.

Am vierten Morgen bestand das Frühstück der Cowboys aus Zigaretten und Mate. Der koffeinreiche Kräutertee unterdrückt den Hunger und wirkt wie eine Tasse starker Kaffee. Früh brachen sie auf, um einen Weg durch das Gestrüpp zu bahnen. Ich blieb zurück. Ich sollte das Feuer in Gang und die Hunde vom Leder fernhalten. Und dafür sorgen, dass die Pferde nicht abhauen und allein nach Hause zurückkehren.

In den ersten drei Tagen hatte ich bereits abgenommen. Dazu kam die Kälte, die mich nun vollends gepackt hatte. Ich konnte mich nirgendwo aufwärmen. Auch nicht am Feuer, denn der Wind trieb den gefrierenden Regen in den provisorischen Unterstand.

Auch die Bagualeros waren durchfroren und bis auf die Haut durchnässt, als sie ein paar Stunden später ins Lager zurückkamen. Ihre Hände waren von den Dornen und den Griffen ihrer Macheten aufgerissen. Abwechselnd trockneten sie ihre Kleidung über dem Feuer. Wortlos legte Abelino mir seine Jacke über die Schultern. „Ihre nie nachlassende Freundlichkeit“, würde ich später sagen, als jemand mich fragt, was mich an den Bagualeros am meisten beeindruckt hat. Diese Freundlichkeit ist vor allem erstaunlich, wenn man sieht, wie brutal ihr Job ist.

Aber gibt es überhaupt eine sanfte Methode, die Wildrinder von Sutherland zum Markt zu bringen? In der „zivilisierten“ Welt verbergen Mastställe, Viehtransporter und Schlachthöfe die alltägliche Gewalt vor dem Verbraucher. Hier draußen wird der Kampf zwischen Mensch und Tier offen ausgetragen. Ausgeglichener.

„Ein Bagualero stellt sich den wilden Rindern ohne Waffen, nur mit seiner Geschicklichkeit“, hatte Sebastián mir erklärt. „Mit einem Gewehr hätte man einen zu großen Vorteil. Aber Mann gegen Stier, Leib gegen Leib, dabei kann man auch verlieren. Sogar das Leben.“

Der legendäre Arturo hätte es bestätigen können. Mitte der Sechzigerjahre – er war zwischen 40 und 50 – attackierte ihn ein Stier in einem Sumpf, durch den wir auch geritten waren. Er war gerade vom Pferd gestiegen, als der Bulle auf ihn losging. „Das ist meinem Großonkel nicht gut bekommen“, erzählt Sebastián. Der Stier zerschmetterte Arturos Zähne und durchbohrte mit den Hörnern seinen Hodensack. Erst als Arturos Begleiter in die Luft schossen, zog das Tier sich zurück. Arturo lag am Boden, in seinem Blut. Er ließ sich aufs Pferd helfen und ritt heim zum Hof der Iglesias’. Dort wartete er auf ein Boot, das ihn ins Krankenhaus brachte.

Die Mediziner, die ihn im Hospital von Punta Arenas untersuchten, legten Arturo nahe, sich sofort kastrieren zu lassen, da er sonst ziemlich sicher an einer Infektion sterben würde. Arturo aber flehte die Krankenschwester an, seine verwundeten Körperteile in Salz zu packen. Dann ließ er seine zertrümmerten Zähne durch ein Gebiss ersetzen. Er verließ später das Krankenhaus in voller Manneskraft und mit einem strahlend weißen Lächeln.

Ist es das alles wert? Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich davon ab, was man mit „das“ meint und woran man den „Wert“ eines erfüllten Lebens bemisst. Mit anderen Worten: Was ist dir wichtiger, die Würde und Herrlichkeit des Leidens oder die Banalität der Bequemlichkeit? Wie willst du leben, und wovon? „Für uns ist das nicht nur eine Methode, Geld zu verdienen“, sagt Sebastián. „Es ist eine Lebensweise.“

Das war gut so, denn mittlerweile war klar, dass wir keine 50 Baguales bekommen würden, um sie auf das Schiff zu verladen. Das schlechte Wetter hatte die meisten Rinder weit nach Westen getrieben, weiter als die Ausdauer von Pferden und Hunden reicht. Statt fünf Stück Vieh pro Tag würden die Cowboys mit viel Glück alle zwei oder drei Tage eines fangen.

Und selbst das war mühsam. Wenn die Männer es schafften, im dichten Unterholz einen Stier zu stellen und mit dem Lasso zu fixieren, mussten sie ihm noch die Hörner abschneiden und ihn ein paar Tage an einen Baum binden, bis seine Kräfte nachließen. Erst dann war das Tier fügsam genug, dass man es an ein Pferd binden und zum Schiff zerren konnte.

Aber zunächst einmal hat dieser Stier mich gefunden und ich immer noch keinen Baum, auf den ich mich retten kann. Allmählich frage ich mich, ob ich das Ende dieser Reise in einem Stück erleben werde.

Dann sind die vier Bagualeros plötzlich da. In rasendem Galopp preschen sie durch den Wald, in der einen Hand den Zügel, in der anderen das Lasso. Als der Stier sie sieht, flüchtet er ins Gehölz in Richtung eines Sees. Die Männer hetzen hinterher. Ich folge langsam in sicherer Entfernung.

Der Stier stirbt. Als ich hinkomme, hat ein Lasso ihn erdrosselt. Einer der Männer hat ihm die Zunge aus dem Maul gezogen. Ein anderer springt auf seinem Bauch herum – eine Herz-Lungen-Massage im großen Stil. Vergebens. Das Leben weicht aus dem Blick des Stiers, das Schwarz seiner Augen verwandelt sich in eisiges Grün. Abelino nimmt den Hut ab und wischt sich mit der Hand über die Stirn. Lebend hätte der Stier ein Monatseinkommen gebracht. Tot ist er nur Fleisch für uns und die Hunde.

In den nächsten beiden Wochen fangen die Männer ein halbes Dutzend Kühe, mehrere Stiere und ein Kalb. Ein Stier ersäuft auf der Flucht in einem See. Eine Kuh springt mit dem Lasso um den Hals von einer Klippe und hängt sich auf. Im Lager riecht es nach Tieren und Fleisch. Die Männer sehnen sich nach Frauen und erzählen sich Geschichten, die aus Rück­sicht auf mich niemand übersetzt. Wir warten auf das Schiff.

Schließlich kommt es, und es gelingt den Ba­gualeros, alle gefangenen Tiere zu verladen. Die meisten von uns sind mit Kratzern und Blut­ergüssen davongekommen. Das Packpferd lahmt, aber es hinkt bereitwillig an Bord. Ein Hund wurde von einem Stier gegen einen Baum ge­schmettert und ist verwirrt fortgerannt, vermut­lich Richtung Heimat. Ein anderer wurde von einem Wasserfall weggespült, hat aber überlebt.

Als das Schiff Kurs auf Puerto Natales nimmt, überlege ich, wie es mit der Estancia Ana María weitergehen mag. Die Zukunft der Region liegt wohl im Tourismus. Die Baguales wird man nicht mehr benötigen. Ihr Mut, aber auch die Härte und die Brutalität ihres Jobs wird nur noch Stoff für Geschichten am Lagerfeuer sein. Man wird die Wildheit Patagoniens zähmen.

Wir trinken, und hinter uns gerät Sutherland langsam außer Sicht. Sebastián hebt sein Bier­ glas und prostet auf das Land, seine Ahnen und auf uns. „Auf dieses Leben!“, sagt er.

(NG, Heft 5 / 2015, Seite(n) 40 bis 57)

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