In den Höhlen von Oman

Ich stehe vor einem Supermarkt in Maskat. Die Augustsonne ist so stark, dass die Luft in meinen Lungen brennt und ich trotz Sonnenbrille blinzeln muss. Gerade sind wir in der Hauptstadt von Oman angekommen.

Von Gregory Crouch
Foto von Stephen L. Alvarez

Ich stehe vor einem Supermarkt in Maskat. die Augustsonne ist so stark, dass die Luft in meinen Lungen brennt und ich trotz Sonnenbrille blinzeln muss. Gerade sind wir in der Hauptstadt von Oman angekommen. Ich sehe zu Louise Hose hinüber, der Geologin unseres Teams, die schon in die tiefsten Höhlen Nordamerikas vorgestossen ist. Sie hat rotblondes Haar, das unter ihrer gelben Baseballkappe hervorquillt. Ihre Sonnenbrille ist so dunkel, dass man ihre Augen nicht erkennt. Aber ich brauche ihren stählernen Blick, den sie sich in Jahren der Feldforschung in staubigen und entlegenen Ecken der Welt zugelegt hat, nicht zu sehen. Ich weiß auch so, dass sie kein Mitleid mit mir hat. "Es gibt eine Menge zu tun", sagt Louise und verschwindet im Supermarkt, um letzte Einkäufe für unsere Expedition zu erledigen. "Trink also möglichst viel Wasser!"

Louise ist ein eigenartiger Charakter: einerseits eine ernsthafte Wissenschaftlerin, andererseits ein Freak, verrückt danach, in die tiefste Höhle der Welt hinabzuklettern. Auf dem Campus der Chapman-Universität in Orange, Kalifornien, ist sie eine enthusiastische Geologiedozentin. Jenseits des Hörsaals ist sie als gestandene Abenteurernatur bekannt - selbstsicher, entschlossen und etwas schroff. Ein ungewöhnlicher Auftrag brachte Louise nach Oman. Die hiesige Regierung hatte von ihrer Kennerschaft im Höhlenklettern erfahren und sie eingeladen, die spektakulären Kalksteinhöhlen des Sultanats zu erforschen. Und nun wird ihr Untersuchungsteam die Höhlen mit satellitengestützter GPS Technik systematisch vermessen, um die Lage von Höhleneingängen exakt festzuhalten. Mit Lasern soll das Volumen der unterirdischen Hohlräume bestimmt und mit Luftprüfapparaturen untersucht werden, ob dort schädliche Gase wie Kohlendioxid in hoher Konzentration vorkommen. Die Biologen des Teams werden Wasserproben sammeln und analysieren, außerdem sollen sie ein Verzeichnis der Flora und Fauna über und unter der Erde erstellen.

Eines Tages werden die lukrativen Ölvorkommen in Oman verbraucht sein. Deshalb unterstützt die Regierung wirtschaftliche Diversifizierung - von Kupferminen bis zu Keksfabriken. Man hofft, die Höhlen zu einer Touristenattraktion machen zu können wie im Carlsbad Caverns National Park im US-Bundesstaat New Mexico, wo jährlich 30 Millionen Dollar durch Höhlentourismus erwirtschaftet werden. Die Idee mag verrückt erscheinen, dass sich Touristen in Oman in Zukunft unter die Erde begeben sollen. Aber Louise wird das Gelände gründlich testen. Sind die Höhlen zu gefährlich, zu instabil oder sind ihre Ökosysteme zu empfindlich, um sie für Besucher zu öffnen? Oder könnte man sie zu einem Nationalpark zusammenfassen? Nach einigen Treffen mit den omanischen Behörden in Maskat fahren Louise und die Höhlenforscherin Nancy Pistole, der Fotograf Stephen Alvarez, sein Assistent Ben Cadell und ich zum Flughafen. Wir nehmen ein Flugzeug nach Dhofar, in die Küstenregion im Süden. Dort soll unsere Expedition beginnen.

Bei klarem Himmel überfliegen wir die gelblich braunen Wüstengebiete im Zentrum von Oman. Beim Landeanflug aber verdeckt eine dichte Wolkendecke Dhofars größte Stadt Salalah, in der 157 000 Menschen leben. Zwischen Juni und September weht der Monsun einen stetigen Nieselregen vom Indischen Ozean ins Land. Daher ist Dhofar auf der Arabischen Halbinsel die Gegend mit dem mildesten Klima. Auch am nächsten Morgen regnet es noch.

Ben fährt uns nach Osten in Richtung des Kalksteingebirges Dschabal Samhan, das sich an der Küste entlangzieht. Louise will die riesige Doline Tawi Attair - den "Brunnen der Vögel" - erkunden. 30 Kilometer östlich von Salalah rücken die Berge dicht an das Meer heran. Wir biegen von der Küstenstraße ab und fahren hinauf ins Hochland. Die Weiden sind mit Steinmauern eingefasst, Rinder und Kamele grasen auf natürlichen Terrassen. Es sind große Herden, die den Reichtum der hiesigen Bergstämme, der Dschabali, erahnen lassen. Die Landschaft ist strahlend grün. "Mein Gott", sagt Ben, ein schlaksiger Mann mit blassblauen Augen aus Linlithgow, Schottland: "Nimm die Kamele weg, und es sieht aus wie zu Hause."

Wir biegen von der Straße ab und halten auf einer Kuhweide. Vor uns fällt der Boden steil ab - dies ist Tawi Attair, ein 200 Meter tiefes Loch, das entstand, als vor langer Zeit eine Höhlendecke einbrach. Das Innere wäre groß genug, um einen 50-stöckigen Wolkenkratzer hineinzustellen. Die Wände sind mit grünen Gewächsen überwuchert. Hunderte Segler, Felsentauben und sogar einige Greifvögel ziehen im Inneren der Höhle ihre Kreise. Plötzlich erscheint es nicht mehr so abwegig, dass hier einmal Touristen aus einem Bus klettern, um dieses gigantische Loch zu bewundern. "Na dann los!", sagt Louise und setzt ihren verschrammten Rucksack mit dem Klettergerät ab, "jetzt geht’s abwärts."

(NG, Heft 7 / 2007)

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