Sollten Frauen in Indien allein reisen?

Wer Indien im Alleingang erkunden will, sollte ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen und muss vielleicht auf kleine Freiheiten verzichten. Aber es lohnt sich!

Von Neha Dara
Veröffentlicht am 6. Nov. 2017, 15:52 MEZ

„Meiner Erfahrung nach ist Indien eines der sichersten und zuvorkommendsten Länder für alleinreisende Frauen“, erzählt mir die in Portland heimische Journalistin Margot Biggs. Mich überrascht diese Aussage. Ich hatte eine etwas negativere Antwort erwartet, als ich Margot nach ihren Reiseerfahrungen in Indien fragte. Das Land hat einen zweifelhaften Ruf als unsicheres Reiseziel für Frauen, die allein unterwegs sind. Zwischen dem Getümmel aus Sinneseindrücken, der großen Bevölkerung, der Hitze, dem Staub und dem Lärm, mit dem neue Besucher in Indien zurechtkommen müssen, haben alleinreisende Frauen noch ihre ganz eigenen Sicherheitsbedenken.

„Ich bleibe natürlich wachsam“, fügt Margot hinzu, „aber als Frau hat man auch besonderen Zugang.“ Es gibt Frauenbereiche im öffentlichen Nahverkehr, separate Frauenschlangen an Ticketschaltern und Familienbereiche in Restaurants. Natürlich ist es problematisch, dass so etwas überhaupt nötig ist. Aber das ist ein größerer Kampf, der von den Frauen Indiens ausgefochten wird.

Die Leute vertrauen Frauen tendenziell auch mehr und bringen sie auch mit in ihre Familien und größere Gruppen. Margot erinnert sich an eine Erfahrung während ihrer ersten Indienreise mit 23 Jahren. „Auf einer Zugfahrt von Jaipur nach Ajmer traf ich eine Familie mit drei Generationen von Frauen, komplett mit Babys und Kleinkindern im Schlepptau. Wir haben sofort durch Gesten und Lächeln eine Art Schwesternschaft gebildet. Am Ende trug ich ihre Armreifen, half dabei, die Kinder zu wippen, und wurde mit mehr Essen versorgt, als ich zu mir nehmen konnte.“

Ähnlich wie bei Margot waren auch meine Reiseerfahrungen überwältigend positiv. Ich bin Inderin. Aber Indien ist so riesig und hat so viele verschiedene Kulturen und Traditionen, dass es unmöglich ist, darüber wie über einen einzigen Ort zu sprechen. In mehr als einem Jahrzehnt der Erkundung habe ich lediglich einen winzigen Teil meines chaotischen, wunderbaren Landes entdeckt. In vielen Teilen davon bin ich ebenso sehr Ausländer wie ein Besucher aus einer anderen Nation.

DIE VIELEN GESICHTER INDIENS ALS EINZELREISENDER ENTDECKEN

In Khajuraho, einer historischen Stadt in Madhya Pradesh, findet man Skulpturentempel aus dem 10. Jahrhundert, die jeden Aspekt des Lebens von Krieg bis hin zu Sexualität abbilden.
Foto von Dmitry Rukhlenko - Travel Photos, Alamy Stock Photo

Als ich das erste Mal allein in Indien unterwegs war, war ich 21 und hatte gerade das College abgeschlossen. Es war ziemlich schwer, meine Eltern dazu zu bringen, meinem Vorhaben zuzustimmen. Sie gaben schließlich nach, als ich ihnen meine detaillierte Reiseroute zeigte und versprach, jeden zweiten Tag anzurufen. Zwölf Jahre später handhabe ich das noch immer so.

Die Reise war eine Offenbarung. Mein Ziel war Khajuraho, eine historische Stadt in Madha Pradesh mit Skulpturentempeln aus dem 10. Jahrhundert, die jeden Aspekt des Lebens von Krieg bis hin zu Sexualität abbilden. Ich wusste, dass Indien vielfältig war, aber während der Reise verstand ich, was das Wort wirklich bedeutete. Als Stadtmädchen, das arbeitete, allein reiste und mit 21 noch nicht verheiratet war, war ich in der kleinen Tempelstadt so eine Kuriosität, dass es für die Leute einfacher war zu glauben, ich sei eine Ausländerin. Ich hatte mehr gemein mit den zwei deutschen Reisenden, die ich traf, als mit den Töchtern und Frauen der Ladenbesitzer und Fremdenführer, mit denen ich mich unterhielt.

Ihre Neugier machte es einfacher für mich, meine Schüchternheit zu überwinden und Gespräche mit Fremden anzufangen. Ich bekam so auch eine Einladung von einem Raja, mir sein Anwesen und die lokalen Spiele anzusehen, die er organisierte. Eine Gruppe von Jungen nahm mich auf eine Radtour durch ihr Dorf mit und gab mir dir Gelegenheit zu entdecken, wie Teile alter Statuen, die Bauern in ihren Feldern fanden, als lebendiges Erbe Teil ihrer Häuser wurden. Ich habe eine Lektion gelernt, die ich seither verinnerlicht habe: Eine Reise ist nichts ohne zufällige Unterhaltungen. Sie bieten eine Perspektive und einen Kontext für meine Erfahrung des Reiseziels. Sie sind auch die beste Möglichkeit, um tolle Insider-Tipps für Orte zu bekommen, an denen man essen oder die Gegend erkunden kann – Orte, die sonst nur die Einheimischen kennen.

Das war die erste meiner vielen Soloreisen. Ohne den Filter von Freunden und Familie beschäftige ich mich viel tiefgreifender mit einem Ort und den Menschen, die dort leben. Und je mehr ich reise, desto mehr entdecke ich die vielen Indiens, aus denen mein Land besteht.

DARF ICH EIN FOTO MACHEN, MADAME?

Manchmal werde ich genau wie Ausländer gefragt, ob man mich fotografieren darf. Ich bin kamerascheu, aber stimme dem oft zu und mache dann auch ein Foto von der Person, die gefragt hat. Ich habe Anja Froehnel, eine Reisende aus Deutschland, die schon öfter in Indien war, gefragt, ob ihr das oft passiert ist. „Andauernd! Wenn sie nett sind und mit einem Lächeln fragen und wirklich interessiert sind, dann sage ich ja. Aber nach zwei Wochen wird das belastend.“ Sie hat eine witzige Art, dann mit der Situation umzugehen. „Ich fange dann an, Leuten zu sagen, dass ich für Fotos zehn Rupien nehme. Das beendet das Gespräch dann meist recht schnell“, sagt sie.

Lösen solche Vorfälle bei ihr Bedenken um ihre Sicherheit aus? Nicht wirklich, sagt Margot. „Es sind die ganze Zeit so viele Leute da, dass man sich dort sicherer fühlt. Man könnte mitten im Wüstengebiet Thar sein und einfach nur sein eigenes Ding machen, und wenn man lang genug wartet, trifft man garantiert auf irgendwen. Mindestens auf einen Teeverkäufer.“

BELIEBT

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    “Das Objekt ungewollter Aufmerksamkeit zu sein, selbst ohne böswillige Absicht, kann unangenehm sein.”

    DIE VORTEILE DES SOLOREISENS ALS FRAU

    Anja liebt es allerdings, dass die Leute sie schnell als Freundin oder willkommenen Gast denn als unwillkommene Fremde behandeln. Die Fotografin Meesha Holley, die indisch-britischer Abstammung ist, stimmt dem zu. Sie erinnert sich an ein junges Mädchen in Kaza, Spiti, das sie begrüßt hat. „Sie hat mich gefragt, woher ich komme und von was ich Fotos mache. Sie hat für ein Porträt posiert und mich dann, völlig zu meiner Verblüffung, zu sich nach Hause eingeladen, um mir mehr von ihrer Kultur zu zeigen.“ Dort hat Meesha dann ihren Bruder und ihre Schwester getroffen. Obwohl ihre Eltern nicht da waren, haben die Kinder nicht gezögert, ihr das Haus zu zeigen.

    Die Menschen vertrauen Frauen nicht nur mehr, sie neigen auch eher dazu, sie zu beschützen. Auf Wandertouren im Himalaya, bei denen man nur schwer vorhersagen kann, wie lang eine Reise entlang der verschlungenen Wege dauert, haben mich meine Gastgeber oft angerufen, um sich zu erkundigen, wie weit ich gekommen bin. Sie haben sogar darum gebeten, mit dem Fahrer zu sprechen, damit er weiß, dass jemand kontrolliert, wo ich bin. Aus dem Grund ist auch öffentliches Anprangern eine nützliche Taktik, wenn es zu unangenehmen Situationen kommt. Wenn einem jemand zu nahe kommt und aufdringlich wird, sollte man ihm laut eine Abfuhr erteilen. Andere werden dann eingreifen und dafür sorgen, dass der Querulant schnell verschwindet. Viele Leute in Indien sprechen Englisch, daher findet man für gewöhnlich jemanden, mit dem man reden kann.

    WENN ES PROBLEME GIBT

    Der Hauptstrand von Varkala ist ein beliebtes Ziel für Rucksacktouristen. Es ist ein heiliger Ort, an den Hindus Opfergaben für Verstorbene bringen.
    Foto von Konstantin Kalishko, Alamy Stock Photo

    Es gibt jedoch auch die seltenen Momente, in denen etwas schiefgeht und niemand anderes da ist. Wenn sie sich in einer solchen Situation mit Belästigung konfrontiert sah, fand Meesha ihre Kamera ganz nützlich. Während eines Besuchs in Varkala, einem Strandort, wurde sie von einem streitlustigen Fischer angemacht, der wissen wollte, wie viel sie kostet. „Ich habe mich umgedreht, meine Kamera in seine Richtung gehalten und gerufen: Du bist krank! Ich bring dein Foto zur Polizei! Er machte sich dann schnell davon.“

    Viele alleinreisende Frauen, egal ob Inderinnen oder Ausländerinnen, hatten ähnliche Erfahrungen. Eine kurze Umfrage unter den Frauen, die ich kannte, ergab, dass solche Vorfälle eher an Orten zu passieren scheinen, die als „Partyorte“ gelten, oft am Strand. Große Teile Indiens sind vorwiegend patriarchalisch, und obwohl sich für die Frauen hinsichtlich ihrer Möglichkeiten viel getan hat, ändern sich Mentalitäten langsamer. Gewisse Dinge gelten für Frauen in der indischen Kultur als „unziemlich“. Das Trinken von Alkohol, das Tanzen mit Männern, spätes Ausbleiben und das Tragen knapper Kleidung sind ganz oben auf der Liste. Frauen, die so etwas tun – so glaubt man – müssen wohl lasterhaft und „verfügbar“ sein. Tatsächlich, so sagt Meesha, werden indische Frauen in dieser Weltanschauung sogar strenger beurteilt. „Allein die Tatsache, dass eine indische Frau alleine reist, wird oft als Beleg dafür angesehen, dass sie lockere Moralvorstellungen hat“, sagt sie. An solchen Orten wird es eventuell den einen unter 100 Männern geben, der denkt, dass es in Ordnung ist, eine Frau anzumachen, die allein unterwegs ist. Am besten bewegt man sich nachts oder außerhalb des touristischen Bereichs nur in Gesellschaft.

    JEDER HAT EINE STRATEGIE

    Genau wie ich haben auch all die weiblichen Reisenden, mit denen ich gesprochen habe, Strategien entwickelt, um sicher allein zu reisen. Sie kleiden sich eher konservativ, vermeiden es, außerhalb gut beleuchteter Touristenbereiche nachts allein rauszugehen, und haben ihre Handys immer dabei. Manche tragen auch Pfefferspray oder Tränengas mit sich.

    Anja hat noch eine weitere Strategie: Sie meidet große Städte. „Die unangenehmen Seiten Indiens, die Armut, der Dreck, der Lärm, die Massen und der Verkehr, sind in den Städten am sichtbarsten. Wenn ich jenseits der Städte reise, dann finde ich das Indien, für das ich immer wieder zurückkomme. Ein Ort voller erstaunlicher Farben, Tempel, Musik, Kultur, Natur und Menschen. Indien hat so viele Gesichter und so viel, das Besucher entdecken können.“

    Sie schließt mit einer Aussage ab, die sie von Reisenden über Indien gehört hat: Indien ist das letzte Land, das man besuchen sollte. Danach wird kein anderer Ort gleichzeitig interessanter, verrückter und schöner sein.

    Dem muss ich zustimmen.

    MEHR TIPPS FÜR ALLEINREISENDE

    Ich habe absolut keinen Zweifel, dass jeder nach Indien reisen sollte. Es ist ein bemerkenswertes Land. Eines, dessen Erfahrung jene verändern wird, die es besuchen. Und auch eine Erkundung auf eigene Faust ist eine wunderbare Sache. Es bedarf nur einiger Vorsichtsmaßnahmen, die vielleicht abschreckend klingen, wenn man sie wie im Folgenden auflistet. Aber eigentlich sind alle ganz einfach. Tatsächlich sind das Dinge, die ich auf meinen Reisen immer beachte, von Südostasien bis nach Südamerika.

    Wie in jedem Land zahl es sich aus, ein paar Worte in der Sprache der Region zu lernen. Nichts entwaffnet einen neugierigen Passanten so sehr, wie in seiner eigenen Sprache begrüßt zu werden.

    Kleidet euch konservativ. Das bedeutet nicht, dass man sich von Kopf bis Fuß einhüllen soll. Aber Shorts in Kombination mit einem Tanktop sind nicht empfehlenswert. Lockere Baumwollkleidung, die die Haut vor der Sonne schützt und sie atmen lässt, ist bei dem Wetter ohnehin die bessere Wahl. Man sollte auch einen Schal in seinem Gepäck haben, der in manchen Situationen angebracht sein kann.

    Ich suche eher nach Gastfamilienaufenthalten mit einem guten Ruf, wenn ich reise. Das verleiht dem ganzen einen persönlichen Touch und sorgt dafür, dass ich an einem fremden Ort schon einen Verbündeten habe, bevor ich überhaupt ankomme. Alternativ kann man auch die erste Nacht in einem preiswerten Hotel einer bekannten Kette buchen, um einen sicheren Ankunftsort zu haben, von dem aus man seine Erkundungstour starten kann.

    Setzt eure Sicherheit nicht aus Sparsamkeit aufs Spiel. Wenn ich versuche, das billigste Zimmer in New York City zu buchen, ende ich wahrscheinlich in einem zwielichtigen Viertel, in dem hinter jede Ecke Ärger wartet. Das gleiche gilt auch für Indien. Recherchiert sorgfältig und entscheidet euch für eine Bleibe mit Empfehlungen.

    Informiert einen Freund oder ein Familienmitglied über eure Reisepläne. Denkt euch ein System aus, um euch regelmäßig zu melden, zum Beispiel alle zwei, drei Tage. Schon eine Nachricht über WhatsApp oder Facebook kann reichen. Holt euch dort eine SIM-Karte für euer Handy, so was kostet nicht viel.

    An den meisten Orten ist es besser, nachts nicht allein wegzugehen. Beim Buchen von Flügen, Zügen und Bussen sollte man nach Möglichkeit so vorgehen, dass man am Tag an seinem Zielort ankommt. Wenn das gar nicht geht, sollte man sich von jemandem vom Hotel oder der Gastfamilie abholen lassen.

    Wenn man allein mit einem Taxi oder einer Rikscha fahren will und der Fahrer einen Freund mitnehmen möchte, sagt nein. Wenn sie sich nicht umstimmen lassen, sucht euch ein anderes Taxi bzw. eine andere Rikscha.

    Die meisten öffentlichen Verkehrsmittel haben Plätze speziell für Frauen. Nutzt sie auch. Selbst in Restaurants findet man „Familienbereiche“. Geht auf jeden Fall in die. Zusätzlicher Vorteil: Sie sind meist klimatisiert, auch wenn das Essen dort ein wenig mehr kostet.

    Das meiste Starren ist bloß Neugier. Versucht es zu ignorieren. Wenn es euch stört, bittet die Person höflich darum, das nicht zu tun. Wenn es anhält und ihr das Gefühl habt, dass da Ärger auf euch zukommt, zögert nicht, lauthals eine Szene zu machen.

    Eve teasing ist ein Euphemismus für die sexuelle Belästigung von Frauen, den ihr in Indien öfter hören werdet. Oft handelt es sich dabei um sexuell verklemmte Männer, die versuchen, aus einer beengten Situation einen Vorteil zu schlagen und Frauen zu begrapschen. Zu Collegezeiten haben meine Freundinnen und ich uns angewöhnt, unsere Rucksäcke vorn zu tragen, um „versehentliche“ Berührungen zu vermeiden. Wir haben auch nicht gezögert, einen Mann, der sich zu nah an uns stellte, mit dem Ellbogen zu stoßen und es dann auf den schwankenden Bus zu schieben.

    Man kann auch die 100 anrufen, die Nummer für die Polizei, die in ganz Indien funktioniert. Diverse große Städte und Touristenattraktionen haben auch eigene Mannschaften, die sich um die Sicherheitsbelange von Frauen kümmern. Ihre Reaktionszeit kann mitunter aber unberechenbar sein.

    Wenn all das jetzt zu überwältigend klingt, denkt daran: Diese Vorsichtsmaßnahmen sollen euch nur helfen für den Fall, dass etwas Unschönes passieren könnte. Genießt eure Zeit und führt viele Gespräche – sie werden eure Reise zu etwas ganz Besonderem machen. Die meisten Inder sind gastfreundlich, redselig und freuen sich darüber, ihre Lebensgeschichten zu teilen. Also los geht‘s, Ladys!

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