Warum Draufgänger Jeb Corliss eine der tödlichsten Sportarten der Welt nicht aufgibt

Trotz extremer Risiken und steigender Todeszahlen betreibt eine Gruppe von Extremsportlern weiterhin das gefährliche Base-Jumping in Wingsuits. Jeb Corliss erzählt uns, warum er sich von dem riskanten Hobby nicht losreißen kann.

Von Nina Strochlic
Veröffentlicht am 3. Nov. 2017, 09:57 MEZ
Ein Base-Jumper fliegt in einem Wingsuit über das Lauterbrunnental in der Schweiz.
Foto von Woods Wheatcroft, Aurora

Jedes Mal, wenn Base-Jumper von einer Klippe, einer Brücke oder einem Gebäude springen, fordern sie das Schicksal heraus. In den letzten Jahren hat sich eine noch gefährlichere Variante des Extremsports wachsender Beliebtheit erfreut. Wingsuit-Flieger tragen Anzüge mit Stoffflächen zwischen Armen und Beinen, die an riesige Schwimmhäute erinnern. Damit können sie durch Täler und Felsschluchten steuern und punktgenau kleine Ziele wie Ballons treffen. Allerdings hat es sich auch zur tödlichsten Sportart der Welt entwickelt. Im letzten Jahr starben 24 Menschen beim Base-Jumping mit Wingsuits.

Jeb Corliss hat den Wingsuit schon früh genutzt. Er redet mit uns über Beinaheunfälle, die Evolution des Menschen in Richtung des Fliegens und warum er selbst jetzt nicht aufhören kann, nachdem er mit angesehen hat, wie seine Freunde gestorben sind.

Als ich mit 18 Jahren mit dem Skydiving begann, war der Wingsuit-Flug bereits abgeschrieben. Man hatte da sehr früh mit Besenstielen und Planen experimentiert und dabei sind so viele Menschen gestorben. Aber in den 1990ern hat der französische Skydiver Patrick de Gayardon mit der Technologie, die für Fallschirme genutzt wird, einen Wingsuit entworfen, den man sicher fliegen konnte. 1998 habe ich einen in Italien gesehen, der aus einem Taucheranzug gemacht war. Ich hab den Typen überredet, mir einen komplett schwarzen Wingsuit zu bauen. Das war genau zu Beginn der modernen Wingsuits.

Mein allererster Base-Jump in einem Wingsuit wurde ein Proximity Flight. [Anm. d. Red.: Wörtlich „Näherungsflug“. Dabei fliegen die Wingsuit-Flieger in riskanter Nähe an Hängen und Graten von Bergen entlang.] Wir hatten die Idee, von einer Klippe zu springen und dann über das offene Tal zu fliegen. Das Problem war nur: Wenn man es nicht über den Klippenvorsprung schaffte, würde man darauf aufschlagen. Ich bin gesprungen, aber ich hätte es auf keinen Fall über den Vorsprung geschafft. Also bin ich links abgebogen, in die Spalte, die durch die Klippe verlief. Ich war sechs Meter von den Felsen entfernt – das war verrückt, unvernünftig nah dran.

Skydiver und Wingsuit-Flieger Jeb Corliss fliegt über die Statue von Christus, dem Erlöser in Rio de Janeiro, Brasilien.
Foto von Patrick McFeeley, Alamy

Fliegen hat schon etwas für sich. Es ist ein beinahe unkontrollierbares Verlangen. Es ist so stark, dass Leute willens sind, dafür zu sterben. Es ist extrem riskant und lässt unglaublich wenig Spielraum für Fehler. Wir sind Menschen und wir machen Fehler. Und wenn man in einem Wingsuit einen Fehler macht, kann man sterben. Niemand fängt mit Proximity Flights im Wingsuit an, weil er das für sicher hält. Man kann das Wort „Sicherheit“ nicht mal im selben Satz benutzen. Es ist „gefährlich“, „richtig gefährlich“ und „bescheuert gefährlich“. Vermutlich ist es der tödlichste Sport auf der ganzen Welt.

DIE FURCHT VOR DEM FLIEGEN LERNEN

Am Anfang wusste ich nicht genug, um Angst zu haben. Aber je öfter ich das mache, desto mehr Angst bekomme ich davor. Das Fliegen im Wingsuit verleitet Menschen zu einem trügerischen Gefühl der Sicherheit. Der einzige furchteinflößende Teil ist das Losspringen. Aber sobald man einen guten Abgang hatte und der Wingsuit zu fliegen beginnt, hat man dieses überwältigende Gefühl der Kontrolle. Man fühlt sich, als könnte man jedes beliebige Blatt an jedem beliebigen Baum treffen. Die Wahrheit ist aber, dass man das nicht tut und nicht kann.

Corliss bei einem Base-Jump von einer felsigen Klippe in Norwegen.
Foto von Christophe Diesel Michot, Alamy

Übermäßiges Selbstvertrauen kostet Menschen das Leben. Wir fallen mit 145 bis 240 Kilometer pro Stunde, und wenn man da einen Fehler macht, ist es aus. Ich war einer der wenigen Menschen, die das Glück hatten, einen Fehler zu machen und dabei nicht zu sterben. Ich bin mit mehr als 190 Kilometer pro Stunde flach auf festes Granit aufgeschlagen und nicht gestorben. Diese Erfahrung hat mich wachgerüttelt. Wir sind nicht wirklich dafür geschaffen, das zu tun. Wir sind die erste Generation von Flughörnchen, die versuchen, im Fliegen von Baum zu Baum zu hüpfen – und viele fallen dabei zu Boden. Ein großer Prozentsatz der Lebewesen, die versuchen, sich zu etwas Neuem weiterzuentwickeln, sterben. Genau das ist Evolution.

Wen man fünf Jahre lang im Wingsuit Proximity Flights macht, hat man einen Fehler gemacht, der einen hätte töten sollen, und man hatte Glück. Jeder einzelne Mensch in dieser Sportart hat einen Fehler gemacht, der ihn hätte töten sollen, und hat Glück gehabt.

Jetzt, wo ich älter werde, betrachte ich Wingsuit-Fliegen langsam als eine Flamme, die sehr hell brennt. Die Wingsuit-Flieger, die Proximity Flights machen, sind die Motten. Man versteht nicht, warum sie in die Flamme fliegen. Die Motten können einfach nicht anders. Das ist genau das, was mit solchen Proximity-Fliegern passiert.

IM ANZUG BLEIBEN

Seit den Anfängen habe ich damit gerungen, aufzuhören. 2003 flog ich mit meinem Freund Dwain Weston, als er gegen eine Brücke in Colorado prallte. Ich landete voll von seinem Blut neben seinem Bein. Das hatte eine tiefgreifende Wirkung auf mich. Ich habe mich sechs Monate lang gefragt: „Warum machen wir das?“ Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich mit allen gefährlichen Dingen aufhören könnte und trotzdem sterben würde.

Wenn man Glück hat, entwickelt man für irgendwas eine Leidenschaft. Und wenn man richtig Glück hat, stirbt man dabei, diesen Zweck im Leben zu verwirklichen. Viele Leute sagen, dass ich mein Leben wegwerfe. Dann frage ich sie, warum sie mir dann nicht eine gute Art zu sterben nennen. Als Dwain starb, begriff ich, dass diese Dinge mein Leben bereichern. Man versagt erst, wenn man etwas aufgibt.

Im Februar 2010 war ich in Südafrika und habe ein Ballonziel aufgestellt. Ich konnte den Vorsprung nicht sehen, auf den ich aufgeschlagen bin – das war eine optische Täuschung. Ich bin der einzige Mensch, der einen letalen Aufprall auf massives Granit überlebt hat. Ihr könnt auf meine YouTube-Seite gehen und euch das ansehen. Das wurde aus 16 Kameraperspektiven gefilmt.

Ich bin richtig durch die Mangel gedreht und kaputt gemacht worden und habe alle meine Freunde sterben sehen. Ich habe das Gehen neu gelernt. Von den 20 Jahren meiner Karriere habe ich drei ganze Jahre damit verbracht, mich von Verletzungen zu erholen. Ich habe unfassbar harte Aufschläge überlebt – Sachen, die jeden rationalen, geistig gesunden Menschen dazu bringen würden, aufzugeben.

Corliss fliegt in einem Wingsuit durch die Tianmen-Höhle im chinesischen Nationalpark am Tianmen Shan, nachdem er aus 1.800 Metern Höhe aus einem Hubschrauber gesprungen ist.
Foto von VCG/Getty Images

EVOLUTION NACH OBEN

Sobald man mal einen Menschen in einem Wingsuit zwischen Bäumen hindurch und in einen Riss in der Erde hat hineinfliegen sehen, wird man das auch tun. Sobald ein Tier sieht, was möglich ist, wird es versuchen, das nachzumachen. Und wenn es lange genug überlebt, um sich zu vermehren, wird dessen Nachwuchs es auch sehen. Letztendlich sind es diese Menschen, die die menschliche Gattung voranbringen. Das wird uns beim Überleben helfen. Es ist wichtig, Risiken einzugehen, wenn es darum geht, sich weiterzuentwickeln. Wenn niemand je ein Risiko auf sich genommen hätte, würden wir immer noch in Höhlen sitzen und mit Feuer rumspielen.

Wingsuits bewegen sich jetzt schon in einem Bereich, den ich nie für möglich gehalten hätte. Jedes Jahr denken die sich irgendwas aus, mit dem man noch ein bisschen weiter kommt und noch ein bisschen schneller wird. Ich weiß nicht, wann genau das passiert ist, aber irgendwann bin ich zu so einem alten, konservativen Typen geworden. Ich liebe mein Leben und meine Familie. Ich fliege noch immer Wingsuits, ich halte einfach nur mehr Abstand. Ich muss nicht in anderthalb Metern Abstand an irgendwas vorbeifliegen. Sechs Meter reichen auch.

Der Grund, weshalb ich Wingsuit-Fliegen überhaupt so spannend für mich war, war das Gefühl, dass wir eine Neuerung brachten. Jetzt habe ich den Eindruck, dass wir so weit gekommen sind, wie es möglich ist. Es macht mir nichts aus, zu sterben, während ich etwas Besonderes und Einzigartiges mache. Aber bei etwas sterben, das ich schon hundert Mal gemacht habe und das jeder macht? Das ist langweilig. Jetzt haben es mir Jetpacks angetan. Dafür würde ich gern Testpilot werden. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, richtig? Ich mach euch ein paar Späne. Setzt mir ein Jetpack auf. Ist mir egal, ob ihr mein Hirn schmelzt. Da würde man niemanden reinstecken, der klug und gesund und jung ist – steckt da jemanden rein, der kaputt und alt und erschöpft ist.

Man muss irgendeine Grenze sprengen, wenn man die Gattung Mensch weiterentwickeln will. Und wenn man das macht, dann tut man, was auch immer nötig ist, um das zu verwirklichen.

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