Vom Havelland in die Welt da draußen

Der Anblick des Sternenhimmels fasziniert die Menschen seit Jahrtausenden. Eine Reise zu einem dunklen Ort – und weiter ins All.

Von Mirco Lomoth
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:46 MEZ
Sternenpark Westhavelland
Die Milchstraße, fotografiert vom Sternenpark Westhavelland aus.
Foto von Thomas Becker

Die Lichter der Straßenlaternen schwinden im Rückspiegel, vor uns ziehen sich düstere Alleen durch die brandenburgische Landschaft, die Bäume stehen wie schwarze Silhouetten vor dem Abendrot. Merkur, der Sonnennachbar, behauptet sich schon als flimmernder Punkt gegen das letzte Licht des Tages.

Im Radio verkündet die Sprecherin: „Es wird eine sternenklare Nacht.“ Genau deswegen bin ich hier, auf dem Weg ins Westhavelland, in eine der dunkelsten Ecken Deutschlands. Ich möchte in die Sterne schauen.

Im Westhavelland, einem dünn besiedelten Landstrich knapp 90 Kilometer westlich von Berlin, haben sich mehrere Gemeinden zusammengetan, um den Nachthimmel zu schützen. Sie schalten unnötige Lichtquellen ab und haben einen „Sternenpark“ geschaffen, um Hobby-Astronomen herzulocken. Der Naturpark ist neben dem Nationalpark Eifel und dem Biosphärenreservat Rhön eines von drei Nacht-Schutzgebieten in Deutschland, die von der International Dark-Sky Association anerkannt sind. Weltweit gibt es rund 55.

Gegen 20.30 Uhr halte ich an einem Acker und schalte die Scheinwerfer aus. Stockfinstere Nacht verschluckt mich. Über mir vereinigen sich die hellsten Sterne nach und nach zu einem Ozean funkelnder Lichtpunkte. Irgendwo bellt ein Fuchs.

„Mit bloßem Auge können wir hier um die 2500 Sterne sehen, in Großstädten wie Berlin sind es aufgrund der Lichtverschmutzung vielleicht noch 100“, sagt Thomas Becker, der den Sternenpark mitentwickelt hat und Gäste durch die Nacht führt. An diesem Ort, auf einem einsamen Acker im Nordwesten des Parks, hat er 21,5 Magnitude pro Quadratbogensekunde gemessen. Auf der Skala der astronomischen Resthelligkeit ist das ein beeindruckender Wert – 21,8 steht für absolute Finsternis. In Berlin, dessen Lichtglocke hinter den Bäumen noch zu erahnen ist, misst man 18,5.

“Mit bloßem Auge können wir hier um die 2500 Sterne sehen.”

Thomas Becker vom Sternenpark Westhavelland

Wer aus der Stadt in eine solche Dunkelheit kommt, mag sich kaum sattsehen an der Sternenvielfalt, die sich über ihm aufspannt. Wie gebannt starrt man in die Höhe, entdeckt bald den Großen Wagen, Orion, die Plejaden und Sirius, den Hundsstern, der im Frühjahr wie eine kleine Schweißflamme bläulich-weißglühend tief im Westen steht. Oder Aldebaran, das Auge des Stiers, das rötlich flimmert. Im Herbst tauchen die Sternbilder Pegasus, Fische und Wassermann auf. Je nach Jahreszeit und je nachdem, ob man gerade von der Nord- oder der Südhalbkugel Ausschau hält, eröffnen sich Beobachtern am Himmel ganz unterschiedliche Sternbilder.

Aber immer weniger Orte in Europa sind dunkel genug, um die Sterne so klar erkennen zu können wie hier. Selbst viele Urlaubsziele, von denen man früher Erinnerungen an überwältigende Nachthimmel mitbrachte, sind heute hell erleuchtet. Das zeigt auch der „Neue Weltatlas der künstlichen Himmelshelligkeit“, den ein internationales Forscherteam 2016 erstellte. Nur jeder dritte Europäer kann demnach überhaupt noch die Milchstraße sehen, in Den Haag oder Paris ist der Himmel nachts gut 40-mal heller als unter natürlichen Bedingungen. Solche Ballungszentren sind im Atlas weiß, pinkfarben und rot gefärbt – wie entzündete Stellen des Planeten. Blaue Flecken mit mäßiger Lichtverschmutzung findet man in Westeuropa nur noch vereinzelt, in ländlichen Gegenden Spaniens, Zentralfrankreichs, Ostdeutschlands – oder in den Bergen Österreichs und der Schweiz.

Weil immer mehr Menschen nach perfekten Bedingungen für die Sternbeobachtung suchen, ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten ein weltweiter Markt für Astrotourismus entstanden. Sternwarten von Spanien bis Hawaii öffnen ihre Türen für Besucher. Die Gäste können Sternenwanderungen in den Alpen buchen oder von Hotelterrassen mit Teleskopen in den Nachthimmel über der Namib und der Sahara oder über der Atacama-Wüste im Norden Chiles schauen, wo kaum ein Lichtschein die Dunkelheit stört und ganz andere Sterne zu sehen sind als auf der Nordhalbkugel.

Auf dem Acker im Westhavelland stellt Thomas Becker ein Teleskop auf: ein dickes weißes Metallrohr auf einem Stativ, in dem ein Objektiv mit 20 Zentimeter Durchmesser sitzt. Es ist eines der mobilen Teleskope des Sternenparks, weitere stehen bei der Beobachtungsstation in Parey, wo Becker regelmäßig Astronomie-Abende organisiert. Er richtet das Fernrohr auf Jupiter aus, den größten und hellsten Planeten. Ein kosmischer Riese, elfmal so groß wie die Erde, dessen Atmosphäre vor allem aus Wasserstoff und Helium besteht. „Schau mal durch und lass es auf dich wirken“, sagt Becker und tritt zur Seite. Da hängt Jupiter wie eine dicke Kugel vor einer schwarzen Leinwand, die Wirbelwolken in seiner Atmosphäre sind klar zu erkennen, und gestochen scharf auch seine vier leuchtenden Monde Europa, Ganymed, Io und Kallisto. Die kalte Schönheit des Bildes lässt meine Gedanken für Minuten ins Nichts driften.

Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 3/2017 des National Geographic Travelers. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

 

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