Archäologie - Die ersten Amerikaner

Wann kamen sie? Und woher? Neue Funde liefern überraschende Erkenntnisse über die ersten amerikanischen Siedler.

Von Glenn Hodges
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Foto von Paul Nicklen

Zusammenfassung: Ein spektakulärer Knochenfund in Mexiko legt die Vermutung nahe, dass die ersten Bewohner des amerikanischen Kontinents aus Asien kamen und sich schon vor 15.500 Jahren ansiedelten. Mithilfe neuester DNA-Analysen konnten die Forscher nachweisen, dass es sich bei den Knochenfunden, um direkte Vorfahren der heutigen Ureinwohner Amerikas handelt. Rekonstruktionen zeigen allerdings, dass Körperbau und Physiognomie sich stark unterschieden. Warum dies so ist, darüber rätseln die Archäologen noch.

Es war ein Mädchen, ein Teenager wohl, das hier in den Tod gestürzt war. Und sein Unglück war ein Glücksfall, zumindest für die Archäologie .

Die Geschichte, die ein neues Licht auf das Mysterium um die Besiedlung Amerikas werfen könnte, beginnt im Jahr 2007 mit einer schaurigen Entdeckung: Mexikanische Taucher stoßen unter der Halbinsel Yucatán auf eine riesige Unterwasserhöhle. Sie geben ihr den Namen Hoyo Negro, „schwarzes Loch“. Ihr Boden ist bedeckt mit prähistorischen Knochen, darunter ein menschliches Skelett.

Die Taucher melden den Fund beim mexikanischen Nationalinstitut für Anthropologie und Geschichte. Dort stellt man ein internationales Forscherteam zusammen, um die Höhle zu erkunden. Wie sich herausstellt, ist das Skelett eines der ältesten, die man jemals auf dem amerikanischen Kontinent gefunden hat. Es sind die Überreste eines jungen Mädchens, das vor rund 12.000 bis 13.000 Jahren in der Höhle umkam. Die Forscher geben ihm den Namen Naia, nach den Wassernymphen der griechischen Mythologie.

Noch etwas zeigt sich: Die Knochen sind so gut erhalten, dass man erstmals ein Gesicht aus jener Zeit rekonstruieren kann. Und: Genetiker können zusätzlich eine DNA-Probe sichern.

So kann das verunglückte Mädchen vielleicht helfen, die Lösung für ein altes Rätsel zu finden: Wer waren die ersten Amerikaner, und wie verbreiteten sie sich auf dem amerikanischen Kontinent?

Die Wissenschaft geht davon aus, dass sie während der letzten Eiszeit aus Asien eingewandert sind. Aber eine Frage ist offen: Warum ähneln die heute lebenden amerikanischen Ureinwohner, die Native Americans, nicht ihren asiatischen Vorfahren aus jener Zeit?

Es gibt im Wesentlichen zwei Erklärungsansätze dafür. Der eine sagt, es gab zwar eine frühe Gruppe von eiszeitlichen Einwanderern, diese verschwand aber irgendwann. Die heute lebenden Native Americans sind die Nachfahren einer anderen Gruppe, die später kam. Der zweite Ansatz sagt, dass die ersten asiatischen Einwanderer sich in erstaunlich kurzer Zeit stark verändert haben, nachdem sie auf dem neuen Kontinent angekommen waren.

Der Archäologe Jim Chatters, einer der leitenden Forscher im Team von Hoyo Negro, ist ein Anhänger dieser zweiten These. Chatters hat für die Pioniere, die den Kontinent besie­delten, einen eigenen Begriff geprägt, und er glaubt, damit das Phänomen erklären zu kön­nen. Er nennt diese Menschen die „Wilden der Nordhalbkugel“.

Diese ersten Amerikaner waren eine harte Truppe, so geht Chatters Theorie. Mehr als die Hälfte der gefundenen Männerskelette weisen Schäden durch Gewalteinwirkung auf, vier von zehn hatten gar einen Schädelbruch erlitten. Jagdunfälle schließt er als Ursache der Verletzungen aus, und die Brüche seien auch nicht die Folge von Kriegen, etwa weil die Männer auf der Flucht vor einem Feind erschlagen wurden. Es sehe eher so aus, als hätten sie untereinander gekämpft – und das häufig und sehr rabiat.

Bei den Frauen findet man solche Verletzun­gen nicht. Ihre Skelette sind viel kleiner als die der Männer, und sie zeigen, wenn man Chatters Auslegung folgt, Spuren von Mangelernährung und häuslicher Misshandlung.

Chatters ist überzeugt, dass gerade in dieser Unkultiviertheit der Grund dafür liegt, dass die heutigen Nachkommen so anders aussehen als ihre wilden Vorfahren. Die Männer damals mussten sich mit Gewalt holen, was sie wollten; nur die härtesten unter ihnen gewannen die Kämpfe um die Frauen. Darum hätten sich zu jener Zeit die robusten Eigenschaften und Merkmale der Brutalsten fortgepflanzt. Doch später seien sie von sesshaften Generationen abgelöst worden. Diese Menschen hatten fei­nere Knochen – und eine überlegene, kultivier­tere Lebensweise.

Bisher ist das nur Spekulation. Fakt aber ist: Naia ist echt. Ihr Antlitz, zumindest gemäß der Rekonstruktion von Chatters, ist wohl typisch für die ersten Amerikaner, und es unterscheidet sich wie erwartet stark von den Gesichtszügen der heute noch lebenden Native Americans. Der Unterschied ist sogar verblüffend groß, wenn man bedenkt, dass 13.000 Jahre nach den Maßstäben der Evolution keine lange Spanne darstellen: Es sind nur rund 400 Generationen.

Doch da ist auch noch Naias DNA. Und diese belegt etwas anderes: Die heute lebenden Native Americans sind tatsächlich Nachfahren der Menschen, zu denen Naia gehörte.

Sehen Sie hier, wie Naias Schädel von Tauchern geborgen wird:

Die grosse Diskussion um die Herkunft der ersten Amerikaner hat in den letzten 20 Jahren eine enorme Dynamik entwickelt. Dabei hatte man lange gedacht, die Frage sei geklärt. 1908 hatte ein Cowboy im US-Bundesstaat New Mexico Knochen von Riesenbisons gefunden, die vor mehr als 10.000 Jahren durch die Region gezogen waren. Museumswissenschaftler entdeckten später zwischen den Knochen Speerspitzen, ein Beleg dafür, dass auch Menschen damals dort gelebt hatten. Kurz darauf kamen im selben Bundesstaat nahe des Ortes Clovis weitere Speerspitzen ans Licht. Ihr Alter: 13.000 Jahre. Solche Clovis-Spitzen, wie sie nun hießen, wurden später in ganz Nordamerika an vielen Stellen gefunden, wo prähistorische Jäger wilde Tiere erlegt hatten.

Asien und Nordamerika waren während der letzten Eiszeit durch die Landbrücke Beringia verbunden, und da die ersten Amerikaner offensichtlich Großwildjäger waren, lag der Schluss nahe: Sie waren den Mammuts und anderen Beutetieren von Asien über Beringia gefolgt. Gegen Ende der Eiszeit war in Kanada ein Korridor im Eis entstanden, und so konnten die Neuankömmlinge nach Süden ziehen. Weil es keine Hinweise dafür gab, dass der Kontinent schon vor den Clovis-Jägern besiedelt war, schien die Sache eindeutig: Sie waren die ersten Amerikaner. Fall erledigt.

Das änderte sich 1997, als Archäologen die Fundstätte Monte Verde im Süden Chiles untersuchten. Tom Dillehay von der Universität Vanderbilt in Tennessee elektrisierte die Öffentlichkeit mit der Aussage, er habe Belege für eine Besiedelung durch Menschen vor mehr als 14.000 Jahren entdeckt – 1000 Jahre bevor die Clovis-Jäger in Nordamerika ihre Speerspitzen aus Feuerstein schlugen.

Wie immer, wenn jemand einen Vor-Clovis-Menschen ins Spiel brachte, wurde Dillehays Aussage angezweifelt, er wurde sogar beschuldigt, er habe die Fundstücke selbst ausgelegt und Daten gefälscht. Später bestätigte ein Expertenteam aber: Die Belege sind echt.

Doch wie sollen diese Menschen von Asien kommend bis nach Chile vorgedrungen sein? Zu einer Zeit, als sich die Eiskappen in Kanada noch nicht so weit zurückgezogen hatten, dass ein Durchgang frei war? Waren sie bereits in einer viel früheren Phase der Eiszeit eingewandert, als der Landweg noch nicht verstellt war?

WIE NUR KONNTEN ES DIE MENSCHEN VOR 14.000 JAHREN VON ASIEN BIS NACH CHILE SCHAFFEN? HATTEN SIE ETWA BOOTE?

Oder waren sie per Boot die Pazifikküste entlanggefahren – ähnlich wie die Menschen, die vor 50.000 Jahren Australien erreichten?

Seit den Funden in Chile sind 18 Jahre vergangen, und noch immer gibt es keine endgültigen Antworten. Nur die Frage, ob Clovis die älteste entdeckte menschliche Stätte in Amerika ist, ist geklärt: Nein, es gibt noch ältere. Seit 2011 gilt die Debra-L.-Friedkin-Fundstätte in Texas als die früheste nachgewiesene in der westlichen Hemisphäre.

Dort hatte der Archäologe Michael Waters die Belege für eine 15.500 Jahre alte Besiedlung ans Licht gebracht – etwa 2500 Jahre vor der Einwanderung der Clovis-Jäger. Friedkin liegt in einem kleinen Tal, eine Autostunde nördlich von Austin. Hier fließt ein Bach, der das ganze Jahr über Wasser führt, es gibt Bäume, die Schatten spenden, und eine Feuersteinader, aus der die Menschen den Rohstoff für Steinmesser und andere Werkzeuge gewannen.

Falls es damals so ähnlich ausgesehen hat, war dieses Tal ein idealer Wohnort für Jäger und Sammler. Sie fanden zum Essen Nüsse und Wur­zeln, Flusskrebse und Schildkröten, wahrschein­lich jagten sie auch Hirsche, Truthähne und Eichhörnchen. Mit anderen Worten: Die Men­schen, die hier lebten, waren mit hoher Wahr­scheinlichkeit nicht auf der Durchreise. Sie hat­ten sich bereits seit Längerem eingerichtet.

Doch wenn Menschen hier, in der Mitte des Kontinents, schon vor 15.500 Jahren ansässig waren, muss man sich erneut fragen: Wann sind dann ihre Vorfahren in der Neuen Welt ange­kommen? „Ich bin überzeugt“, sagt Waters, „dass Menschen sogar bereits vor 16.000 Jahren in Nordamerika waren. Und ob sie wirklich die Ersten waren, wird sich noch zeigen.“

Auch die Genetiker haben neue Hinweise ge­liefert. Forscher haben die DNA heutiger ame­rikanischer Ureinwohner mit menschlichem Erbmaterial aus der ganzen Welt verglichen. Ihr Ergebnis: Die Ahnen der heutigen Ureinwohner waren Asiaten, die sich von anderen asiatischen Gruppen getrennt und etwa 10000 Jahre lang isoliert gelebt haben müssen. Diese Zeitspanne lässt sich abschätzen, weil man die durch­ schnittliche Mutationsrate der menschlichen DNA kennt. Nur durch eine solch lange Isolati­on lassen sich die Besonderheiten erklären, die einzigartigen sogenannten genetischen Marker, die sich im Erbgut der amerikanischen Urein­wohner entwickelt haben.

Genau diese Marker wurden auch in der DNA Naias gefunden. Und nicht nur bei ihr, sondern auch in den Überresten eines Kindes, das vor 12.600 Jahren im heutigen Bundesstaat Mon­tana auf einem Stück Land bestattet worden war, das heute Anzick­-Fundstätte genannt wird.

„Damit haben wir jetzt zwei Funde: Beide Menschen stammen von einem gemeinsamen Ahnen ab, der aus Asien gekommen ist“, sagt Waters. „Und an beiden kann man zweifelsfrei erkennen, dass die ersten Bewohner Amerikas genetisch mit allen heutigen Ureinwohnern verwandt sind.“

Und wie haben diese ersten Ankömmlinge nun Amerika erreicht? Wenn man bedenkt, dass sie es vor mehr als 14.000 Jahren sogar bis an die Südspitze des Kontinents geschafft haben, wie die Funde aus Chile belegen, scheint eine Ant­wort nicht abwegig: vermutlich auf Booten.

Die Channel Islands vor der Küste Südkali­forniens sind wild und zerklüftet; es gibt dort einen Nationalpark, aber auch Tausende von archäologischen Fundstätten.

1959 hatte der Museumskurator Phil Orr auf der Insel Santa Rosa einige Knochen eines Menschen entdeckt, er nannte ihn „Mann von Arlington Springs“. Zunächst glaubte man, die Gebeine seien 10.000 Jahre alt, 40 Jahre später ermittelten Wissenschaftler mit verbesserten Methoden ein Alter von 13.000 Jahren.

Vor 13.000 Jahren? Damals waren die nörd­lichen Channel Islands, zu denen Santa Rosa gehört, noch eine zusammenhängende Insel und vom Festland durch acht Kilometer offenes Meer getrennt. Der Mann von Arlington Springs muss also über das Wasser gereist sein.

Jon Erlandson von der Universität Oregon forscht bereits seit 30 Jahren auf den Inseln – und hat mittlerweile Belege, dass zumindest die Menschen, die nur wenig später, vor 12.000 Jah­ren, hier lebten, eine hoch entwickelte Seefah­rerkultur hatten: Ihre Speerspitzen und Stein­messer ähneln älteren Werkzeugen, die man bei Fischervölkern auf japanischen Inseln und anderswo entlang der asiatischen Pazifikküste gefunden hat.

Laut Erlandson stammten die Bewohner der Channel Islands vermutlich von Menschen ab, die auf der „Seetangautobahn“ angereist waren: auf einer gleichmäßigen Meeresströmung voller Seetang, in dem sich zahlreiche Fische und Meeressäuger aufhielten. Die ersten Besiedler folgten dieser Strömung von Asien nach Ame­rika, womöglich mit einem Zwischenstopp in Beringia. „Wir wissen, dass es in Japan schon vor 30.000 Jahren Seefahrer gab. Da liegt es nahe, dass sie weiter nach Norden gefahren und später entlang der Pazifikküste bis nach Ame­rika gekommen sind“, sagt Erlandson.

Belege für diese These gibt es bisher aller­dings nicht. Der Meeresspiegel liegt derzeit 90 bis 120 Meter höher als damals in der Eiszeit, die einstigen Küstenlinien, an denen man nach menschlichen Spuren suchen könnte, sind überflutet und viele Kilometer von der heutigen Küste entfernt.

Die besten Indizien für eine Wanderung entlang der Küste findet man darum ausgerechnet tief im Landesinneren. Denn die Menschen erkundeten auf ihrem Weg nach Süden auch Meeresarme und gingen die Flüsse aufwärts. Tatsächlich entdeckten Archäologen mitten in Oregon zum Beispiel Speerspitzen, die ähnlich aussehen wie solche aus Japan, Korea und von der russischen Insel Sachalin.

Auch völlig andere, delikatere Hinterlassenschaften der Prä-Clovis-Zeit wurden dort gefunden: fossile menschliche Exkremente – Koprolithen, wie der Fachmann sie nennt. Dennis Jenkins von der Universität Oregon hat in mehreren Höhlen oberhalb eines früheren Sees nahe der Stadt Paisley 14.000 bis 15.000 Jahre alten Kot entdeckt. Er vermutet, dass die Menschen damals entlang der Flüsse landeinwärts dorthin vorgedrungen waren.

In den Koprolithen fanden sich Samen von Lomatium dissectum, einer wilden Möhre, deren essbare Wurzeln 30 Zentimeter unter der Erde stecken. „Man muss wissen, dass die Wurzel da ist, und um sie auszugraben, braucht man einen Grabstock“, sagt Jenkins. „Für mich bedeutet das: Die Menschen, die hier lebten, waren nicht nur auf der Durchreise. Sie wussten Bescheid über das Land und seine Ressourcen.“

So wie die Siedler im texanischen Friedkin oder im chilenischen Monte Verde. Ein weiterer Beleg dafür, dass sich Menschen schon lange vor der Clovis-Kultur auf dem Kontinent niedergelassen hatten. Auf welchem Weg auch immer sie dorthin gelangt sind.

(NG, Heft 6 / 2015, Seite(n) 66 bis 79 )

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