Gibt es ein Entdecker-Gen?

... Ja, sagen die Wissenschaftler. Der Drang zu sehen, was hinter dem Meer ist, hinter den Bergen oder jenseits unseres Planeten, liegt dem Menschen im Blut – und ist entscheidend für seinen Erfolg.

Von Lisa Reggentin
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Als der britische Seefahrer James Cook im Winter des Jahres 1769 auf seiner ersten Schiffsreise in der Südsee unterwegs war, machte ihm ein polynesischer Geistlicher namens Tu­paia ein überraschendes Geschenk: eine Karte des Südpazifiks, die vor Cook noch kein Euro­päer zu Gesicht bekommen hatte. Sie zeigte jede größere Inselgruppe im Umkreis von 5000 Kilo­metern, von den Marquesas Richtung Westen bis nach Fidschi. Was Cook darauf sah, passte zu dem, was er bereits wusste – und offenbarte vieles, was er noch nie gesehen hatte.

Cook hatte Tupaia in Tahiti an Bord der „En­deavour“ genommen. Bald darauf versetzte der Polynesier die Crew mit seinen nautischen Fähigkeiten in ungläubiges Staunen: Ohne Kom­pass, Karte, Uhr oder Sextant navigierte er zu einer etwa 500 Kilometer südlich von Tahiti gelegenen Insel, von deren Existenz Cook bis dahin nichts wusste. In den folgenden Wochen verblüffte Tupaia die Seemänner damit, dass er zu jeder Zeit – ob bei Tag oder Nacht, bei Wol­ken oder klarem Himmel – exakt die Lage seiner Heimatinsel Tahiti bestimmen konnte.

Cook verstand, warum Tupaia dieses Kunst­stück fertigbrachte: Die Inselbewohner, die über den Südpazifik verstreut lebten, gehörten alle zu einem Volk, das vor langer Zeit den riesigen Ozean erkundet hatte. Erkundet, besiedelt und kartiert – ohne die nautischen Geräte, die für Cook unentbehrlich waren. Und diese Karte hatten sie in ihren Köpfen aufbewahrt.

Zwei Jahrhunderte später wurde Cooks Theo­rie von Genetikern bestätigt, die die Wege der menschlichen Migration anhand von DNA­ Analysen nachgezeichnet hatten. Tupaias Vorfahren hatten den Pazifik 2300 Jahre vorher besiedelt. Ihre schier unglaubliche Wanderung kreuz und quer über den Ozean setzte einen Treck Richtung Osten fort, der 70.000 bis 50.000 Jahre zuvor in Afrika begonnen hatte. Cook hin­gegen bewegte sich westwärts wie seine Ahnen, die Afrika etwa zur selben Zeit wie Tupaias Vorfahren verlassen hatten. Mit dem Zusammentreffen der beiden schloss sich ein Kreis, endete eine Reise, die ihre gemeinsamen Vorfahren vor vielen Jahrtausenden begonnen hatten.

Ungebremster Entdeckergeist

Cook starb zehn Jahre später in einem blutigen Scharmützel mit Eingeborenen auf Hawaii. Sein Tod, sagen einige, habe das Ende dessen markiert, was westliche Historiker das Zeitalter der Entdeckungen nennen. Dennoch hat es in keiner Weise unseren Entdeckergeist gebremst. Wir waren davon besessen, die weißen Flecken auf unseren Landkarten zu tilgen, die entlegensten Pole zu erreichen, die tiefsten Tiefen, die höchsten Gipfel. Wir sind in jeden Winkel der Erde gesegelt und schließlich sogar ins Weltall geflogen. Während der Mars-Rover „Curiosity“ uns noch mit seinen Erkundungen in Atem hält, planen die USA gemeinsam mit anderen Ländern und einigen Privatunternehmen, auch Menschen zum Roten Planeten zu entsenden. Visionäre sprechen sogar davon, ein Raumschiff zu unserem Nachbarn zu schicken.

Michael Barratt von der amerikanischen Weltraumbehörde Nasa gehört zu jenen, die es kaum erwarten können, zum Mars zu fliegen. Barratt ist Arzt, Taucher und Pilot, seit 30 Jahren Segler, seit zwölf Jahren Astronaut und sieht sich selber als jemanden in der Nachfolge von Cook und Tupaia. «Wir machen das, was sie taten. So ist es an jedem Punkt in der Geschichte des Menschen», sagt er: «Eine Gesellschaft entwickelt eine Technologie, die sie weiterbringt. Sei es die Fähigkeit, Lebensmittel zu konservieren und zu transportieren, ein Schiff zu bauen oder eine Rakete zu starten. Und dann gibt es immer wieder Menschen, die verrückt danach sind, Neuland zu erforschen, selbst wenn sie sich dafür eine Rakete unter den Hintern schnallen müssen.»

Nicht alle von uns brennen darauf, in einem Raumschiff zu fliegen oder über die unendliche Weite eines Ozeans zu segeln. Dennoch sind wir neugierig und fasziniert genug von der Idee, um so eine Expedition durch Spenden zu unterstützen oder die Heimkehrer einer solchen Mission zu bejubeln. Ja, wir explorieren, um einen besseren Platz zum Leben zu finden oder ein größeres Territorium in Besitz zu nehmen oder um ein Vermögen zu machen. Aber wir explorieren auch, nur um zu sehen, was dort ist.

«Kein anderes Säugetier zieht so viel umher wie wir»

Das sagt Svante Pääbo, der Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, wo er die Herkunft des Menschen anhand der Genetik erforscht. «Wir überschreiten Grenzen. Wir dringen in neue Territorien vor, selbst wenn wir ausreichend Ressourcen haben. Andere Tiere tun dies nicht. Andere Menschen auch nicht. Die Neandertaler existierten über Hunderttausende von Jahren, aber sie haben sich nie über die Welt verbreitet. Wir haben in nur 50.000 Jahren die ganze Erde besiedelt. Das ist verrückt: Auf das Meer hinauszusegeln, ohne zu wissen, was auf der anderen Seite ist. Und nun erkunden wir den Mars. Wir hören nie auf. Warum nicht?»

Falls unser Entdeckerdrang naturgegeben ist, steckt seine Grundlage vielleicht in unserem Erbgut. Tatsächlich gibt es eine Mutation, über die in diesem Zusammenhang diskutiert wird: eine Variante des DRD4-Gens, das hilft, Dopamin zu kontrollieren, einen chemischen Botenstoff im Gehirn, der für das Lernen und für unser internes Belohnungssystem wichtig ist. Forscher haben wiederholt einen Zusammenhang zwischen dieser Variante sowie Neugier und Rastlosigkeit festgestellt.

Haben 20 Prozent der Menschen ein Entdeckergen?

Diese Gen-Variante, bekannt als DRD4-7R, kommt bei schätzungsweise 20 Prozent aller Menschen vor. Mehrere Dutzend Studien kamen zu dem Schluss, dass Menschen mit der 7R-Variante eher dazu neigen, Risiken auf sich zu nehmen. Dass sie für neue Orte, Ideen, Nahrungsmittel, Beziehungen, Drogen oder sexuelle Gelegenheiten besonders aufgeschlossen sind. Dass sie ganz allgemein Veränderung, Bewegung und Abenteuer lieben.

Am interessantesten ist, dass manche Studien einen Zusammenhang zwischen 7R und der Migration des Menschen erbrachten. Chuansheng Chen von der Universität von Kalifornien in Irvine fand 1999 in einer ersten großen Untersuchung heraus, dass 7R in hochmobilen Kulturen wie den Ureinwohnern Amerikas weiter verbreitet ist als in sesshaften wie Jakuten oder Drusen. Eine größere und statistisch noch besser untermauerte Studie von 2011 stützt dieses Ergebnis. Sie ergab, dass 7R tendenziell häufiger, als es zu erwarten wäre, in solchen Populationen gefunden wird, deren Vorfahren längere Strecken gewandert sind, nachdem sie Afrika verlassen hatten. Beide Studien stützen die Annahme, dass bei Menschen mit nomadischem Lebensstil die 7R-Variante häufiger vorkommt.

Eine weitere Untersuchung jüngeren Datums liefert dafür Belege. Unter den Angehörigen der Ariaal, einem ursprünglich nomadischen Volk in Kenia, sind diejenigen mit 7R tendenziell stärker und besser ernährt als ihre Stammesgenossen ohne 7R, sofern sie weiterhin nomadisch leben. Träger von 7R sind tendenziell jedoch schlechter ernährt, wenn sie sesshaft sind. Ein unsteter Mensch kann in einer sich wandelnden Umwelt durchaus fit sein, in einer stabilen aber verkümmern. Ähnlich verhält es sich mit jedem anderen Gen, das zur Rastlosigkeit beiträgt.

Ist 7R also das Forscher-Gen oder Abenteurer-Gen, wie manche es nennen? Kenneth Kidd, Evolutions- und Populationsgenetiker an der Yale-Universität in Connecticut, findet, dass die Rolle von 7R überbewertet wird. Kidd gehörte zum Forscherteam, das die 7R-Variante vor 20 Jahren entdeckt hat. Wie andere Skeptiker denkt er, dass viele der Studien, die 7R mit Exploration in Verbindung bringen, methodisch oder statistisch ungenau sind. Er weist darauf hin, dass dem Stapel von Untersuchungen, die 7R mit diesen Eigenschaften in Verbindung bringen, ein anderer entgegensteht, der dem widerspricht. «Man kann nicht etwas so Komplexes wie den Entdeckerdrang des Menschen auf ein einzelnes Gen reduzieren», sagt er. «So einfach funktioniert die Genetik nicht.»

Kidd plädiert stattdessen dafür zu untersuchen, wie Gruppen von Genen das Fundament für ein solches Verhalten legen könnten. In einer Sache stimmt er mit den meisten 7R-Befürwortern überein: Was immer wir aus der Rolle von 7R im Zusammenhang mit Rastlosigkeit schließen – kein Gen und auch keine Gruppe von Genen kann uns den Entdeckergeist einimpfen. Wahrscheinlicher ist es, dass verschiedene Gruppen von Genen zu verschiedenen Eigenschaften beitragen, darunter solchen, die uns das Entdecken ermöglichen, und anderen, wie wahrscheinlich auch 7R, die uns dazu regelrecht drängen. Bevor wir unserer Entdeckungslust nachgeben können, müssen wir an die Hilfsmittel und an die Eigenschaften denken, die wir dafür brauchen.

Das Wichtigste: Ein Gehirn das abstrakt denken kann

Nur ein Stockwerk unter Kidds Büro finde ich jemanden, der solche Werkzeuge studiert: den Entwicklungs- und Evolutionsgenetiker Jim Noonan. Seine Forschung konzentriert sich auf die Gene, die zwei Schlüsselsysteme steuern: unsere Gliedmaßen und unser Gehirn. «Ich bin also befangen», gesteht er, als ich ihn frage, was uns zu Explorern macht, «aber wenn man es auf das Wesentliche reduzieren möchte, würde ich sagen, unsere Fähigkeit zum Explorieren kommt von diesen beiden Systemen.»

Die Gene, die die Informationen für den Aufbau unseres Gehirns und unserer Gliedmaßen in sich tragen, so Noonan, sind die gleichen wie jene, die für die genannten Körperteile bei anderen Hominiden und Affen zuständig sind. Beim Menschen entwickeln sich Beine und Hüften, mit denen wir weite Strecken zurücklegen können. Ebenso geschickte Hände und ein Gehirn, das zwar viel langsamer wächst als das von anderen Menschenaffen, das aber auch viel größer wird. Die Kombination dieser Merkmale sei dafür gemacht, Entdecker hervorzubringen.

«Wir verfügen über eine große Mobilität, eine außerordentliche Fingerfertigkeit und – das Allerwichtigste – ein Gehirn, das abstrakt denken kann», sagt Noonan. Und jede dieser Fähigkeiten verstärkt die anderen: Unser konzeptionelles Denken vergrößert die Wirkung unserer Mobilität und Fingerfertigkeit, was wiederum unser Vorstellungsvermögen optimiert. «Denken Sie an ein Werkzeug: Wenn man es gut beherrscht und Phantasie besitzt, dann überlegt man sich weitere Anwendungsmöglichkeiten dafür.»

Dieses sich selbst verstärkende System, so unterstreicht Noonan, rettete den großen britisch-irischen Polarforscher Ernest Shackleton, nachdem er und seine Mannschaft im Jahr 1916 auf Elephant Island gestrandet waren. Als das Meereis ihr Schiff zermalmt hatte, ersann Shackleton – 1300 Kilometer vom nächsten Festland entfernt und mit 27 erschöpften Männern, wenig Lebensmitteln und drei kleinen offenen Booten – eine äußerst gewagte, geradezu tollkühne Seereise. Mit einer Handvoll einfacher Werkzeuge baute er ein sieben Meter langes Rettungsboot für ein Himmelfahrtskommando um, das nur wenige Menschen sich auszudenken gewagt hätten. Er nahm seine Navigationsinstrumente und fünf seiner Männer und brach ins Ungewisse auf. Shackleton erreichte Südgeorgien und kehrte anschließend nach Elephant Island zurück, um seine Leute zu retten.

Der Entdeckerdrang beginnt im Kind

Noonan liefert einen überzeugenden Beleg dafür, dass unser großes Gehirn und unsere geschickten Hände die Fähigkeit zur Imagination formen. Alison Gopnik, eine Entwicklungspsychologin an der Universität von Kalifornien, sagt, Menschen besitzen auch noch einen weiteren Vorzug, der dieses Vorstellungsvermögen fördert: eine lange Kindheit, in der wir unseren Entdeckerdrang erproben können, während wir von unseren Eltern beschützt werden. Wir Menschen werden ungefähr eineinhalb Jahre früher abgestillt als Gorillas und Schimpansen und brauchen erheblich länger, bis wir in die Pubertät kommen – rund zehn Jahre anstatt der drei bis fünf Jahre bei den Gorillas und Schimpansen. Zahnfunde von Neandertalern legen den Schluss nahe, dass auch sie schneller als wir er­ wachsen wurden. «Ich habe ein Buch geschrie­ben, das sich mit diesem Thema auseinander­ setzt», sagt Gopnik. «Es heißt „Der Forscher in der Krippe“, der Titel könnte aber ebenso gut „Der Entdecker im Kinderzimmer“ lauten.»

Viele Tiere spielen, sagt Gopnik. Aber wäh­rend sie vor allem spielen, um Basisfähigkeiten wie Kämpfen und Jagen einzuüben, spielen Menschenkinder, indem sie hypothetische Sze­narien mit eigenen Spielregeln erfinden: Kann ich einen Turm aus Bauklötzen bauen, der so groß ist wie ich? Was wird passieren, wenn wir die Fahrradrampe noch steiler bauen? Wie funktioniert das Schule-Spielen, wenn ich der Lehrer bin und mein großer Bruder der Schüler ist?

Solche Spiele machen Kinder zu Entdeckern verschiedener Situationen mit einer Fülle von Lösungsmöglichkeiten. Doch je älter wir wer­den, desto weniger sind wir bereit, neue Wege auszuprobieren. Wir begnügen uns mit dem Vertrauten. «Es ist wie mit der Frage, ob ich in mein Stammlokal gehe oder ein neues Restaurant ausprobiere, das gut, aber eben auch schlecht sein kann», sagt Gopnik. Während der Kindheit verankert sich unser Entdeckergeist im Bewusstsein; wenn wir als Erwachsene aufmerk­sam bleiben, ermöglichen uns diese frühen Erfahrungen, unseren Blickwinkel zu verändern: Gibt es möglicherweise eine Nordwestpassage? Können wir den Pol besser mit dem Hunde- schlitten erreichen? Wagen wir es, einen Roboter auf dem Mars zu landen, indem wir ihn von einem Himmelskran abseilen?

Die Gene surfen auf der Migrationswelle

In den dichten Wäldern der kanadischen Provinz Quebec lebte in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Gruppe von Pionieren, die ein langwieriges und riskantes Experiment startete. Die Stadt Quebec, einst von den Fran­zosen am Sankt-­Lorenz-­Strom gegründet, wuchs schnell. Nach Norden hin, entlang des Flusses Saguenay, erstreckte sich ein riesiges, nahezu unberührtes Waldgebiet. Dieser an Rohstoffen reiche, aber unwirtliche Landstrich lockte bald Holzfäller und junge Bauernfamilien an, die dort ihr Glück machen wollten. Sie zogen nordwärts, ließen sich im Tal nieder und sorgten für eine Siedlungswelle am Saguenay.

Aus biologischer Sicht versammelt Migration nicht nur bestimmte Typen von Menschen; sie kann auch die Konzentration und Ausbreitung jener Gene unterstützen, die möglicherweise die Triebfeder für solche Wanderungen sind. Die Gene surfen auf der Migrationswelle mit. Sie sind in den Anführern vorhanden, deshalb verbreiten sie sich auch in deren Siedlungen.

Manchmal werden auf Wanderungen von Lebewesen auch Gene selektiert, die das Umherziehen begünstigen. Ein Beispiel ist die Aga-Kröte. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde sie im Nordosten Australiens eingeführt; heute leben dort mehr als 200 Millionen Tiere und verbreiten sich über den Kontinent, 50 Kilometer pro Jahr. Die Kröten, die diesen Treck anführen, haben um zehn Prozent längere Beine als ihre Vorfahren in den dreißiger Jahren – und deutlich längere Gliedmaßen als selbst ihre Artgenossen, die sich nur einen Kilometer hinter ihnen bewegen. Wie kann das sein? Kröten, die rastlos und langbeinig sind, stellen sich mit ihrem Erbgut an die Spitze der Migrationsfront und paaren sich dort mit Artgenossen, die ebenfalls rastlos und langbeinig sind. Das führt zu ebensolchem Nachwuchs.

Laurent Excoffier, ein Populationsgenetiker an der Universität Bern, glaubt, dass es sich bei den Holzfällern von Quebec um ein ähnliches Phänomen handelt. In einer wissenschaftlichen Veröffentlichung von 2011 analysierten Excoffier und seine Kollegen die über Jahrhunderte hinweg gemachten Aufzeichnungen einer Kirchengemeinde in Quebec, in denen Geburten, Hochzeiten, Ansiedlung und Tod festgehalten waren. Anhand dieser Daten fanden die Wissenschaftler heraus, dass sich die Pionierfamilien in einer Weise verhalten und fortgepflanzt haben, die sowohl ihre Gene als auch ihre Eigenschaften, die sie zu Pionieren machten, weiterverbreitet hat.

Die Paare an der Spitze der Bewegung heirateten früher und bekamen in jüngeren Jahren Kinder als jene Paare, die sich nicht dem Siedlertreck angeschlossen hatten. Das führte zu kinderreicheren Familien als in jener Vergleichsgruppe, die nicht weitergezogen war (9,1 Kinder pro Familie im Vergleich zu 7,9).

Und weil jene Kinder wiederum mit höherer Wahrscheinlichkeit früher heirateten und mehr Kinder hatten, hinterließ jedes Pionierpaar insgesamt 20 Prozent mehr Nachkommen – ein enormer evolutionärer Vorteil. Dies hat den Anteil der Gene und Eigenschaften jener Familien in ihrer Bevölkerungsgruppe schnell ansteigen lassen – und demnach auch in der Gesamtbevölkerung von Nordamerika.

Falls diese Art von „Gen-Surfing“ oft passiert ist, als sich die Menschen über die ganze Welt verbreiteten, dann hat es dafür gesorgt, dass verschiedene Gene selektiert wurden, glaubt Excoffier. Gene, die Neugier fördern, Rastlosigkeit, Innovationsfreude, Risikobereitschaft. «Dies könnte helfen, einiges von unserem Entdeckerdrang zu erklären.»

Wechselwirkung zwischen Kultur und Genen

Es gibt noch eine weitere Dynamik, die sich selbst verstärkt: die fortwährende Wechselwirkung zwischen Kultur und Genen. Gene beeinflussen, welche Kultur wir schaffen, und die Kultur wiederum formt unser Erbgut. Kultur im weiteren Sinne: Wissen, Methoden oder Technologien, die Menschen nutzen, um sich an ihre Umwelt anzupassen. Diese Dinge existieren überhaupt nur, weil sich unsere genetischen Eigenschaften bis zu dem Punkt entwickelt haben, an dem wir sie selber erschaffen konnten. Und wir verändern sie kontinuierlich. Aber diese sich verändernde Kultur kann ebenso unsere genetische Evolution beeinflussen, manchmal auf erstaunlich schnelle und direkte Weise.

Das klassische Beispiel dafür ist die rasante Zunahme der Fähigkeit, Frischmilch zu verdauen. Menschen, die das Verdauungsenzym Laktase nicht produzieren, haben nach dem Abstillen Schwierigkeiten mit der Aufspaltung von Milchzucker. Vor 15.000 Jahren hatte fast niemand jene DNA-Kontrollsequenz im Körper, die das für die Laktoseverdauuung zuständige Gen anschaltet. Bis dahin brachte das ja auch keinen Vorteil. Als aber vor etwa 8000 Jahren die frühen Ackerbauern in Europa begannen, Milchvieh zu züchten, eröffnete die Fähigkeit, Kuhmilch zu verdauen, den Menschen den Zugang zu einem Lebensmittel, das ihnen das ganze Jahr über zur Verfügung stand. Sie konnten Zeiten mit Nahrungsmittelengpässen überleben, in denen sie sonst verhungert wären. Rasch verbreitete sich die Mutation in Europa, anderswo auf der Welt blieb sie zunächst selten.

Diese Dynamik zeigt sich fast überall im menschlichen Verhalten und besonders beim Entdeckerdrang. Als ein Vorfahr des Menschen zum ersten Mal einen Stein benutzte, um eine Nuss zu knacken, bereitete er damit einer Kultur den Weg, die immer mehr Gene selektierte, die Fingerfertigkeit und Vorstellungskraft steuern. Die Zunahme dieser beiden Kernkompetenzen beschleunigte wiederum die Entwicklung der Kultur. Ernest Shackleton profitierte von Innovationen, von Schiffen, Werkzeugen und der Fähigkeit zur Orientierung, um ein neues Territorium zu erkunden und wieder nach Hause zu finden.

Die Reise der Polynesier

Bei Gopniks Entdeckern im Kinderzimmer hat eine alte Kultur, bei der Eltern, Großeltern und andere Verwandte gemeinsam die Kinder großziehen, den Wert der Gene optimiert, die eine lange Periode der Gehirnentwicklung zu­ lassen. Die Pionierfamilien von Quebec schufen dank ihrer rastlosen Gene und Eigenschaften eine Subkultur, die Neugierde, Innovationskraft, Zähigkeit und Risikobereitschaft belohnte. Und Cook wurde von seiner Intelligenz und seiner Neugier dazu gedrängt, eine Weltkarte heim­ zubringen, die zuvor unbekannt war. Er steigerte damit sowohl den Wert von Englands imperia­ler Marinekultur als auch den der genetischen Eigenschaften, die er während seiner riskanten Reisen gezeigt hatte.

Aber was ist mit Tupaia? Seine Gene und sei­ ne Kultur, so scheint es, nahmen einen eher verschlungenen Weg, bis er mit dem Europäer Cook zusammentraf. Die Verbreitung der Poly­nesier im Pazifik steht für eine der seltsamsten Wanderungen des Homo sapiens, seit er seine afrikanische Heimat verlassen hat.

Die Reise der Polynesier begann vor 60.000 Jahren, als sich eine der ersten Migrationswellen von Afrika über den Nahen Osten und entlang der Südküste Asiens ausbreitete. In nur 10.000 Jahren erreichten sie Australien und Neuguinea.

Während der folgenden 10.000 Jahre verbreiteten sich die Polynesier in dieser Inselregion, bis sie die bogenförmigen Archipele der Bismarck- und Salomon-Inseln erreichten. Dort stellten sie das Reisen ein. «Bis dahin lagen die Inseln, zwischen denen sie sich bewegten, immer in Sichtweite», sagt Ana Duggan, die diese Völkerwanderung am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie erforscht. Wenn man jedoch von den Salomon-Inseln aus weitersegelt, kann man wochenlang unterwegs sein, ohne Land zu sehen. Weder die Navigation, die diese frühen Polynesier benutzten, noch ihre Boote konnten es mit diesen Bedingungen aufnehmen. Also blieben sie, wo sie waren.

«Der folgende Teil ihrer Siedlungsgeschichte», sagt Duggan, «ist noch umstritten.» Obwohl ihn die meisten Polynesienexperten und eine wachsende Zahl von linguistischen, archäologischen und genetischen Belegen unterstützen. Nach dieser „Von Taiwan kommend“-Theorie, bekamen die frühen Polynesier vor etwa 3500 Jahren Besuch aus dem Norden – vom Küstenvolk der Austronesier (was verwirrend ist, denn sie kommen aus Asien). Tausend Jahre zuvor hatten die Austronesier Taiwan und die Südküste Chinas verlassen und sich langsam über die Philippinen und weitere Inseln vor Südostasien ausgebreitet, bis sie Ozeanien erreichten. Dort vermischten sie sich mit der einheimischen Bevölkerung und passten sich ihrer Lebensweise an. In den folgenden Jahrhunderten brachte diese Vermischung von Genen und Kulturen ein neues Volk hervor, das Lapita genannt wird. Bald darauf begannen die Lapita, Richtung Osten über den Pazifik zu segeln.

Die Kraft aus der Kultur

Warum sind sie wieder aufgebrochen? Ursache dafür waren wahrscheinlich nicht die neuen Gene. Aber die Asiaten hatten etwa Bahnbrechendes in ihrem Besitz.

«Sie brachten ein besseres Boot mit», sagt Duggan.

Ihre Boote waren richtige Schiffe: lange Kanus mit Segeln, Auslegern und viel größerer Geschwindigkeit und Reichweite. Sie ermöglichten es den Austronesiern, bei starkem Wind und stürmischer See zu segeln. Diese Wasserfahrzeuge müssen die Einheimischen sehr beeindruckt haben. Ähnlich wie heutige Astronauten genossen die Schiffbauer und Seeleute der pazifischen Inseln eine exponierte soziale Stellung, die ihre Heiratschancen erhöht haben dürfte. Sie erhielten vermutlich gesellschaftliche und wirtschaftliche Unterstützung und wirkten zudem höchst motivierend auf andere Menschen mit rastlosen Genen.

Wade Davis, Anthropologe und Explorer-in-Residence bei NATIONAL GEOGRAPHIC, drückt es so aus: «Wenn jemand die Segel setzt, um neues Land zu entdecken, dann wird er zum Mythos – selbst wenn er nicht zurückkehrt.» Vielleicht war es das, was Tupaia, mit dem Erbgut seiner Vorfahren, gen Osten trieb.

Ein anständiges Segelschiff wie jenes, das die frühen Polynesier entwickelten, ist eine beinahe perfekte Metapher für die Kraft, die wir aus der Kultur gewinnen können. Sie gibt unserem formbaren Erbgut, unserem Vorstellungsvermögen und unseren geschickten Händen die Fähigkeit, Naturgewalten wie Wind, Wasser und Strömung zu trotzen – und sie von einer potenziellen Gefahr in eine Chance zu verwandeln. Für die Lapita, die einst von der Ostspitze der Salomonen über den riesigen Ozean vor sich blickten, war so ein Schiff wie ein Paar neuer Beine. Das Steuer in der Hand und nicht erforschte Inseln im Kopf, hätte sie ihre Reise um die ganze Welt führen können.

Selbst eine Max-Planck-Genetikerin ist davon beeindruckt. Als mir Ana Duggan von diesen Schiffen erzählt, gibt sie zu, dass sie von Natur aus kein Seglertyp ist. Aber dieses größere Boot, über das wir sprachen – allein die Vorstellung davon – scheint die innere Seefahrerin in ihr zu wecken.

«Wenn jemand mit so einem Boot vor der Küste aufkreuzen und sagen würde: ‹Guck mal, mein großes, tolles Boot. Damit kann ich weit reisen›», sagt sie grübelnd, «ja, dann würde auch ich einsteigen und losfahren.»

(NG, Heft 1 / 2013, Seite(n) 48 bis 75)

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