Spinosaurus – Mister Big

Platz da, T. rex! Hier kommt der größte Raubsaurier, der je auf der Erde gelebt hat: der Spinosaurus.

Von Tom Mueller
bilder von Mike Hettwer
Funken sprühen bei letzten Schleifarbeiten am lebensgroßen Spinosaurus-Skelett.
Funken sprühen bei letzten Schleifarbeiten am lebensgroßen Spinosaurus-Skelett.
Foto von Mike Hettwer

Am Abend des 3. März 2013 sitzt der junge Berliner Paläontologe Nizar Ibrahim in einem Straßencafé im marokkanischen Erfoud und sieht mit der untergehenden Sonne auch seine Hoffnung schwinden. Zusammen mit zwei Kollegen ist er drei Tage zuvor hierhergekommen, um einen Mann aufzuspüren, der ihm bei der Lösung eines Rätsels helfen soll, das ihn seit seiner Kindheit beschäftigt. Der Gesuchte ist ein fouilleur – ein Fossilienjäger, der seine Waren an Händler vor Ort verkauft.

Zu den wertvollsten Funden in Marokko gehören Dinosaurierknochen vom Rand des Kem-Kem-Beckens im Süden des Landes. Hier treten in einem 250 Kilometer langen Steilhang Ablagerungen aus der mittleren Kreidezeit zutage, bis zu hundert Millionen Jahre alt. Tagelang haben die drei Wissenschaftler die Ausgrabungsstätten in der Nähe des Dorfes El Begâa abgesucht, dann streiften sie durch die Straßen von Erfoud, in der Hoffnung, den Mann zufällig zu treffen, aber umsonst. Jetzt hocken sie müde und niedergeschlagen bei einem landestypischen Minztee und bemitleiden sich gegenseitig. „Alle meine Träume schienen sich in Luft aufzulösen“, erzählt Ibrahim später.

Urheber dieser Träume war ein anderer Paläontologe aus Deutschland, der ein Jahrhundert früher in die Wüste gezogen war. Zwischen 1910 und 1914 unternahm Ernst Freiherr Stromer von Reichenbach, ein bayrischer Aristokrat, mehrere Expeditionen in die ägyptische Sahara – an den östlichen Rand desselben uralten Fließgewässersystems, das im Westen vom Kem-Kem-Becken begrenzt wird. Stromer fand die Überreste von Dinosauriern, Krokodilen, Schildkröten und Fischen aus rund 45 verschiedenen Tiergruppen.

Darunter waren zwei Teile eines riesigen Raubtiers mit einem meterlangen Kiefer voller ineinandergreifender Zähne. Auf dem Rücken trug der Dino ein fast zwei Meter langes Hautsegel, das durch ungewöhnliche Rippen oder Fortsätze gestützt wurde. Stromer nannte das Tier Spinosaurus aegyptiacus.

Die Fossilien wurden später in der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und Geologie in München ausgestellt. Im April 1944 fielen sie einem Luftangriff zum Opfer. Nur Stromers Notizen, Zeichnungen und sepiafarbene Fotografien blieben vom Spinosaurus übrig. Stromers Name selbst geriet in Vergessenheit – bis Nizar Ibrahim als kleiner Junge auf eine Abbildung dieses merkwürdigen Sauriers stieß.

Als Fünfjähriger entdeckte Nizar Ibrahim den Spinosaurus in einem Kinderbuch. Von da an ließen
 ihn die Saurier nicht mehr los.

Ibrahim, ein Deutschmarokkaner, wuchs in Berlin auf. Als Fünfjähriger entdeckte er in einem Kinderbuch über Dinosaurier Stromers merkwürdigen Koloss. Von da an ließen ihn die Saurier nicht mehr los. Er zeichnete dreikrallige Fußabdrücke von Raubsauriern in den Sand, seine Lieblingskekse zeigten die Umrisse von Triceratops und Tyrannosaurus rex. Später besuchte er paläontologische Ausstellungen in ganz Deutschland und legte bald eine eigene Sammlung von Modellen und Fossilien an.

An der Universität Bristol studierte er Paläontologie – und stieß wieder auf Stromer. „Sein Werk spornte mich an, mir für meine eigene Forschung hohe Ziele zu stecken“, sagt Ibrahim. Die meisten Dissertationen haben ein eng begrenztes Thema, doch Ibrahim behandelte die gesamte Fossilienüberlieferung des Kem-Kem­-Beckens. Seine Doktorarbeit umfasst 836 Seiten.

Mehrmals kam er nach Erfoud, um dort zu forschen. Im Jahr 2008 zeigte ein Beduine dem damals 26­-Jährigen einen Pappkarton mit vier Blöcken auffallend violettfarbenen Gesteins, das von gelben Sedimenten durchzogen war. Aus dem Fels ragte etwas wie der Handknochen eines Dinosauriers, außerdem ein flaches Knochenblatt mit einem ungewöhnlichen Querschnitt. Wenn Fossilien amateurhaft aus ihrem geologischen Umfeld gerissen werden, ist ihr Wert für die Wissenschaft fragwürdig. Ibrahim kaufte sie trotzdem: Sie könnten sich vielleicht gut machen in der neu gegründeten paläontologischen Sammlung der Universität von Casablanca, dachte er.

Die wahre Bedeutung der Knochen erkannte er erst Jahre später. Bei einem Besuch im Naturhistorischen Museum in Mailand zeigten ihm die Kollegen Cristiano Dal Sasso und Simone Maganuco das Teilskelett eines großen Dinosauriers, das sie kurz zuvor von einem Fossilienhändler erworben hatten. Im Keller lagen auf Tischen ausgebreitet Beinknochen, Rippen, unzählige Wirbel und mehrere lange, auffallende Rückendornen. Ibrahim staunte. Das war eindeutig ein Spinosaurus­-Skelett, und es war wesentlich vollständiger als Ernst Stromers im Krieg zerstörte Fundstücke.

Dal Sasso und Maganuco erzählten, der Fossilienhändler habe sie an einem Ort namens Aferdou N’Chaft unweit von El Begâa in Marokko ausgegraben. An den Knochen hafteten noch Krusten des umgebenden Gesteins: ein hellvioletter Sandstein mit gelben Streifen. Als Ibrahim ein Stück eines Rückendorns hochnahm, sah er den vertrauten Querschnitt.

„Da wurde mir klar, dass die Knochen, die ich selbst in Erfoud gekauft hatte, auch von einem Spinosaurus sein mussten. Der eigenartige flache Knochen war ein Stück Rückendorn“, erinnert sich Ibrahim. Ihm kam der Gedanke, dass seine Fossilienfragmente und das Prachtexemplar in Mailand vom selben Tier sein könnten; wäre das so und sollte es ihm gelingen, den Ausgrabungsort der Fossilien zu finden, dann wäre das die Chance, endlich mehr über den Spinosaurus und seine Lebenswelt zu erfahren.

Da ist er ja, der marokkanische Fossilienhändler, den sie tagelang gesucht haben!
 Die beiden Forscher springen auf und laufen ihm hinterher.

Doch dazu musste er zunächst einmal den marokkanischen Fossilienhändler wiederfinden. „Ich hatte keine Ahnung, wie er heißt. Ich wusste, dass er einen Schnurrbart hatte und etwas Weißes trug“, sagt Ibrahim. „Das macht die Suche in Marokko nicht unbedingt einfacher.“ Im März 2013 ist er also wieder in Erfoud. Mittlerweile wird der junge Paläontologe von der National Geographic Society als Emerging Explorer, als herausragender Jungforscher, finanziell unterstützt. Zusammen mit Samir Zouhri von der Université Hassan II in Casablanca und David Martill von der Universität Portsmouth fährt Ibrahim zu mehreren Ausgrabungsorten. Doch niemand scheint die Spinosaurus­-Fossilien auf den Fotos wiederzuerkennen. Auch den Beduinen, der sie ihm verkaufte, kennt keiner. Am letzten Tag ihres geplanten Aufenthalts durchstreifen sie noch einmal die Straßen von Erfoud, ohne Erfolg. Erschöpft setzen sie sich in ein Café.

Mutlos schauen sie in das Gewimmel der Passanten, als plötzlich ein Mann mit Schnurrbart vorbeikommt, ganz in Weiß gekleidet. Ibrahim und Zouhri springen auf und laufen ihm hinterher. Es ist der Mann, den sie tagelang gesucht haben! Er bestätigt, dass er die Knochen gefunden und in zwei Monaten harter Arbeit aus einer Felswand herausgeschlagen hat. Die ersten Stücke hatte er Ibrahim verkauft, später habe er mehr gefunden. Ein italienischer Fossilienhändler zahlte ihm dafür 14.000 Euro.

Ibrahim und Zouhri bitten ihn, sie zum Fundort zu führen, doch der Mann lehnt ab. Ibrahim, der Arabisch spricht, erklärt ihm, wie wichtig es sei zu wissen, woher die Knochen stammen. Der Saurier könne eines Tages nach Marokko zu­rückkehren, als Teil der Sammlung in Casablanca. Der Beduine hört schweigend zu, dann nickt er: „Okay, ich zeige es Ihnen.“

In ihrem ramponierten Geländewagen fahren sie durch Palmenplantagen im Norden von Erfoud. Irgendwann führt der Mann sie zu Fuß ein Wadi entlang und eine steile Böschung hinauf. Schließlich kommen sie an eine Öffnung in einem Felshang, der früher mal ein Flussufer war.

„Hier“, sagt der Beduine.

Ibrahim klettert hinein. Das Erste, was er sieht, sind hellviolette Sandsteinwände mit den bekannten gelben Streifen.

Für Ernst Stromer blieb der Spinosaurus sein Leben lang ein Rätsel. Jahrzehntelang versuchte er, das seltsame Wesen aus zwei Skelettfragmenten zusammenzusetzen. Zunächst spekulierte er, die langen Dornfortsätze hätten einen Schulterbuckel gestützt, wie ihn Büffel haben. Später vermutete er, dass sie zu einem Rückensegel gehörten, wie es heute noch manche kleinen Echsen und Chamäleons tragen. Ihm fielen auch die schlanken Kieferknochen auf, einzigartig bei den Raubsauriern. Und dann die Zähne: Die meisten Raubsaurier hatten abgeflachte Zähne mit gekerbten Rändern. Die des Spinosaurus dagegen waren glatt und kegelförmig wie die eines Krokodils. Stromer schloss, das Tier sei „hoch spezialisiert“ gewesen, ohne jedoch sagen zu können, worauf.

Die Beobachtungen waren Teil eines Problems, das manchmal als „Stromers Rätsel“ bezeichnet wird, weil dieser bei den nordafrikanischen Fossilien als Erster darauf aufmerksam wurde: In fast allen Ökosystemen gab und gibt es deutlich mehr Pflanzen­ als Fleischfresser. Doch die Fossilienfunde vom Nordrand Afrikas – von Stromers Ausgrabungsstätten in Ägypten bis zum Kem­-Kem-­Becken in Marokko – zeigen das Gegenteil. Allein drei enorme Fleischfresser lebten dort: der zwölf Meter lange Bahariasaurus; der ebenfalls zwölf Meter lange Carcharodontosaurus, eine Art afrikanischer T. rex; und der Spinosaurus, der größte und merkwürdigste.

Stromer vermutete, es müsse dort auch große Pflanzenfresser gegeben haben – was hätten die Raubsaurier sonst fressen sollen? Die entsprechenden Knochen seien einfach noch nicht gefunden worden. Andere Wissenschaftler argwöhnten, Fossilienjäger seien eben besonders auf Fleischfresser aus, weil die sich besser verkauften, und würden andere Funde ignorieren.

Mit einer Art „digitaler Knete“ formte ein Spezialist am Computer die fehlenden Knochen des Supersauriers. Als Modell dienten ihm Skelette verwandter Arten.

Mit den neuen Spinosaurus-­Knochen und dem genauen Fundort, so hofft Nizar Ibrahim, wird er eine bessere Antwort auf Stromers Rätsel geben können. Doch auf den ersten Blick wird alles noch verwirrender. So haben etwa die Rückendornen eine glatte Oberfläche. Es gibt kaum Anhaftungspunkte für schweres Weichteilgewebe wie etwa einen Buckel. Außerdem sind in den Dornen nur wenige Kanäle für Blutgefäße. Zur Regulierung der Körpertemperatur kamen sie deshalb auch nicht in Frage. Die Rippen sind sehr dicht und eng gebogen, so dass sie einen ungewöhnlich zigarrenförmigen Torso umgaben. Der Hals ist lang, der Schädel riesig. Der Kiefer allerdings ist schmal und lang und endet in einer gewölbten Schnauze mit vielen winzigen Vertiefungen. Vorderbeine und Schultergürtel sind massig, die Hinterbeine dagegen unverhältnismäßig kurz und schlank.

In seinem Büro in Chicago hat Ibrahim ein lebensgroßes Bild des Spinosaurus­-Schädels an der Wand hängen. Immer wieder starrt er es an und versucht, vor seinem inneren Auge ein Bild des enormen Körpers dahinter entstehen zu lassen, „die Knochen, die Muskeln, einfach alles. Manchmal hatte ich es kurz, aber dann war es wieder weg, wie eine Fata Morgana. Mein Gehirn konnte diese unglaubliche Komplexität einfach nicht zu einem Bild zusammensetzen“.

Aber ein Computer kann das vielleicht. Gemeinsam mit Simone Maganuco vom Museum in Mailand und Tyler Keillor, einem Fossilienpräparator und Paläokünstler an der Universität Chicago, machte sich Ibrahim an die digitale Rekonstruktion des Sauriers. Im Medical Center der Universität Chicago und am Maggiore­Krankenhaus in Mailand ließen sie Tomografie­ Aufnahmen von jedem Knochen machen und ergänzten weitere Körperteile, indem sie Fotos von Exemplaren aus Museen in Mailand, Paris und anderen Orten, aber auch Aufnahmen von Ernst Stromers Fotos und Skizzen einscannten. Keillor, ein Experte im virtuellen Modellieren, formte die fehlenden Knochen aus „digitaler Knete“ und nahm dabei Aufnahmen derselben Teile bei verwandten Dinosauriern zum Vorbild. Durch haargenaue Nachbildung und Anordnung der 83 Wirbel im Rückgrat kamen sie zu dem Schluss, dass ein erwachsener Spinosaurus von der Nase bis zum Schwanz 15 Meter lang war. Damit wäre er der größte Fleischfresser aller Zeiten gewesen. Der berüchtigte T. rex maß etwas über zwölf Meter.

Als das Skelett fertig war, umhüllten die Forscher es mit digitaler Haut und errechneten, wo der Mittelpunkt des Körpers war und wo der Schwerpunkt. So konnten sie nachvollziehen, wie sich das Tier bewegte. Das Ergebnis: Anders als alle anderen Raubsaurier, die auf den Hinterbeinen liefen, war der Spinosaurus wohl ein Vierfüßer, der auch die mit Klauen bestückten Vorderbeine zur Fortbewegung einsetzte.

Das passte alles irgendwie noch nicht zusammen. Erst als Ibrahim und seine Kollegen geistig einen Schritt zurücktraten und den Spinosaurus aus einer völlig anderen Perspektive betrachteten, sahen sie es: einen Dinosaurier, der sich die meiste Zeit im Wasser aufhält. Die Nasenlöcher liegen weit oben auf der Schnauze, so dass er auch mit fast untergetauchtem Kopf noch atmen kann. Der zigarrenförmige Torso erinnert an Delfine und Wale, die Rippen und die langen Knochen sind so dicht wie bei der Seekuh. Das vermindert den Auftrieb und macht es leichter, getaucht zu manövrieren. Die seltsam proportionierten Hinterbeine eignen sich perfekt zum Paddeln, vor allem wenn die flachen Krallen durch Schwimmhäute verbunden waren. Der schlanke Kiefer und die krokodilähnlichen Zähne können gut Fische packen, in den Vertiefungen an der Schnauze befanden sich vermutlich Drucksensoren zum Aufspüren der Beute in trübem Wasser. Krokodile und Alligatoren haben ähnliche Organe bis heute.

Der Spinosaurus war also ein Raubsaurier, der überwiegend im Wasser jagte. Das ist womöglich auch der Schlüssel zu „Stromers Rätsel“. Der Fluss, an dem das Tier starb, war nur einer von vielen Wasserläufen eines riesigen Flusssystems, das sich in der Kreidezeit über weite Teile Nordafrikas erstreckte. Nicht nur die Raubsaurier waren hier groß, auch die anderen Wasserbewohner, deren Überreste sich im Kem­Kem­Becken finden, waren es: Es gab 2,50 Meter lange Lungenfische, vier Meter lange Quastenflosser, 7,50 Meter lange Rochen und ähnlich große Schildkröten – ordentliche Portionen selbst für die größten Fleischfresser. Für ein ausbalanciertes Nahrungsnetz hätte es also an Land gar keine großen Pflanzenfresser als Beute geben müssen.

Mit der letzten Phase der Rekonstruktion fügt sich das Puzzle zusammen: Das lebensgroße, zum Teil per 3­D­-Drucker angefertigte Spinosaurus­-Skelett aus Hartschaum, Harz und Stahl zeigt den Saurier in Schwimmhaltung. So, vermutet Ibrahim, hat er die meiste Zeit verbracht. „Ich wünschte“, sagt er, „ich könnte das Modell Ernst Stromer zeigen, damit er sieht, dass er recht hatte. Spinosaurus war hoch spezialisiert. Er war ein schwimmender Raubsaurier. Ich glaube, Stromer hätte sich gefreut.“

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 10/2014 des National Geographic-Magazins. Die Reportage steht auch im aktuellen Special 3/2019 zum Thema Dinosaurier. Jetzt am Kiosk!

Video: Nizar Ibrahim erklärt, was seinen Beruf und die Suche nach Fossilien so faszinierend macht.

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