Natur in der Stadt: Wenn die Wildnis zurückkehrt

Deutschlands Städte sollen grüner werden. Wer sich auf City-Safari begibt, kann spannende Entdeckungen erleben.

Wanderfalke in der Stadt: Seit einigen Jahren erobern die blitzschnellen Greifvögel den urbanen Raum. Zu ihrer bevorzugten Beute zählen Stadttauben. 

Foto von Adobe Stock
Von Jens Voss
Veröffentlicht am 31. Mai 2022, 08:39 MESZ

Biber, die durch den Stadtweiher schwimmen. Schmetterlinge, die über Häuserdächer flattern. Grüne Hausfassaden, die den Großstadtdschungel mit sauberer Luft versorgen. Manchmal kann ein Spaziergang durch die City so spannend sein wie eine Wanderung durch einen Nationalpark. Neue Wege gehen, unerwartete Entdeckungen machen – auch für Daniel Raven-Ellison hält die Stadt viele Überraschungen bereit.

Seit Jahren entwickelt der Geograf, Naturschützer und National Geographic-Explorer Konzepte, mit denen er Metropolen in sogenannte Nationalparkstädte verwandeln will. Aus grauen Großstädten sollen grüne Oasen werden. „Auch Städte sind Ökosysteme“, sagt er. Im Sommer 2019 ist sein Traum erstmals Wirklichkeit geworden. Seitdem ist London offiziell die weltweit erste National Park City. Mehr als 250 Organisationen und unzählige Londoner hätten sich an der Begrünungsinitiative beteiligt, erklärt der Brite.

Klar ist: Eine National Park City ist ein völlig anderer Lebensraum als ein echter Nationalpark. Aber „die Füchse, Falken und anderen Wildtiere, die in einer Stadt leben, sind genauso wertvoll“, sagt Raven-Ellison. Ob auf Dächern, Balkonen oder in Gärten: „Wir Menschen haben die Möglichkeit, diesen Lebensraum gesünder, grüner und wilder zu gestalten. Jeder kann etwas dazu beitragen.“

Daniel Raven-Ellison - We Are All Explorers
Nationalparkstädte als Perspektive für eine gemeinsame Zukunft in einer gesünderen Umwelt

Überraschende Begegnungen: Wildtiere in der Stadt

Erstaunlich, aber wahr: Oft leben mehr Arten in der City als im Umland. Die Gründe sind vielfältig, sagt Wildtierökologin Geva Peerenboom: „Menschliche Siedlungen sind reich an Strukturen, bieten ganzjährig ein vielfältiges Nahrungsangebot und haben ein milderes Klima als natürliche Lebensräume.“ Ob Wildschweine auf dem Mexikoplatz in Berlin, Wanderfalken über der Frankfurter Skyline oder Füchse am Kölner Mediapark: Manche Arten kommen mit Gebäuden und städtischen Grünflächen offenbar besser zurecht als mit den immer monotoner werdenden Agrarlandschaften.

Natürlich zählen bei weitem nicht alle Tierarten zu den Gewinnern, betont die Freiburger Wissenschaftlerin. Während so genannte Urban Exploiters – anpassungsfähige Generalisten wie der Fuchs – ihre Reviere oft in direkter Nachbarschaft zum Menschen suchten, kämen Urban Avoiders wie der Luchs überhaupt nicht mit menschlicher Nähe klar. Stadtbegrünung darf deshalb auch nicht als Alibi für den anhaltenden Raubbau an der Natur herhalten.

Galerie: Großstadt-Wildnis

„Stadtnatur wird immer wichtiger“

Grüner und wilder: Davon profitieren nicht nur Tiere und Pflanzen. Städtische Grünflächen bringen auch dem Menschen viele Vorteile: Sie werten das Stadtbild auf und steigern unser Wohlbefinden. Sie produzieren Sauerstoff, binden Kohlendioxid, filtern Feinstaub, absorbieren Lärm und kühlen die Luft im Sommer. Die meisten Menschen sind sich einig: Unsere Städte müssen grüner werden.

Auch die Politik hat die Zeichen der Zeit erkannt: „Stadtnatur wird für die Stadtentwicklung immer wichtiger“, sagt Stefan Tidow, Staatssekretär im Bundesumweltministerium. „Sie eröffnet die Chance, dass unsere Städte sich besser an die Klimakrise anpassen, einen wertvollen Beitrag für die Artenvielfalt leisten und für ihre Bewohnerinnen und Bewohner gesünder und lebenswerter werden.“ Der Bund fördert eine Reihe von Stadtnatur-Projekten im Programm „Biologische Vielfalt“ und in der Initiative „Chance-Natur – Bundesförderung Naturschutz“.

Hamburg blüht auf

In Hamburg ist beispielsweise „Deutschlands erstes Naturschutzgroßprojekt in einer Großstadt“ angelaufen. Auf acht Prozent der Landesfläche will der Stadtstaat mit „Natürlich Hamburg“ unter anderem Grünflächen und Parks naturnäher gestalten und die Naturschutzgebiete am Stadtrand miteinander vernetzen. In den Grünanlagen sei die Artenvielfalt wesentlich geringer als in den Schutzgebieten, erklärt Projektleiterin Karin Gaedicke. „Deshalb wollen wir die Biodiversität durch gezielte Maßnahmen stärken und die Stadtbevölkerung für mehr Natur begeistern.“ Die Devise: Blühende Wiesen statt englischer Rasen.

Doch nicht nur in großen Städten wird gesät und gehakt. Gerade kleine Gemeinden können oft schon mit überschaubarem Aufwand ökologisch wertvolle Lebensräume schaffen. Im Bündnis „Kommunen für biologische Vielfalt“ etwa haben sich aktuell 335 Städte, Gemeinden und Landkreise zusammengeschlossen. Gemeinsam wollen sie artenreiche Naturräume im Siedlungsbereich schaffen. „Das Bewusstsein für die Bedeutung der biologischen Vielfalt in den Kommunen hat deutlich zugenommen,“ unterstreicht die Bündnisvorsitzende Waltraud Blarr.

Galerie: Was die Natur zurückerobert

Grüne Inseln im Hinterhof

Wildnis im urbanen Raum – jeder kann dazu beitragen. Das Projekt „Tausend Gärten, tausend Arten“ unterstützt Menschen dabei, Gärten, Balkone oder Hinterhöfe insektenfreundlich und naturnah zu gestalten. Denn auch dort schlummert ein großes Potenzial. Bereits ein kleines Wildpflanzenbeet kann einen Beitrag zur biologischen Vielfalt leisten.

„Heimische Wildpflanzen sind eine wichtige Nahrungsquelle für viele Arten“, so Projektleiterin Bettina de la Chevallerie. „Schon kleine Ecken im Garten oder ein paar Töpfe auf dem Balkon bieten jede Menge Futter und Lebensraum.“ Noch gebe es einen Haken: Geeignetes Saatgut sei bislang kaum im Gartencenter erhältlich. Das Projektteam baut deshalb ein Netzwerk aus Saatgutbetrieben, Gärtnereien, Baumschulen und Gartenmärkten auf, das passende Mischungen anbietet.

Galerie: Lebende Bauwerke

Expedition im eigenen Garten

Naturnahes Gärtnern ist unkomplizierter als viele denken: Keine Pestizide verwenden, seltener den Rasen mähen und möglichst aufs Düngen verzichten. Wer genug Platz hat, sollte mehr Wildnis wagen und dazu eine Ecke mit „Unkräutern“ stehen lassen. Brennnesseln und Disteln beispielsweise sind wichtige Futterpflanzen für viele Schmetterlinge. Meist lassen die tierischen Besucher dann nicht lange auf sich warten.

Welche faszinierenden Entdeckungen man bei wilden Steifzügen durch die City machen kann, weiß auch Sven Meurs. Der Kölner Tierfotograf ist regelmäßig im Großstadtdschungel unterwegs, um tierische Bewohner zu porträtieren. Berlin ist für ihn die Hauptstadt der Wildschweine, hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof weiß er hunderte Feldhasen und im Düsseldorfer Stadtpark beobachtet er fischende Eisvögel. Meurs ist sicher: „Wenige Regionen in Deutschland sind so artenreich wie unsere Großstädte.“

 

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