Aquakultur - Die Blaue Revolution

Tilapia und Lachs statt Rind und Hühnchen: Immer mehr von unserem Essen wächst künftig im Wasser. Sind Aquakulturen die Lösung?

Von Joel K. Bourne
Foto von Jim Richardson, Brian Skerry

In einem nasskalten Lagerhaus am Fuß
der Blue Ridge Mountains in Virginia greift Bill Martin nach einem Eimer mit 
braunen Pellets und schüttet sie in ein langes Betonbecken. Fette weiße Tilapias, groß wie Suppenteller, schießen an die Oberfläche und lassen das Wasser schäumen. Martin ist Präsident von Blue Ridge Aquaculture, einer der weltgrößten Indoor­Fischfarmen.

«Das hier sind die Fische, mit denen Petrus damals, mit Jesu Hilfe, die Fünftausend gespeist hat», sagt er und lächelt. Seine Reibeisenstimme klingt wie die eines Predigers. Anders als Jesus gibt Martin seine Fische aber nicht umsonst ab. Jeden Tag verkauft er 5000 Kilo lebende Tilapias an Märkte von Washington bis nach Toronto. Seine Hauptkunden sind eingewanderte Asiaten. Derzeit plant Martin eine zweite Fischfarm an der Westküste. «Mein Vorbild ist die Geflügelzucht», sagt er. «Allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Unsere Fische sind glücklich.»

Woher er das denn wisse, frage ich. Die Tilapias drängen sich so dicht, dass Petrus darüber laufen könnte, ohne einzusinken.

«Fische zeigen in der Regel, dass sie unglücklich sind, indem sie verenden», erwidert Martin. «Ich habe bisher noch nie ein ganzes Becken voller Fische verloren.»

Ein Gewerbegebiet in den Appalachen – das mag sich nach einem seltsamen Ort für die Zucht von Millionen Nilbuntbarschen anhören. Aber industrielle Fischfarmen haben weltweit Konjunktur. Seit 1980 hat sich die Produktion aus Aquakulturen vervierzehnfacht. Vom Lachs bis zur Seegurke – 2012 erzeugten sie erstmals mehr Nahrungsmittel als die Rindfleischzüchter. Mit über 66 Millionen Tonnen war das fast die Hälfte aller Fische und Schalentiere, die 2012 auf der Erde gegessen wurden. Und die Nachfrage wird weiter steigen, sagen Experten: um mindestens noch ein Drittel. Weil die Weltbevölkerung wächst, das generelle Einkommen steigt und Fisch gesund sein soll. «Wildfänge können den Bedarf in den zum Teil überfischten Ozeanen nicht mehr decken», sagt Rosamond Naylor, Expertin für Lebensmittelpolitik und Aquakultur an der Universität Stanford. Das zusätzliche Angebot wird ihrer Meinung nach fast ausschließlich aus Fischfarmen stammen.

Mehr Hintergründe zu unserem Special „Ernährung der Welt“ finden Sie hier. Lesen Sie außerdem, was der Kieler Wissenschaftler Rainer Froese an der Aquakultur kritisiert.

«Aber die Leute sind misstrauisch. Viele glauben, wir würden in den Ozeanen mit einer neu­ en Massentierhaltung beginnen. Deshalb wollen wir es von Anfang an richtig machen.»

Es gibt gute Gründe, misstrauisch zu sein.

Die „Blaue Revolution“ hat es möglich gemacht, die Gefriertruhen der Supermärkte mit billigen Shrimps, Lachs und Tilapia zu füllen. Aber oft mit ähnlichen Nebenwirkungen wie die Landwirtschaft auf dem Trockenen: Zerstörung von natürlichem Lebensraum, Wasserverschmutzung, Sorgen um die Sicherheit der Nahrung. Vor 30 Jahren fielen in den Tropen riesige Mangrovenwälder den Bulldozern zum Opfer, weil man vor der Küste Farmen ins Meer baute, die heute einen großen Teil der weltweiten Shrimpsproduktion liefern. Die Abwässer – ein Cocktail aus Stickstoff, Phosphor und toten Fischen – sind heute in weiten Teilen Asiens zu einer ernsten Gefahr geworden. Um die Fische in den dicht besetzten Käfigen am Leben zu halten, setzen manche südasiatischen Fischfarmer Antibiotika und Pestizide ein, die in den USA, Europa und Japan verboten sind. Und wegen mangelhafter Kontrollen längst nicht immer entdeckt werden.

Doch die Probleme durch Fischfarmen beschränken sich nicht auf Asien. In den letzten drei Jahrzehnten wurden Gehege für die Zucht von Atlantiklachs von den Fjorden Norwegens bis nach Chile gebaut. In den dicht besetzten Netzen sind Parasiten und Krankheiten verbreitet, das Wasser ist verdreckt. Im Jahr 2012 verloren schottische Lachsfarmen fast zehn Prozent ihrer Fischbestände durch Amöben, die sich in den Kiemen der Fische festsetzten. In Chile fielen seit 2007 Lachse im Wert von rund zwei Milliarden Dollar einer von Viren verursachte Blutkrankheit zum Opfer. 2011 wurde die Shrimpszuchtbranche in Mosambik durch eine Epidemie praktisch vernichtet.

Das Grundübel liegt nicht in der Aquakultur an sich. Diese Methode ist seit dem Altertum bekannt. Schon vor 4000 Jahren züchteten chinesische Bauern Karpfen in ihren Reisfeldern. Das Problem ist die rasante Intensivierung. Netzgehege säumen immer mehr Flüsse, Seen und Meeresküsten. Bauern besetzen Teiche mit schnell wachsenden Karpfen- und Tilapiarassen und geben ihnen Turbofutter, damit sie noch schneller Gewicht zulegen.

«Ich wurde sehr von der „Grünen Revolution“ bei Getreide und Reis inspiriert», sagt der Fischgenetiker Li Sifa von der Shanghai Ocean Universität. Li wurde als „Vater der Tilapia“ bekannt: Er entwickelte eine schnell wachsende Form dieser Barsche, die heute jedes Jahr rund 1,5 Millionen Tonnen hervorbringt, einen großen Teil davon für den Export. «Eine gute Rasse kann einer Branche dazu verhelfen, mehr Menschen zu ernähren», sagt Li. «Das sehe ich als meine Aufgabe: Bessere Fische machen, mehr Fische machen, damit die Züchter reich werden und die Menschen mehr zu essen haben.»‚

Aber wie geht das, ohne gleichzeitig Krankheiten zu verbreiten und die Umwelt zu verschmutzen? Die Lösung des Tilapia-Farmers Bill Martin: Er züchtet die Fische nicht in Netzgehegen in Seen oder im Meer, sondern in eigenen Becken an Land. «Netzgehege sind oft ein Vabanquespiel», sagt er. «Da gibt es Parasiten, Krankheiten, ausgebrochene und tote Tiere. In unseren Becken haben wir alles hunderprozentig unter Kontrolle, ohne Auswirkungen auf die Umwelt, auf die Ozeane. Eines ist ja klar: Wenn wir die Meere nicht in Ruhe lassen, wird Mutter Natur uns eines Tages einen gewaltigen Tritt in den Hintern verpassen.»

Das stimmt wohl, aber auch Martins Fischfabrik lässt weder Land noch Luft unbelastet.

Um die Fische am Leben zu halten, braucht er eine Wasseraufbereitungsanlage, die für eine Kleinstadt ausreichen würde. Der Strom dafür stammt aus der Verbrennung von Kohle. Etwa 85 Prozent des Wassers in seinen Tanks bilden einen Kreislauf, der Rest – der stark mit Ammoniak und Fischkot belastet ist – fließt in die örtliche Kläranlage, der feste Abfall wandert auf die Müllkippe. Jeden Tag pumpt er mehr als eine Million Liter aus dem Grundwasser, um den normalen Wasserverlust auszugleichen.

Irgendwann möchte Martin 99 Prozent des Wassers im Kreislauf halten und aus dem Abfall Methan gewinnen, um damit Strom zu erzeugen. Er ist überzeugt, dass Kreislaufsysteme an Bedeutung gewinnen werden, aber bisher produzieren außer ihm nur wenige Unternehmen ihre Fische – darunter Lachse, Offiziersbarsche (Cobias) und Forellen – in Becken an Land. Dass solche Kreislaufsysteme funktionieren, hat nicht zuletzt ein deutscher Experte für Aquakultur bewiesen: Werner Kloas. Er betreibt am Leibniz-Institut für Gewässerökologie am Müggelsee eine geschlossene Fischzuchtanlage, deren Abfälle gleichzeitig Grundlage für einen üppigen Gemüseanbau sind.

13 Kilometer vor der Küste Panamas geht Brian O’Hanlon den anderen Weg. Der mit 34 Jahren noch junge Präsident des Unternehmens Open Blue setzt auf den offenen Ozean. 20 Meter unter der kobaltblauen Oberfläche der Karibik drehen 40.000 Cobias hypnotische Pirouetten im Inneren eines riesigen rautenförmigen Fischkäfigs. Anders als die Tilapias in Bill Martins Betonbecken oder Lachse in kommerziellen Zuchtanstalten haben diese momentan vier Kilo schweren Jungfische jede Menge Platz.

O’Hanlon ist in dritter Generation Fischhändler. Er stammt aus Long Island, und als er klein war, diente ihm der berühmte Fulton-Fischmarkt in New York als Spielplatz. Anfang der neunziger Jahre trieben der Zusammenbruch der Kabeljaufischerei im Nordostatlantik und die Einfuhrzölle auf norwegischen Lachs das Familienunternehmen in den Bankrott. Für seinen Vater war da schon klar: Die Zukunft der Branche sind Fische aus Zuchtfarmen. Also fing O’Hanlon schon als Teenager an, in einem großen Becken im Keller seines Elternhauses den barschartigen Red Snapper zu züchten.

Heute betreibt er vor der Küste Panamas die größte Offshore-Fischfarm der Welt. Er hat etwa 200 Mitarbeiter, züchtet Fischnachwuchs in großem Maßstab an Land und unterhält eine Flotte orangefarbener Schiffe zur Versorgung der Cobias draußen in den Käfigen. Zwölf dieser Gehege bieten Platz für insgesamt mehr als eine Million Offiziersbarsche. Von Natur aus sind diese Fische Einzelgänger, beliebte Beute für Sportangler, kommerziell wurden sie aber kaum gefangen. Für Fischfarmer sind sie aber attraktiv, weil sie sich sehr schnell vermehren. Wie der Lachs steckt der Cobia voller gesunder Omega-3-Fettsäuren, seine zarten, weißen Filets werden von anspruchsvollen Köchen geschätzt. Letztes Jahr hat O’Hanlon 800 Tonnen an Spitzenrestaurants in den USA geliefert. Nächstes Jahr, hofft er, wird sich die Menge verdoppeln – und dann endlich auch Gewinn abwerfen.

So weit draußen auf dem Meer verursachen Wartung und Betrieb hohe Kosten. Lachszuchtanlagen liegen meistens in geschützten Buchten nahe der Küste, über O’Hanlons Käfigen dagegen brechen sich manchmal sechs Meter hohe Wellen. Aber genau diese Wasserbewegung ist wichtig: Strömungen und Wellen führen ständig frisches Wasser zu, spülen Ausscheidungen und Erreger fort. Bisher musste O’Hanlon seine Cobias noch nie mit Antibiotika behandeln. Wissenschaftler der Universität Miami haben bei Untersuchungen außerhalb seiner Käfige auch keine Spuren von Fischkot nachgewiesen. Sie vermuten, dass die verdünnten Exkremente unmittelbar von Planktonorganismen verwertet werden. O’Hanlon selbst achtet auf die Qualität auch, indem er seine Käfige nur mit einem Bruchteil der Fischdichte besetzt, die in konventionellen Lachsfarmen üblich ist.

Trotzdem musste er seine Zucht in Panama aufbauen. In den USA bekommt er dafür keine Genehmigung.

Viele Betreiber von Lachsfarmen haben dazugelernt: Sie produzieren heute zehnmal so viele Fische wie vor 20 Jahren, verschmutzen dabei aber das Wasser deutlich weniger.

Ökologische Bedenken in Teilen der Gesellschaft und vor allem der leidenschaftliche Widerstand der Berufsfischer schüren in den amerikanischen Küstenstaaten den Widerstand gegen Fischfarmen. O’Hanlon ist dennoch überzeugt, dass er Pionierarbeit für die Aquakultur leistet.

«Offshore-Farmen sind die Zukunft», sagt er. «Genau so etwas wie hier muss die Branche tun, wenn sie weiter wachsen will. Und ganz besonders in den Tropen.» Mit geschlossenen Systemen an Land, wie sie dem Tilapia-Züchter Bill Martin vorschweben, lasse sich niemals genug Biomasse produzieren. «Die können nicht so rasch expandieren, dass sie der steigenden Nachfrage gerecht werden. Und damit so ein Betrieb Gewinn abwirft, muss er Massenhaltung betreiben, muss so viele Fische in die Becken stopfen, dass sie gerade eben am Leben bleiben. Aber dass sie nicht krepieren, heißt doch nicht, dass sie glücklich sind, oder?»

Eines haben die Fische – ob in Zuchten vor der Küste oder in Becken an Land – immerhin gemein: Sie müssen gefüttert werden. Und im Vergleich zu Rindern oder Schweinen haben sie einen großen Vorteil: Sie brauchen viel weniger Futter, um Fleisch anzusetzen.

Fische haben einen geringeren Kalorienbedarf. Sie sind wechselwarm, und da das Wasser sie trägt, brauchen sie nicht so stark gegen die Schwerkraft anzukämpfen wie Rinder und Schweine, die viel Energie dafür verbrauchen, aufrecht stehen zu bleiben. Man benötigt etwa ein Kilo Futter, um ein Kilo Fisch zu erzeugen. Zur Produktion von einem Kilo Huhn werden fast zwei Kilo Futter benötigt, für ein Kilo Schweinefleisch rund drei und für Rindfleisch ungefähr sieben. Aquakulturen – besonders von Allesfressern wie Tilapia und Karpfen – benötigen also viel weniger Ressourcen, um den Fleischhunger von dem- nächst neun Milliarden Menschen zu sättigen.

Auf der anderen Seite haben manche Farmfische, die zahlungskräftigen Verbrauchern besonders gut schmecken, auch einen schwerwiegenden Nachteil: Sie sind selber Fleischfresser. Der Offiziersbarsch zum Beispiel erbeutet im freien Meer kleinere Fische und Krebse. In Zuchten wächst er deshalb so schnell, weil Farmer wie O’Hanlon ihn mit Pellets füttern, die bis zu 25 Prozent Fischmehl und fünf Prozent Fischtran enthalten. Der Rest sind zumeist Nährstoffe auf Getreidebasis. Fischmehl und Tran werden vorwiegend aus Sardinen und Sardellen hergestellt, die vor der südamerikanischen Pazifikküste in großen Schwärmen vorkommen. Hier werden also kleine Fische gefangen, mit denen man große Fische füttert, die schließlich von Menschen gegessen werden.

Aquakulturen verbrauchen heute fast doppelt so viel Futterfisch wie noch im Jahr 2000. Sie verbrauchen auch 70 Prozent des weltweit produzierten Fischmehls und fast 90 Prozent des Fischtrans. Die Nachfrage ist mittlerweile so hoch, dass viele Länder Schiffe in die Antarktis schicken, wo sie jedes Jahr mehr als 200.000 Tonnen Krillkrebse fangen – eigentlich eine wichtige Nahrungsquelle für Pinguine, Robben und Wale. Zwar nutzen auch andere Branchen große Teile des Krillfangs, die Pharma- und Kosmetikindustrie zum Beispiel. Für Kritiker der Aquakultur ist es trotzdem ökologischer Wahnsinn, Lebewesen am unteren Ende der Nahrungskette massenhaft wie mit dem Staubsauger einzusammeln und mit Verlusten in billiges tierisches Protein umzuwandeln, das wir Menschen an der Spitze der Nahrungskette uns dann auf den Teller legen.

Fischfarmer verteidigen sich, indem sie an- führen, dass sie immer effizienter arbeiten: Sie züchten Allesfresser wie Tilapia und verfüttern Soja und andere Getreidesorten. Selbst das Futter für Lachse – von Natur aus Fleischfresser – besteht in der Regel nur noch zu zehn Prozent aus Fischmehl. Die Menge der eingesetzten Futterfische je Kilo Produktionsmenge ist in den letzten 15 Jahren um rund 80 Prozent gesunken. Nach Angaben von Rick Barrows, der in einem Institut des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums seit 30 Jahren Fischfutter entwickelt, könnte es noch weniger werden. «Fische brauchen kein Fischmehl», sagt er. «Sie brauchen Nährstoffe. Wir füttern Regenbogenforellen seit zwölf Jahren überwiegend vegetarisch. Man könnte also in der Aquakultur ab sofort auf Fischmehl verzichten.»

Schwieriger ist der Ersatz von Fischtran, denn der enthält die hochgelobten Omega-3-Fettsäuren. Diese Verbindungen werden im Meer von Algen produziert und reichern sich im Verlauf der Nahrungskette zu immer höheren Konzentrationen an. Manche Futtermittelhersteller gewinnen die kostbaren Substanzen bereits unmittelbar aus Algen – sie liefern die Omega-3-Fettsäuren in Eiern und Orangensaft. Derart angereichertes Futter hat zusätzlich den Vorteil, dass weniger Giftstoffe wie DDT, PCB und Dioxine über die natürliche Nahrungskette in die Zuchtfische gelangen. Noch effektiver wäre es, sagt die Ernährungsfachfrau Rosamond Naylor von der Universität Stanford, wenn man Futterraps gentechnisch so abwandelt, dass sein Öl mehr Omega-3-Fettsäuren enthält.

Für unseren Planeten könnte es sogar wichtiger sein, wie man Zuchtfische füttert, als die Frage, wo man sie züchtet. «Der Versuch, auf küstenferne Gewässer oder das Land auszuweichen, kommt nicht daher, dass wir in Küstennähe nicht genug Platz hätten», sagt Stephen Cross, ein Wirtschaftsgeograph, der die Aquakulturbranche Kanadas lange Zeit in ökologischen Fragen beraten hat. Er weiß, dass die Wasserverschmutzung durch küstennahe Lachsfarmen die ganze Industrie in ein schlechtes Licht gerückt hat. Viele Skeptiker würden noch nicht akzeptieren, dass die Betreiber von Lachsfirmen dazugelernt hätten. Sie produzierten heute zehnmal so viel Fisch wie vor 20 Jahren, würden das Wasser viel weniger verunreinigen. Er selber probiert vor Vancouver Island etwas aus, das noch weniger Schäden anrichtet.

Die Anregung dazu hat er aus dem alten China. Dort betrieben Bauern schon vor mehr als tausend Jahren eine raffinierte Mischkultur mit Karpfen, Schweinen, Enten und Gemüse. Mit den Exkrementen von Enten und Schweinen düngten sie in den Teichen die Algen, die von den Karpfen abgeweidet wurden. Später setzten sie die Karpfen in die überfluteten Reisfelder, wo die Fische sowohl Schadinsekten als auch Unkraut vertilgten und den Reis düngten, bevor sie selber von den Menschen verzehrt wurden. Eine solche Mischkultur mit Karpfen in Reisfeldern wurde zur Grundlage der traditionellen Ernährung mit Fisch und Reis, die Millionen Chinesen jahrhundertelang ernährte. Noch heute wird sie auf mehr als drei Millionen Hektar Reisfeldern praktiziert.

In einem Fjord an der Küste von British Columbia hat Cross seine eigene Mischkultur aufgebaut. Statt Karpfen hält er dort Kohlenfische, im Handel auch Black Cod genannt. Diese Bewohner des Nordpazifiks können 1,20 Meter lang und 50 Kilo schwer werden. In Strömungsrichtung, ein Stück von ihren Käfigen entfernt, hat er Körbe mit Kammmuscheln, Jakobsmuscheln und Austern aufgehängt, die sich von den Ausscheidungen der Fische ernähren. Neben den Körben lässt er lange Reihen von Zuckertang wachsen. Das ist eine Braunalge, die für Suppen und Sushi, aber auch zur Herstellung von Bioethanol verwendet wird. Die Algen filtern das Wasser noch weiter und verwandeln nahezu die gesamten restlichen Nitrate und den Phosphor in Biomasse um. Am Meeresboden, 25 Meter unter den Fischkäfigen, fressen See- gurken – die in China und Japan als Delikatesse gelten – die schwereren organischen Abfälle auf, die hier herabsinken. Abgesehen von den Kohlenfischen, sagt Cross, könnte man sein System in alle bestehenden Fischfarmen integrieren. Es würde als riesiger Wasserfilter dienen, der zusätzliche Lebensmittel – und damit zusätzlichen Gewinn – produziert.

«Ohne Aussicht auf Profit würde niemand eine Fischfarm betreiben», sagt er bei einem Teller mit gedünstetem Kohlenfisch und Jakobsmuscheln, so groß wie Kekse. «Aber man kann nicht nur auf Masse setzen. Wir brauchen auch Qualität, Vielfalt und Nachhaltigkeit.»

Auf der gegenüberliegenden Seite des Kontinents, vor Rhode Island, betreibt Perry Raso keine Misch-, sondern eine Monokultur. Er aber füttert seine Meerestiere überhaupt nicht – und er besitzt zwölf Millionen davon. Raso züchtet Austern. Er gehört zu einer neuen Generation von Züchtern, die auch von kritischen Beobachtern der Aquakultur gelobt wird, zum Beispiel vom neuen Aquaculture Stewardship Council. Der ASC hat kürzlich erstmals auch Kriterien für umweltgerecht gezüchtete Schalentiere veröffentlicht. Ein Schlüssel zur Nachhaltigkeit sei, dass wir Menschen beginnen, unsere Lebensmittel weiter unten in der Nahrungskette zu gewinnen. Denn mit jeder Stufe aufwärts – vom Filtrierer zum Pflanzenfresser, zum kleinen Fleischfresser bis zum großen Räuber oder zum Menschen – geht Energie verloren. Muscheln stehen ganz weit unten, sie filtern Nährstoffe direkt aus dem Wasser. Muschelfarmen reinigen deshalb das Wasser von übermäßigen Nährstoffen und produzieren gleichzeitig gesunde Nahrung.

Raso hat Aquakultur und Fischereiwesen studiert und die Farm schon kurz vor seinem Abschluss gegründet. Wenig später verkaufte er seine Austern auf Bauernmärkten. «Anfangs habe ich mich schon gefragt: Was machst du hier zwischen diesen ganzen Ökofritzen?», erzählt er. «Aber dann habe ich nicht nur gut verdient, sondern auch selber begonnen, regionale Produkte zu essen. Und wissen Sie was? Das Zeug ist gut.»

Heute bedient Raso im Sommer in der Matunuck Oyster Bar jeden Tag 800 Kunden. Die Universität von Rhode Island hat ihn schon als Dozent nach Afrika geschickt. Dort ist Aquakultur neuerdings groß im Kommen, nicht zuletzt, weil die Menschen dringend preisgünstiges, gesundes Protein brauchen.

Ein paar hundert Kilometer weiter nördlich, im klaren Wasser vor der Küste von Maine, sind Paul Dobbins und Tollef Olson die Nahrungskette noch eine Stufe weiter hinabgestiegen. 2009 richteten sie die erste kommerzielle Algenfarm der USA ein. Sie ernten drei Arten, die selbst im Winter bis zu 13 Zentimeter pro Tag wachsen, und verkaufen sie als nahrhaften Blatt- und Krautsalat oder als Algennudeln an Restaurants, Schulen und Krankenhäuser. Ihr Vorbild ist Asien. Dort setzt die Algenzuchtbranche pro Jahr fünf Milliarden Dollar um.

«Wir nennen den Tang „Tugendgemüse“», sagt Dobbins, «denn wir stellen ein wertvolles Lebensmittel her, ohne dass wir Ackerland, Süßwasser, Düngemittel oder Pestizide brauchen. Gleichzeitig tragen wir dazu bei, den Ozean zu reinigen. Wir sind überzeugt, könnte das Meer reden, es wäre damit einverstanden.»

(NG, Heft 6 / 2014, Seite(n) 66 bis 87)

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