Gehörten uralte Steinwerkzeuge mysteriösem Cousin des Menschen?

Hunderttausende Jahren vor der Ankunft des modernen Menschen auf den Philippinen zerlegte dort jemand ein Nashorn – aber wer?

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 4. Mai 2018, 06:00 MESZ
Forscher entdeckten auf der Philippinen-Insel Luzon eine etwa 700.000 Jahre alte Stätte, an der unbekannte Hominini ...
Forscher entdeckten auf der Philippinen-Insel Luzon eine etwa 700.000 Jahre alte Stätte, an der unbekannte Hominini ein Nashorn geschlachtet hatten. Um die Knochen nicht zu beschädigen, grub das Team sie nur mit Bambusstäbchen aus.
Foto von Thomas Ingicco

Auf den Philippinen entdeckte Steinwerkzeuge gehen auf eine Zeit weit vor der Ankunft moderner Menschen auf den Inseln zurück – und die Forscher wissen nicht, von wem sie stammen.

Die eindrucksvollen Artefakte, die vor Kurzem in „Nature“ vorgestellt wurden, wurden auf einer Ebene auf der Insel Luzon neben dem ausgeweideten Kadaver eines Nashorns gefunden. Die alten Werkzeugmacher hatten es eindeutig auf Fleisch abgesehen. Zwei der Beinknochen des Tieres wurden eingeschlagen, als hätte jemand versucht, an das Mark im Inneren zu gelangen. Schnittspuren von Steinklingen, die kreuz und quer über den Rippen und Fußgelenken des Tieres verlaufen, sind ein deutliches Anzeichen dafür, dass jemand Werkzeuge genutzt hat, um das Fleisch vom Kadaver zu entfernen.

Was diesen Fund aber so besonders macht, ist das Alter der Tierknochen: Sie wurden auf 631.000 bis 777.000 Jahre datiert, wobei die Forscher ein Alter von 709.000 Jahren für am wahrscheinlichsten halten. Die Forschung, die in Teilen von der National Geographic Society finanziert wurde, datiert die Besiedlung der Philippinen auf eine Zeit vor der bekannten Entstehung des Homo sapiens zurück. Zuvor war der älteste Beleg philippinischer Hominini ein 67.000 Jahre alter Fußknöchel aus der Callao-Höhle auf Luzon.

„Es war sehr überraschend, eine so alte Besiedlung der Philippinen zu entdecken“, sagt der Hauptautor der Studie, Thomas Ingicco. Er arbeitet für das staatliche französische Naturkundemuseum als Archäologe. Obwohl die Forscher nicht wissen, welcher unserer archaischen Cousins das Nashorn geschlachtet hat, wird der Fund wohl großes Aufsehen unter den Forschern erregen, die sich mit der Geschichte der Menschheit im Südpazifik beschäftigen. Mitunter ist auch noch gar nicht geklärt, wie die frühen Hominini überhaupt auf die Philippinen gelangten.

„Ich finde das ziemlich spektakulär“, sagt Michael Petraglia, ein Paläoanthropologe vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, der an der Studie nicht beteiligt war. „Es gab zwar Behauptungen, dass es an Orten wie den Philippinen frühe Hominini gegeben hat, aber bis jetzt gab es dafür keine guten Beweise.“

VERLÄSSLICHE DATIERUNG

Mehrere der bewohnbaren Inseln im Südpazifik sind seit langer Zeit von offenem Meer umgeben und daher recht isoliert. Aus diesem Grund nahm man an, dass die alten Verwandten des Menschen nur dort hingelangen konnten, wenn sie wussten, wie man segelt.

Aber wie man so schön sagt: Das Leben findet einen Weg. 2004 präsentierten Forscher den Homo floresiensis, der Hunderttausende von Jahren lang auf der abgelegenen Insel Flores lebte. 2016 fanden Forscher außerdem Steinwerkzeuge auf Sulawesi, einer Insel nördlich von Flores. National Geographic berichtete damals, dass die Werkzeuge von Sulawesi mindestens 118.000 Jahre alt seien – und damit etwa 60.000 Jahre vor der Ankunft der anatomisch modernen Menschen dort entstanden.

„Das ist wirklich sehr aufregend. Es wird immer deutlicher, dass alte Hominini in der Lage waren, beträchtliche Strecken über das offene Meer zurückzulegen“, sagt Adam Brumm. Der Paläoanthropologe der Griffith University erforscht H. floresiensis.

Auf der Suche nach ähnlichen Stätten begaben sich Ingicco und der niederländische Biologe John de Vos nach Kalinga, einer Stätte im Norden Luzons, die für alte Knochenfunde bekannt ist. Forscher hatten dort schon seit den 1950ern Tierknochen und Steinwerkzeuge gefunden, konnten diese verstreuten Überreste jedoch nicht datieren. Um nachzuweisen, dass Hominini bei Kalinga lebten, mussten de Vos und Ingicco Artefakte finden, die noch im Erdreich vergraben waren.

2014 machte das Team dann eine Testgrabung in Kalinga. Fast sofort stießen sie auf die Knochen einer seit Langem ausgestorbenen Nashornart. Schon bald hatte sie das komplette Skelett freigelegt – inklusive der Steinwerkzeuge, die von den Personen zurückgelassen wurden, die das Nashorn geschlachtet hatten.

Um die Grabungsartefakte datieren zu können, untersuchte das Team das umliegende Sediment und die Zähne des Nashorns. So ließ sich feststellen, wie viel Strahlung sie im Laufe der Zeit auf natürlichem Weg absorbiert hatten. Zusätzlich maßen sie den natürlichen Urangehalt von einem der Zähne, da sich dieses Element mit einer zuverlässigen Zerfallsrate zu Thorium umwandelt. Im Erdreich rund um die Nashornknochen fanden sie außerdem ein Stück geschmolzenes Glas von einem Asteroideneinschlag, der sich vor etwa 781.000 Jahren ereignete.

„Heutzutage ist es notwendig, verschiedene Datierungsmethoden anzuwenden, um den Zeitraum einzugrenzen, da es in der Vergangenheit so viele unzuverlässige Datierungen gab“, sagt der Co-Autor der Studie, Gerrit van den Bergh. Der Sedimentologe arbeitet an der Universität von Wollongong.

DIE UNÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN

Auf der Liste der möglichen Werkzeugmacher steht unter anderem der Denisova-Mensch, ein postuliertes Hominini-Geschlecht, das bisher nur durch DNA-Analysen und eine Handvoll sibirischer Knochenfunde belegt ist. Der Hauptverdächtige ist jedoch die frühe Hominini-Gattung Homo erectus, die nachweislich bis nach Südostasien vorgedrungen ist. Auf der indonesischen Insel fand man H.-erectus-Fossilien, die über 700.000 Jahre alt sind.

Ingiccos Team vermutet, dass die Nashornjäger die Luzoner Version von H. floresiensis gewesen sein könnten, der wiederum aus einer Population von H. erectus entstand, die es nach Flores verschlagen hatte. Im Laufe von Jahrtausenden könnten sich die dortigen Vertreter des H. erectus effektiv an ein Leben auf einer Insel ohne Raubtiere angepasst haben und geschrumpft sein.

2010 entdeckte ein Team unter der Leitung des Archäologen Armand Mijares von der University of Philippines Diliman den Fußknöchel in der Callao-Höhle. Dieser weist sowohl mit Knochen moderner Menschen als auch mit Knochen von H. floresiensis Gemeinsamkeiten auf. War dieser Hominini-Vertreter von Luzon also ein hausgemachter Hobbit, der von einer H.-erectus-Population abstammte, die dort Hunderttausende Jahre zuvor gestrandet war? Noch ist es zu früh, um das mit Sicherheit sagen zu können.

„Wir haben für 600.000 Jahre der Urgeschichte keinerlei Informationen, das ist also nur eine Vermutung“, sagt Petraglia.

OPFER DES WETTERS?

Wer auch immer sie waren, die Vorfahren der Werkzeugmacher könnten Ingiccos Team zufolge eine von zwei Migrationsrouten zu den Philippinen genommen haben: eine West-Ost-Route von Borneo oder Palawan oder eine Nord-Süd-Route von China oder Taiwan. Allerdings bleibt die Frage offen, wie genau diese Hominini das offene Meer überquert haben.

Die Vorstellung, dass unsere ausgestorbenen Cousins rudimentäre Boote benutzten, ist verlockend: Als 2010 die Nachricht von dem Fund in der Callao-Höhle die Runde machte, führten einige Experten ihn sogleich auf alte Seefahrer zurück. Aber derzeit gilt diese Idee noch als weit hergeholt. Schließlich lebten auch Nashörner und elefantenartige Tiere auf Luzon – und die waren sicher nicht per Boot dort hingelangt.

BELIEBT

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    Womöglich hatte es die großen Tiere und die Vorfahren der Nashornjäger zufällig nach Luzon verschlagen – auf schwimmenden Massen aus Erdreich und Wasserpflanzen, die durch gewaltige Stürme von den Küsten abbrachen. Auch Tsunamis könnten einige Vertreter des H. erectus auf das offene Meer gespült haben. Womöglich hielten sie sich an schwimmendem Gehölz fest, welches ihr Schicksal teilte, und gelangten so auf eine fremde Insel.

    „Die Ausbreitung des H. erectus über das Wasser war ein Versehen – da gab es kein ‚Manifest Destiny‘, keinen großen Plan“, sagt Russel Ciochon, ein Paläoanthropologe der Universität von Iowa in Iowa City.

    Außerdem gibt es offene Fragen darüber, ob die Nachfahren dieser frühen Hominini auf die ersten modernen Menschen trafen, die Luzon erreichten – und falls dem so war, wie die Begegnung verlief. „Begegnete unsere Art diesen Wesen von Angesicht zu Angesicht? Wie sah dieser Kontakt aus?“, fragt sich Brumm.

    Diese und andere Fragen warten noch auf eine Antwort. Die Wissenschaftler sagen allerdings, dass die Erforschung der Menschheitsgeschichte auf Luzon und im Südpazifik insgesamt gerade erst beginnt.

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