Unsichtbares enthüllt: Wie die Fotografie Verborgenes ans Licht bringt

Die Fotografie zeigt Details, die das menschliche Auge nicht erfasst. So lehrt sie uns, die Welt neu zu sehen.

Von Anand Varma
Veröffentlicht am 3. Jan. 2024, 12:08 MEZ
Bild einer lumineszierenden Qualle

Die Fotografie zeigt Details, die das menschliche Auge nicht erfasst. So lehrt sie uns, die Welt neu zu sehen.

Foto von ArtTower

Als Kind träumte ich davon, Meeresbiologe zu werden und mein Leben am Meer zu verbringen. Ich war 20, als ich den Fotografen David Liittschwager kennenlernte, der mich als Assistent für einen NatGeo-Auftrag über das marine Leben buchte. Wir verbrachten zehn Tage vor der hawaiianischen Kona-Küste an Bord eines Forschungsschiffs. David hatte den Auftrag, die Artenvielfalt an der Meeresoberfläche zu dokumentieren. Ich musste die Exemplare einsammeln, die er dann fotografierte. Abend für Abend warf ich nach Einbruch der Dunkelheit eine schwimmende Lampe an der Back - bordseite des Schiffes aus. Dann tauchten sie auf, die geheimnisvollen Kreaturen, vom Licht ange - zogen wie Motten: winzige durchsichtige Krebse, glitzernde Babyaale und Tintenfische. Sorgfältig wählte ich Vertreter jeder Art aus, die dann in von mit vorbereiteten Aquarien darauf warteten, von David fotografiert zu werden.

​Augenblicke im Wasser: Die Faszination der unsichtbaren Meeresbewohner

An diesen Abenden an Bord klebten meine Augen förmlich an den Wasserbecken, wie gebannt von den fremdartigen Wesen, die ich selbst gesammelt hatte. Ihre wahre Magie erschloss sich mir jedoch erst, als ich die Fotos sah, die David von den Kreaturen gemacht hatte. Die größte Überraschung war sein Foto einer Babyflunder. Ich hatte diesen Fisch eher zufällig gefangen, auf der Jagd nach einem spektakuläreren Ziel. Erst als ich den Inhalt meines Sammelbehälters untersuchte, bemerkte ich die beiden winzigen Augäpfel, die mich anzublicken schienen. Das einzige andere für mich erkennbare Merkmal war der schwach zappelnde Umriss eines transparenten Körpers Doch erst Davids Foto dieser Flunder enthüllte ein Universum an Details, das mir zunächst entgangen war. Sein Makroobjektiv vergrößerte die fein gegliederten Gräten. Die blitzschnelle Belichtung hatte die Bewegung des Tieres in einem scharfen Bild eingefroren.

Das präzise ausgerichtete Licht zeigte die in der Haut verborgenen Regenbogenfarben. Und der schwarze Hintergrund eliminierte jegliche Ablenkung – all unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf die filigrane Schönheit. Viele Jahre nach Abschluss des Projekts schnorchelte ich eines Nachts an einem flachen Riff in Französisch-Polynesien, als aus der Dunkelheit eine Babyflunder auftauchte und sich auf meine Maske setzte. Diesmal wusste ich, wonach ich suchen musste. Ich richtete meine Lampe auf den kleinen Fisch – und sah die schimmernden Farben und die zarten Gräten, die mir einst Davids Bild enthüllt hatte. Vor meiner Arbeit für David war ich davon ausgegangen, dass das Ziel der Fotografie darin besteht, eine Beobachtung wiederzugeben, damit andere sie teilen können. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass die Fotografie unsere visuelle Wahrnehmung erweitern und uns dadurch lehren könnte, die Welt neu zu sehen.

​Die Macht der Perspektive: Wie Fotografie unsere Wahrnehmung verändert

Größe, Zeit, Licht, Fokus: Diese Kriterien haben mein Verständnis für die kleine Flunder erweitert. Diese Werkzeuge gibt uns die Fotografie an die Hand, um die unsichtbaren Wunder der Welt zu enthüllen. Nehmen wir die Größe. Als die NATIONAL GEOGRAPHIC-Redaktion fragte, ob ich eine Geschichte über Honigbienen fotografieren könnte, war ich nicht begeistert. Die winzigen Bestäuber hatten schon so viel mediale Aufmerksamkeit erfahren, dass ich nicht wusste, wie ich etwas Neues beitragen könnte. Doch wie hätte ich als junger Fotograf ablehnen können?

Ich täuschte Begeisterung vor und erhielt einen Auftrag, von dem ich keine Ahnung hatte, wie ich ihn ausführen sollte. Ich begann, Bienen zu halten in der Hoffnung, eine neue Möglichkeit zu finden, ihre Lebensweise zu porträtieren. Eines Tages bemerkte ich, dass sich eine junge Biene beim Verlassen des Stocks verfangen hatte. So konnte ich mit der Kamera ganz nah herangehen und Merkmale des Kopfes einfangen, die ich vorher nicht bemerkt hatte – die gegliederten Fühler, das pelzige Gesicht. Ein Jahr lang hatte ich mich bereits um meinen Bienenstock gekümmert, doch bis zu diesem Moment hatte ich noch nie eine Biene auf diese Weise wahrgenommen. Sobald wir uns Auge in Auge gegenüberstanden, warf die Nähe Fragen auf: Wie nimmt dieses Lebewesen seine Umgebung wahr? Wie sehe ich für die Biene aus? Warum die vielen Haare? Wir neigen dazu, uns mit Lebewesen unserer eigenen Größe zu identifizieren – oder wenigstens mit Kreaturen, die wir mit bloßem Auge sehen können. Wenn die Fotografie ein Objekt vergrößert, kann sie diese Barriere durchbrechen. Es eröffnen sich völlig neue Perspektiven.

Das NATIONAL GEOGRAPHIC Magazin 12/23 ist seit dem 23. November erhältlich.

Foto von National Geographic

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