Endlich gefunden!

Steve McCurry hat das afghanische Mädchen Mitte der achtziger Jahre im pakistanischen Flüchtlingslager Nasir Bagh fotografiert. Das Bild war 1985 auf dem Titel von NATIONAL GEOGRAPHIC und wurde zum Symbol für die Leiden des afghanischen Volks.

Von Bernard Ohanian
bilder von Steve McCurry

Steve McCurry hat das afghanische Mädchen Mitte der achtziger Jahre im pakistanischen Flüchtlingslager Nasir Bagh fotografiert. Das Bild war 1985 auf dem Titel von NATIONAL GEOGRAPHIC und wurde zum Symbol für die Leiden des afghanischen Volks. In einem Gespräch mit Bernard Ohanian, Associate Editor von NATIONAL GEOGRAPHIC in den USA, beschreibt McCurry seine lange Suche nach Sharbat Gula - und wie er und sein Team die inzwischen etwa 30-Jährige fanden.

Foto von Steve McCurry

NATIONAL GEOGRAPHIC (NG): Dies war nicht Ihr erster Versuch, das "afghanische Mädchen" zu finden, oder?

McCurry: Ich hatte das schon mehrfach versucht. Seit das Bild auf der Titelseite von NATIONAL GEOGRAPHIC war, bin ich so ungefähr zehnmal vor Ort gewesen (siehe Foto oben: Steve McCurry in Afghanistan, 1992). Leute haben mich angerufen, mir E-Mails geschickt und Briefe geschrieben. Es gab alle möglichen Gerüchte über sie und darüber, wie es ihr ergangen sein soll. Eine Version war, dass sie an einer Lungenkrankheit gestorben sei. Ich habe nie viel darauf gegeben.

NG: Warum waren Sie diesmal erfolgreich?

McCurry: Wir hatten viel mehr Zeit und Mittel zur Verfügung. Und uns standen Glück und Zufälle bei. Sie befand sich ja buchstäblich vor unserer Nase, aber wir konnten sie nicht finden, weil sie unter der Burka versteckt war. Außerdem gibt es kein vernünftiges Telefon-, Post-, E-Mail-Netz. Alles funktioniert nur von Mund zu Mund. Und das dauert.

NG: Diesmal sind Sie ja speziell hingefahren, nur um sie zu suchen.

McCurry: Das stimmt. Ich hielt die Chancen für minimal. Wie bei einem Lotteriespiel. Aber das Flüchtlingslager, in dem ich sie 1984 fotografiert habe, sollte verlegt werden, um Platz für ein großes Wohnprojekt zu schaffen. Ich wusste, dass dies unsere letzte Möglichkeit war.

NG: Eine Lehrerin bot ihre Hilfe an...

McCurry: Wir sind mit ihr ins Lager gegangen, wo wir mit einigen Ältesten gesprochen haben. Dass sie bei uns war, hat unsere Zuversicht gestärkt. Durch sie haben wir eine junge Frau kennen gelernt. Sie war dann zwar doch nicht das "Mädchen", das ich 1984 fotografiert hatte, aber wir haben Hoffnung geschöpft.

NG: Das war wohl die Frau namens Alam Bibi?

McCurry: Ja.

NG: Wenn Sie von "wir" sprechen: Wer war denn zu dem Zeitpunkt bei Ihnen?

McCurry: Ein pakistanischer Dolmetscher und ein Fernsehteam von NATIONAL GEOGRAPHIC.

NG: Alam Bibi erwies sich aus verschiedenen Gründen nicht als die Richtige...

McCurry: In dem Moment, als ich sie aus der Nähe sah, war mir sofort klar, dass sie es nicht sein konnte. Es gab zwar eine Menge Ähnlichkeiten, aber die Augen waren völlig anders. Und auch andere Sachen passten nicht.

NG: Es war eine Geschichte im Umlauf, die der Londoner Observer und Le Monde aufgriffen: Alam Bibi sei nicht nur das "afghanische Mädchen", sondern sie gebe auch Bin Ladens Tochter Englischunterricht, und die CIA suche nach ihr. Aus welcher Quelle kam das Ihrer Meinung nach?

McCurry: Natürlich hat jemand nach dem "Mädchen" gesucht, nämlich ich. Der Urheber dieser Geschichte hat den Rest wohl einfach dazu gedichtet.

NG: Bald danach haben Sie Sharbat gefunden, die sich schließlich als die Richtige herausstellte. Wegen ihrer Religion durfte sie Sie, also einen Mann, der nicht zu ihrer Familie gehört, eigentlich nicht anschauen, anlächeln oder irgendeine Gefühlsregung zeigen. Dieses Bild war aber so sehr ein Teil Ihres Lebens. Was empfanden Sie?

McCurry: Ich glaube, ich habe noch nie etwas mit so viel Hoffnung und Aufregung erwartet. Das Foto und das Mädchen waren ja Teil meines fotografischen Werks geworden. Da ich nicht wusste, was mit ihr geschehen war, fühlte ich mich unglaublich erleichtert, als ich erfuhr, dass sie überlebt hat. Und dass es ihr unter den gegebenen Umständen sogar recht gut geht.

NG: Die erste Reaktion in solchen Momenten ist doch, zu dem Menschen zu gehen und ihn ganz fest in die Arme zu nehmen. Natürlich konnten Sie das nicht. Es muss sonderbar sein, wenn man voll von diesen Gefühlen ist und sie nicht richtig ausdrücken darf.

McCurry: Allein dass sie einverstanden war, jemanden außerhalb ihrer unmittelbaren Familie zu treffen - einen Mann, der nicht ihr Bruder, Ehemann oder Vater ist -, das ist schon von größter Bedeutung. Dass sie mich überhaupt traf, ist nahezu unglaublich.

NG: Stimmt es, dass das Originalfoto von 1984 nicht einmal in der letzten Fotoauswahl war, die Bill Garrett, dem damaligen Chefredakteur der Zeitschrift, vorgelegt wurde?

McCurry: Bei NATIONAL GEOGRAPHIC stellen wir immer ein Diamagazin zusammen, und das wird dann dem Chefredakteur gezeigt. Wir hatten zwei Versionen: ein Magazin mit dem Foto, das schließlich auf die Titelseite kam und berühmt wurde, und ein anderes mit dem Foto, auf dem ihre Hände in einer Art scheuer Geste Mund und Nase bedecken.

NG: Sie meinen das Foto in der April-Ausgabe 2002?

McCurry: Ja.

NG: Offenbar war es Bill Garrett sofort klar, dass das Mädchen auf den Titel musste.

McCurry: Absolut. Er sagte: "Das ist unser Titel." Ich glaube, er spürte, in welchem Maße sich all ihre Gefühle in ihren Augen ausdrückten: Sie war ein Flüchtling, sie hatte diese äußerst traumatischen Erfahrungen gemacht, ihr Dorf war bombardiert und ihre Eltern getötet worden, sie lebte in einem fremden Land und in einer unerträglichen Situation. In ihren Augen lag das Leid der größten Flüchtlingsbevölkerung der Welt zu jenem Zeitpunkt. Ihr Blick traf einen mitten ins Herz.

NG: Gibt es Ihres Wissens noch irgendwelche anderen Fotos von ihr aus dieser Serie, die je veröffentlicht wurden?

McCurry: Ich hatte in dieser Schule nicht viel Zeit. Was man jetzt im Heft sieht, ist so ungefähr alles, was es gibt.

NG: Soviel ich weiß, gab es einen bestimmten Grund dafür, dass sie in das Schulzelt der Mädchen gingen. Ihnen war klar geworden, dass Ihre Berichterstattung zu "männerlastig" war.

McCurry: Das stimmt. Ich kann gar nicht genug betonen, wie schwierig, ja, wie unmöglich es in dieser Kultur ist, Frauen zu fotografieren. Ich dachte damals, dass ich doch nicht mit einer Geschichte nur über Männer zurückkommen kann. Ich musste ja auch ein Gefühl für die weibliche Bevölkerung vermitteln. Also bin ich in Schulen gegangen.

NG: Wie wird das alles Sharbats weiteres Leben beeinflussen?

McCurry: Wenn man behutsam vorgeht, mit einem gewissen Einfühlungsvermögen für die kulturellen Unterschiede, kann sich ihr Leben ein wenig verbessern. Ich empfinde eine sehr spezielle Verbindung zu ihr, und die National Geographic Society hat einige Schritte unternommen, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Behörden vor Ort, Flüchtlingsexperten und ihre Familie haben uns aber gebeten, nicht zu viele Einzelheiten preiszugeben.

NG: Es gibt einen Hilfsfonds, den NATIONAL GEOGRAPHIC Afghan Girls Fund. Haben Sie eine Rolle dabei gespielt?

McCurry: Ich hab den ersten Scheck ausgestellt. Ich bin Sharbat und ihrem Ehemann begegnet und weiß, welchen Stellenwert die Ausbildung für die beiden und die afghanischen Flüchtlinge im Allgemeinen hat.

NG: Glauben Sie, dass Sie sie wiedersehen werden?

McCurry: Ganz gewiss. Ich bin häufig in Südasien und habe fest vor, auf dem Laufenden zu bleiben und zu verfolgen, wie ihr Leben weiter verläuft.

Mehr über "Das afghanische Mädchen": Was mit dem afghanischen Flüchtlingsmädchen wirklich geschah, lesen Sie in der April-Ausgabe 2002 von NATIONAL GEOGRAPHIC DEUTSCHLAND im ausführlichen Beitrag 17 Jahre danach .

Sharbat Gula ist ein Symbol für das Leid einer ganzen Generation von afghanischen Frauen und Kindern geworden. Aus diesem Grund hat die National Geographic Society beschlossen, einen Sonderfonds ins Leben zu rufen, mit dessen Hilfe Bildungsprogramme für junge afghanische Frauen und Mädchen entwickelt und durchgeführt werden sollen. Zu diesem Zweck wird die National Geographic Society mit sorgfältig ausgewählten gemeinnützigen Organisationen und örtlichen Behörden zusammenarbeiten. Einzahlungen in den "Afghan Girls Fund" von NATIONAL GEOGRAPHIC sind online oder durch die Zusendung eines Schecks an die folgende Adresse möglich:

NATIONAL GEOGRAPHIC Afghan Girls Fund
Development Office
National Geographic Society
1145 17th Street NW
Washington, D.C., 20036

(NG, Heft 4 / 2002)

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