„Ich bin ein verkappter Rockstar“

Der deutsche Fotograf Gerd Ludwig über die Kraft eines guten Bildes und seine Arbeit für dieses Magazin.

Von Florian Gless
bilder von Axel Pries
Foto von Axel Pries

Der deutsche Fotograf Gerd Ludwig über die Kraft eines guten Bildes und die Arbeit für NATIONAL GEOGRAPHIC.

Wenn man, so wie Sie, Geschichten erzählen und damit berühren will, muss man den Menschen nahe kommen. Wie gelingt das?
Entscheidend ist, dass ich mir mehr Zeit neh­me, als es heute üblich ist. NATIONAL GEOGRA­PHIC ist eines der letzten Magazine weltweit, das mir ermöglicht, so lange vor Ort zu blei­ben, bis ich meine Bilder zusammenhabe. Das können Wochen, manchmal Monate sein. Ich fange ja nicht sofort an zu fotografieren, son­dern beobachte. Ich höre zu und teile auch etwas von mir mit, denn ich möchte, dass die Menschen mich in ihr Leben aufnehmen. Also muss ich ihnen etwas geben. Ich öffne mich, auch um sie anzuregen, sich selbst zu öffnen.

Sie müssen das Vertrauen gewinnen.
Ja. Deshalb bin ich auch erst mal als Mensch da, und nicht gleich als Fotograf.

Wie gehen Sie auf die Menschen zu?
Der erste Kontakt erfolgt meist über Personen, die das Vertrauen derer genießen, die ich fotografieren möchte. Das können Landärzte sein, Mitarbeiter von Suppenküchen oder auch mal ein Geistlicher. Mit denen fahre ich rum. Wenn ich dann einen bestimmten Men­schen treffe, der für mich verkörpert, was allgemein symbolhaft in der jeweiligen Gesell­schaft passiert, kann ich mich ganz leicht abkoppeln und sagen: Okay, ich bleibe jetzt mal hier und unterhalte mich mit demjenigen, dessen Schicksal und Aussehen und Lebens­umstände mich interessieren.

Sie haben sehr viel im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gearbeitet, Ihre Fotos aus Tschernobyl sind um die Welt gegangen – die jüngsten drucken wir aktuellen Ausgabe. Ist Ihr Russisch gut genug, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen?
Ich spreche sehr, sehr wenig Russisch, aber seit meiner ersten Reise für NATIONAL GEOGRA­PHIC, 1990, arbeite ich immer mit demselben Dolmetscher, Maxim Kusnetzow, der simultan übersetzt. Maxim ist mein Freund geworden. Und mein Sprachrohr.

NATIONAL GEOGRAPHIC ist eines der wenigen Magazine, das Fotograf und Reporter getrennt losschickt.
Ja, das ist für deutsche Redaktionen ein un­gewöhnlicher Ansatz. Wir Fotografen können die jeweilige Geschichte auf unsere Art, mit dem Bild, erzählen, das ist einzigartig! Wissen Sie: Jemand mag eine wunderbare Lebens­geschichte haben, er mag wunderbar erzählen können – aber seine Lebensumstände, seine Persönlichkeit, sein Aussehen, sein Gesichts­ausdruck vermitteln nicht dieselbe Geschichte. Und außerdem: Ein Autor muss nicht mit mir drei Tage lang auf einem Berg sitzen, um auf das richtige Licht zu warten.

Wie arbeiten Sie dann überhaupt mit dem Reporter zusammen?
Es gibt bei jeder Geschichte für NATIONAL GEOGRAPHIC am Anfang eine große Story­-Konferenz. Früher sind wir Fotografen dafür nach Washington geflogen, heute geht das via Skype. Da sitzen etwa zehn Leute zusammen, die Chefredaktion, der betreuende Redakteur, der Bildredakteur, der Kartograf, der Autor, der Fotograf und so weiter, und man diskutiert: Was erzählt diese Geschichte? Wo grenzen wir sie ab? Auf was können wir verzichten, um einen Overkill zu vermeiden? Auf was konzentrieren wir uns? So entwickeln wir eine Parallelität zwischen Fotografie und Text. Und so vermeiden wir Belegfotos, die nur abbilden, was eh schon im Text steht. Wir erzählen zwei Geschichten, die ineinander verwoben sind.

Funktioniert das immer?
Es ist komplex. Das ist einer der Gründe, warum NATIONAL GEOGRAPHIC-Fotografen selten sehr jung sind. Man muss schon große Erfahrung mitbringen.

Gibt es Themen, bei denen Sie abwinken und sagen: Das kann ich nicht liefern?
Das würde ich nie so ausdrücken. Ich würde fragen, ob es einen anderen Ansatz gibt. Aber einfach abzublocken, das wäre eine sehr deutsche Art.

Der historische Hintergrund der Aus­einandersetzung zwischen Russland und der Ukraine – können Sie den fotogra­fieren?
Da muss man halt drüber nachdenken. Ich würde eine Doppelseite machen, mit acht kleinen Bildern von Familien, von denen der eine Teil russisch und der andere ukrainisch ist zum Beispiel. Wir müssen heute mehr denn je die ausgetrampelten Pfade verlassen. Wenn ich den nuklearen Tourismus in Tschernobyl fotografiere, darf ich nicht nur die Touristen zeigen. Sondern ich muss auch das Ergebnis dieses Tourismus zeigen. Also nicht nur, dass diese Menschen da sind, sondern auch, was sie dort angestellt haben.

Sie meinen Bilder wie das Stillleben mit der Puppe auf dem Stuhl?
Ja. Die die dort drapiert haben. Wo ich mich frage: Wie kommt das hier zustande? Warum stimmt hier etwas nicht?

Sie waren neunmal in Tschernobyl, planen jetzt die zehnte Reise. Derzeit herrscht Krieg in der Ukraine, wie gehen Sie damit um?
Das ist sehr konkret, denn es ist ganz schwierig mit meinem russischen Assistenten und meinem Dolmetscher. Für erwachsene Männer mit einem russischen Pass ist es derzeit extrem problematisch, in der Ukraine zu reisen. Hinzu kommt die politische Dimension: Es wird ja im Moment das New Safe Confine­ment gebaut, ein neuer Sarkophag, der über die Trümmer des Reaktors geschoben werden soll. Der wird von knapp 30 Gebernationen finanziert, darunter auch Russland. Diese Konstruktion sollte schon vor acht Jahren fer­tig sein, die erste war ja nur auf 20 Jahre angelegt. Führt die Situation mit Russland nun dazu, dass dieser Prozess noch weiter verlang­samt wird? Wir dürfen nicht vergessen, dass Tschernobyl noch immer hochgefährlich ist!

Sie haben drei Semester Politik studiert, bevor Sie auf Fotografie umsattelten, aber Sie sind immer ein politischer Mensch geblieben. Beneiden Sie manchmal den Reporter, dass er es leichter hat, Abstraktes einfach in Worte zu fassen?
Natürlich, weil ich dann nur einen Bleistift brauchte! Im Ernst: Ich bewundere Schreiber, die diese Zusammenhänge erfassen können, aber die Vermittlung über das Bild, die funk­tioniert global. Fotografie ist eine globale Sprache, während ein Autor immer seiner eigenen Sprache verhaftet bleibt.

Eigentlich nur vergleichbar mit der Musik.
Ja, viele von uns sind verkappte Rockstars. Ich auch.

Was ist ein gutes Foto?
Ein gutes Foto berührt die Seele und beflügelt den Geist. Meine Fotografie, die Dokumentar­fotografie, ist immer persönlich. Ich kann eine Situation besser sichtbar machen, wenn ich zeige, wie ich als Foto­graf zum Beispiel leide. Oder mich freue. Ob­wohl wir Fotoapparate oft als fast wissenschaftliche Instrumen­te betrachten, werden sie nie die Wirklich­keit darstellen. Denn es gibt nicht nur eine Wirklichkeit, es gibt eine unendliche Zahl von Wirklichkeiten – nämlich so viele, wie es Menschen und Standpunkte gibt. Umso mehr muss ich als Fotograf dem Betrachter meiner Bilder kommunizieren: Das tut weh. Oder: Das macht Freude. Und nicht nur so eine unpersönliche Wirklichkeit wiedergeben.

Erreicht denn ein stilles Foto heute noch die Menschen, in Zeiten von omnipräsenten bewegten Bildern?
Ja, da kommen wir zum Ursprung der Foto­grafie. Ein Foto hat im Kern die Intention, die Zeit festzuhalten. Es entschleunigt. Es hält die Zeit fest. Ein Foto hat die Kraft, einen Moment zu vergegenwärtigen, immer wieder aufs Neue. Ein Foto, das ganz stark entschleunigt, kann zur Ikone der Fotografie werden.

Zum Beispiel?
Eddie Adams’ Foto aus Vietnam.

Die Erschießung auf offener Straße.
Ja, wo sie hinterher festgestellt haben, dass im Moment der Aufnahme die Kugel im Kopf ist. Das ist eine Ikone. Und solche Fotos unter­scheiden sich natürlich kolossal von dem, was heute überall so geknipst wird. Denn das hat nicht mehr die Aufgabe, die Zeit festzuhalten. Aber der Besucher, der im Amsterdamer Rijksmuseum Rembrandts Nachtwache mit dem Smartphone fotografiert, hält doch auch einen Moment fest, der für ihn wichtig ist. Da frage ich mich: Schauen sich die Menschen diese Bilder jemals wieder an? Was passiert mit all den Fotos, die heute gemacht werden? Wie schwer ist das Bild zu machen, das die Welt nicht schon tausendmal gesehen hat? Als ich angefangen habe zu fotografieren, habe ich natürlich immer von dem Bild geträumt, das die Welt verändert. Das Foto von Eddie Adams oder auch das von Nick Út – das nackte vietnamesische Mädchen, das auf ihn zuläuft –, diese Bilder haben den Lauf der Weltgeschichte verändert, die haben mit zum Ende des Vietnamkriegs beigetragen.

Und was ist aus Ihrem Traum geworden?
Das muss ich mit einer Geschichte beantwor­ten: Auf Sizilien werden Tausende Seesterne an Land gespült. Früh am Morgen entdecken die Menschen diese Masse von Seesternen, die am Verenden ist, und die Kinder fangen an, einen nach dem anderen wieder ins Wasser zurückzutragen. Daneben stehen die alten Männer, mit den Händen in den Hosen­taschen, und schauen zu. Und rufen: „Was soll der Unsinn? Das sind Tausende! Das macht doch keinen Unterschied!“ Aber da steht die­ser eine Junge, mit einem Seestern in der Hand, und der dreht sich zu den Alten um und sagt: „Das macht sehr wohl einen Unter­schied. Für diesen einen hier.“ So verstehe ich mich als Fotograf: Ich will immer so bleiben wie die Kinder am Strand. Will meinen klei­nen Beitrag zu einer Veränderung leisten.

Für diesen kleinen Beitrag gehen Sie an Ihre Grenzen. Wie sieht ein Abend aus, nachdem Sie einen ganzen Tag lang unter Lebens­gefahr in Tschernobyl fotografiert haben?
Wenn ich in solchen Situationen bin, gibt es kaum einen Moment der Ruhe. Am Abend müssen die Bilder beschriftet und sortiert werden. Aber ich weiß wohl, was Sie meinen. In Tschernobyl gab es bislang keinen so prä­gnanten Moment, aber ich habe 1993 eine Ge­schichte über die Umweltverschmutzung in der ehemaligen Sowjetunion fotografiert. Da habe ich im Krankenhaus ein Bild von einem abgemagerten Kind mit einem aufgeschwolle­nen Bauch gemacht. Die Situation hat mich so mitgenommen, dass ich den Ärzten gesagt habe: „Moment, ich muss mal ’ne Pause machen.“ Im Ärztezimmer habe ich dann ge­dacht: „Mensch, vielleicht hast du doch noch nicht das stärkste Bild gemacht.“ Als ich aber wieder in das Zimmer wollte, vielleicht eine halbe Stunde später, sagten mir die Ärzte: „Der Körper ist schon in der Leichenhalle.“ Also nicht nur: Da ist ein Mensch gestorben. Sondern: Der ist schon entsorgt. Ich habe dann noch etwas weiterfotografiert, aber als ich aus dem Krankenhaus rauskam und im Taxi saß, bin ich wirklich zusammengebro­chen und habe nur noch geweint.

Die Distanz, die die Kamera schafft, hilft in solchen Situationen kaum.
Nein! Im Gegenteil! Die Kamera darf nie ein Schutzschild sein. Die Kamera ist für mich eher ein Katalysator, der mir durch die Tat­sache, dass ich fotografiere, erlaubt, ein biss­chen besser mit der Situation umzugehen, schneller meine Emotionen abzuspeichern. Aber ich muss erst mal den Schmerz, die Freude, das Mitleid, die Trauer empfunden haben, um sie fotografieren zu können.

Seit mehr als 20 Jahren fotografiert Gerd Ludwig, 67, regelmäßig für NATIO­NAL GEOGRAPHIC. In diesem Jahr erhält er den Dr.-Erich-Salomon-Preis, den wichtigsten deutschen Preis für Fotografie.

(NG, Heft 10 / 2014, Seite(n) 74 bis 77)

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