Störfall in der Todeszone

Knapp 30 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl amüsieren sich Touristen im Sperrgebiet.

Von George Johnson
bilder von Gerd Ludwig
Foto von Gerd Ludwig

Es heißt, dass fünf Sievert radioaktive Strahlung einen Menschen töten. Also war ich neugierig, was mein Dosimeter anzeigen würde, als unser Bus in das Sperrgebiet von Tschernobyl fuhr.

In einem Radius von 30 Kilometern um das ehemalige Atomkraftwerk in der Ukraine erstreckt sich eine menschenleere Wildnis. Der Busfahrer folgte einer Straße durch dichte Birken- und Kiefernwälder. Die Reiseführerin wiederholte Verhaltensregeln: Niemand darf Pilze pflücken! Wer draußen isst oder raucht, riskiert, radioaktive Stoffe einzuatmen! Kurz darauf hielten wir bei einem verlassenen Dorf, und wir bewunderten eine Herde wilder Przewalskipferde.

28 Jahre nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl scheint die Sperrzone ein Paradies für Tiere zu sein: Wisente, Bären, Wölfe, Biber und Falken leben hier. In der Geisterstadt Pripjat haben Adler ihre Horste auf verlassenen Wohnblocks aus der Sowjetzeit gebaut. Die Pferde gehören zu einer gefährdeten Art. Zehn Jahre nach dem Unfall, als man die Strahlung für erträglich hielt, wurden sie in dem Gebiet um Tschernobyl ausgewildert.

Ich schaute auf das Messgerät: 0,19 Mikrosievert pro Stunde, ein Bruchteil von einem Millionstel Sievert, der Maßeinheit für Strahlenbelastung. Kein Grund zur Besorgnis! Die höchsten Werte, die ich bis dahin auf meiner Reise von Chicago in die Ukraine gemessen hatte, waren kurze Ausschläge auf 3,5 Mikrosievert pro Stunde gewesen, als wir in 12.000 Meter Höhe über Grönland flogen und kosmische Strahlung auf das Flugzeug einwirkte. Forscher, die die Katastrophe von Tschernobyl untersuchen, sind sich über die langfristigen Auswirkungen der Strahlung auf Flora und Fauna nicht einig. Im Moment scheinen Wilderer im Sperrgebiet die größere Gefahr für die Tiere zu sein.

Ein paar Minuten später kamen wir im Dorf Salesje an. Von den Mauern leerstehender Häuser blätterte die Farbe ab. Fensterscheiben waren zerbrochen. Risse durchzogen den Asphalt. In einem Haus lag ein Bild von Lenin auf dem Fußboden. In einem Schlafzimmer baumelte eine Kinderpuppe an der Wand. Sie hatte eine Schnur um den Hals – als hätte sie sich erhängt. Wir fanden noch weitere, offenbar von Besuchern arrangierte Schaustücke, die den Horror dieses Ortes symbolisierten: halb angezogene Puppen mit verrenkten Gliedmaßen, Gasmasken, die wie Früchte an Bäumen hingen.

Dann trafen wir zu unserer Überraschung auf eine Frau, die hier wohnte. Rosalia, eingepackt in einen Schal, einen roten Pullover und eine Winterweste, gehört zu den „Samosjoly“, den Rückkehrern ins Katastrophengebiet. Die meisten von ihnen sind störrische alte Leute, die sich nicht davon abhalten lassen, ihren Lebensabend in ihrer Heimat zu verbringen. Rosalia schien sich zu freuen, anderen Menschen zu begegnen. Auf Fragen unserer Reiseführerin erzählte sie von noch härteren und weiter zurückliegenden Zeiten: Das Gebiet um Tschernobyl (ukrainisch: Tschornobyl) liegt in den Pripjetsümpfen, die im Zweiten Weltkrieg Schauplatz blutiger Schlachten waren. „Man kann die Strahlung ja nicht sehen“, sagte sie auf Ukrainisch. Und sie habe ohnehin nicht mehr vor, Kinder zu bekommen. Bevor wir aufbrachen, zeigte sie uns ihre fünf Katzen und ihren Gemüsegarten. Ihr größtes Problem, sagte sie, seien die Kartoffelkäfer.

Als Otto Hahn und Fritz Strassmann 1938 in Berlin erstmals ein Atom spalteten, glaubte die Welt an den bedeutendsten menschlichen Fortschritt seit der Zähmung des Feuers. Die entfesselten Kräfte, bis dahin gebunden im Inneren eines Atomkerns, versprachen eine unerschöpfliche Energiequelle. Zwangsläufig wurde sie zunächst im Krieg eingesetzt, aber nach Hiroshima und Nagasaki begannen große Anstrengungen, billigen Strom zu erzeugen, der die Menschheit aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen befreien sollte.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später ist das Symbol des Atoms mit seinen kreisenden Elektronen kein Zeichen mehr für den Triumph der Technologie, sondern ein Sinnbild des Todes. Doch irgendetwas tief in der menschlichen Seele zieht uns zu den Schauplätzen unvorstellbarer Katastrophen. Jedes Frühjahr strömen Besucher zum White-Sands-Militärgelände im Süden New Mexicos, um den Ort des ersten Atombombentests zu besichtigen. Die monatlichen Besuchertouren zum Nevada-Testgelände, auf dem während des Kalten Krieges mehr als tausend Atomversuche durchgeführt wurden, sind bis zum Jahresende ausgebucht. Vor gut drei Jahren, kurz bevor die Nuklearkatastrophe von Fukushima die Welt erschütterte, wurde auch Tschernobyl offiziell zur Touristenattraktion erklärt.

Atomtourismus. Am Ort des bislang schlimmsten Unfalls in einem Kernreaktor. Was für eine absurde Idee. Weil ich das mit eigenen Augen sehen wollte, flog ich in die Ukraine.

Ich reiste zu einer Zeit, kurz nachdem blutige Demonstrationen wochenlang die gut hundert Kilometer entfernte Hauptstadt Kiew in Atem gehalten hatten. Der Präsident war vertrieben, eine neue Regierung an der Macht, Russland hatte die Halbinsel Krim annektiert. Russische Truppen marschierten an der Ostgrenze der Ukraine auf. Es war eigenartig, aber Tschernobyl erschien als vergleichsweise sicherer Ort.

Die anderen Wagemutigen in unserer Reisegruppe hatten ihre eigenen Motive. John, ein junger Londoner, stand auf „Extremtourismus“. Gavin aus Australien und Georg aus Wien bereiteten eine künstlerische Performance über das Phänomen Quarantäne vor. Anna, eine stille junge Frau aus Moskau, war die ungewöhnlichste Erscheinung. Sie trug schwarze Kleidung, Fellstiefel und hatte lange dunkle Haare mit magentafarbenen Strähnen. Sie war zum dritten Mal nach Tschernobyl gekommen und hatte schon eine weitere fünftägige Tour später im Jahr gebucht. „Ich fühle mich zu verlassenen Orten hingezogen, an denen alles kaputt ist“, sagte sie.

TED-Talk: Warum in der Todeszone bleiben?

In einem Raum war der Boden mit Gasmasken bedeckt. Unser Führer sagte, sie seien vermutlich von Eindringlingen zurückgelassen worden.

In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 sollte die Nachtschicht im Reaktorblock 4 in Tschernobyl während einer geplanten Abschaltung wegen Wartungsarbeiten noch einen wichtigen Test der Sicherheitseinrichtungen vornehmen. Die erfahrenere Belegschaft vom Vortag hatte das nicht mehr geschafft.

Eine halbe Stunde nach Mitternacht löste ein Techniker durch einen Eingabefehler eine Kettenreaktion aus, in deren Folge der Reaktor außer Kontrolle geriet. Innerhalb von 40 Sekundenschoss seine Leistung auf das Hundertfache in die Höhe. Die entstehende Hitze brachte Druckröhren zum Platzen, Kühlwasser trat aus, die Grafitblöcke im Reaktorkern begannen zu brennen. Kurz nacheinander ereigneten sich zwei Explosionen, die das Dach des Reaktorgebäudes wegsprengten. Aus dem offenen Atommeiler stieg nun eine Wolke aus Dampf und hochradioaktivem Material in die Atmosphäre auf und zog nordwestwärts in Richtung Weißrussland und Skandinavien.

Der Fallout setzte 400-mal mehr Radioaktivität frei als die Hiroshima-Bombe.

Die ganze Nacht bekämpften Feuerwehrleute und Rettungsmannschaften Flammen, Rauch und brennende Grafitbrocken, die der weißglühende Reaktorkern ins Freie schleuderte. In welche tödliche Gefahr sie sich begeben hatten, wurde ihnen erst Stunden oder Tage später bewusst, als die ersten Symptome auftraten. Sie waren einer radioaktiven Strahlung von bis zu 16 Sievert ausgesetzt – ein Vielfaches dessen, was ein Mensch überleben kann. In Deutschland gilt in strahlenexponierten Berufen ein Grenz- wert von 20 Millisievert pro Jahr. Bei einer Computertomografie der Lunge werden Patienten mit zehn Millisievert belastet.

In ihren Wohnungen in den drei Kilometer entfernten Hochhäusern in Pripjat beobachteten die Arbeiter von Tschernobyl und ihre Familien das seltsame Leuchten. Am folgenden Morgen, es war das Wochenende vor dem 1. Mai und den großen politischen Kundgebungen, machten sie ihre üblichen Einkäufe, gingen in die Schule oder zum Picknick in den Park. Erst 36 Stunden nach dem Atomunfall begann die Evakuierung der Stadt. 50.000 Menschen sollten das Nötigste für drei bis fünf Tage zusammenpacken und ihre Haustiere zurücklassen. Alle gingen davon aus, dass sie bald zurückkehren würden.

Nun begannen die sogenannten Liquidatoren mit ihrer Arbeit. Sie rissen Gebäude nieder, trugen die oberste Schicht des Erdbodens ab und vergruben sie. Menschen aus 200 Dörfern in der Umgebung wurden in Sicherheit gebracht, streunende Hunde sofort erschossen.

Erstaunlicherweise gab es zunächst wenige Todesopfer. Drei Arbeiter starben bei der Explosion, 28 innerhalb eines Jahres. Doch die Langzeitfolgen der Verstrahlung sind verheerend: Bisher erkrankten etwa 6000 Menschen, die als Kinder radioaktives Jod eingeatmet hatten, an Schilddrüsenkrebs. Wenn man die Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki zugrunde legt, kann sich die durch Krebs verursachte Sterberate bei den 600 000 Anwohnern und Liquidatoren, die die höchsten Dosen abbekommen haben, noch um einige Prozent erhöhen.

Nach dem GAU wurde eilig eine Hülle aus Beton und Stahl errichtet, um den Reaktor zu ummanteln, doch mittlerweile ist der sogenannte Sarkophag marode. Seit 2012 entsteht eine neue Schutzhülle. Das 32.000 Tonnen schwere „New Safe Confinement“ wird neben dem zerstörten Block 4 errichtet und soll später auf Schienen über den alten Sarkophag geschoben werden – in etwa drei Jahren. In der Zwischen- zeit gehen die Aufräumarbeiten weiter. Die drei anderen, inzwischen stillgelegten Reaktoren werden abgerissen. Bis zum Jahr 2065 soll der Standort geräumt sein.

Was sich beim Besuch in Pripjat in meine Erinnerung eingebrannt hat, ist das Geräusch, das entsteht, wenn man über zerbrochenes Glas läuft. Es lag überall: in den mit Schutt übersäten Operationssälen maroder Krankenhäuser, auf Schulfluren mit zerfledderten Büchern. Über der Tür eines Klassenzimmers hing ein Schaubild des Spektrums elektromagnetischer Wellen: von Wärme über sichtbares Licht bis zu Röntgen- und Gammastrahlen, die die Erbsubstanz verändern können. Wie abstrakt muss das für die Kinder gewesen sein – vor ihrer Evakuierung.

In einem anderen Raum war der Boden mit Gasmasken bedeckt. Unser Reiseführer sagte uns, sie seien vermutlich von Eindringlingen zurückgelassen worden, die die Kontrollen im Sperrgebiet umgehen. Anfangs kamen sie, um zu plündern, dann nur noch für den Kick. Sie schwimmen im Fluss Pripjat, trinken das Wasser und glauben, dass sie der Strahlung entkommen können.

In Kiew traf ich später einen dieser Männer. Er erzählte mir, er sei wohl an die hundertmal in Tschernobyl gewesen. „Ich stellte mir die Sperrzone als riesiges, ausgebranntes Areal vor – trist und furchterregend.“ Stattdessen fand er üppige Wälder und Flüsse, diese ganze verstrahlte Schönheit.

Wir liefen am Rand eines leeren Schwimmbeckens entlang, dann über den verrotteten Boden einer Turnhalle. Wir besichtigten einen Vergnügungspark mit Riesenrad und die Ruine des Kulturpalastes und stellten uns diese Orte erfüllt mit Musik und Gelächter vor.

Vom Dach des höchsten Wohngebäudes blickten wir hinab auf die Stadt mit ihren ehemals breiten Prachtstraßen und Parks – jetzt allesamt überwuchert. Die Natur holt sich Pripjat zurück, die Stadt, die einst als sowjetisches Modell, als Arbeiterparadies, gefeiert wurde.

Unter den Resten eines Kühlturms rief unsere Reiseführerin: „Oh, hier isteine besonders stark verstrahlte Stelle!“

Wir übernachteten in Tschernobyl. Von hier aus werden die endlosen Arbeiten der Dekontaminierung gesteuert. Mein Hotelzimmer war schmucklos. Einer der Reiseführer sagte mir, die betagten Möbel seien aus Pripjat geholt worden. Das Strahlungsniveau war aber nicht höher als das bei mir zu Hause.

Es gibt ein postapokalyptisches Videospiel namens „S.T.A.L.K.E.R. – Shadow of Chernobyl“, in dem virtuelle Besucher eines radioaktiven Wunderlandes die strahlenden Hotspots an ihrem bläulich weißen Leuchten erkennen können. Beim Navigieren durch die Sperrzone steigt die aufgenommene Strahlendosis der Spielfigur stetig an. Man kann leicht verhindern, dass man die Strahlenkrankheit bekommt – durch den Genuss virtuellen russischen Wodkas. Wenn es nur in der Realität so einfach wäre.

Am nächsten Tag gingen wir schon fast leichtfertig mit dem Strahlungsrisiko um. Wir standen unter den Resten eines Kühlturms, als unsere Reiseführerin rief: „Oh, hier ist eine besonders stark verstrahlte Stelle!“ Ohne zu zögern, hob sie ein Brett hoch, und wir hielten unsere Dosimeter über den Boden. Mein Messgerät schlug auf 112 Mikrosievert pro Stunde aus – das 30­Fache des während meines Transatlantikfluges gemessenen Werts. Wir blieben nur eine Minute.

Der am stärksten verstrahlte Punkt, den wir fanden, war eine Stelle auf dem Schild einer rostenden Planierraupe, mit dem radioaktive Erde in Gräben geschoben worden war: 186 Mikrosievert pro Stunde – zu viel, um dort länger stehen zu bleiben, aber nichts im Vergleich zu den Dosen, die die Feuerwehrleute und Liquidatoren nach dem GAU abbekommen hatten.

Auf der Rückfahrt nach Kiew rechnete die Reiseleiterin unsere Gesamtstrahlenbelastung aus. Sie kam auf zehn Mikrosievert für das gesamte Wochenende. Vermutlich würde ich auf dem Flug nach Hause mehr abbekommen.

(NG, Heft 10 / 2014, Seite(n) 78 bis 95)

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