Die Geheimwaffe der Taxifahrer im Labyrinth von Londons alten Straßen

Seit 81 Jahren helfen A-Z-Karten vielen Menschen von Taxifahrern bis zu ahnungslosen Touristen, sich in einer der verwirrendsten Städte der Welt zurechtzufinden.

Von Greg Miller
Veröffentlicht am 7. Nov. 2017, 09:45 MEZ
Charing Cross, die berühmte Kreuzung im Zentrum Londons, ist auf diesem Ausschnitt eines A-Z-Atlas in der linken Bildhälfte zu sehen.
Foto von GEOGRAPHERS’ A-Z MAP CO LTD.

Um eines von Londons charakteristischen schwarzen Taxis fahren zu dürfen, müssen angehende Fahrer einen der schwierigsten Tests der Welt bestehen: The Knowledge (dt. Das Wissen). Dafür müssen sie detailreiche Kenntnisse über Londons Labyrinth aus 25.000 Straßen nachweisen. Bei den mündlichen Prüfungen muss der Bewerber die effizienteste Route zwischen zwei Wegpunkten beschreiben, die vom Prüfer ausgewählt werden. Die Wegpunkte können aus einem Pool von 125.000 Sehenswürdigkeiten ausgesucht werden, angefangen von klassischen Wahrzeichen wie dem Buckingham-Palast bis zu irgendwelchen obskuren Pubs in Seitengassen. Jene, die den Test bestehen, haben dafür im Schnitt vier Jahre lang gelernt.

Da ist es nicht überraschend, dass eine gute Karte eine ausgezeichnete Lernhilfe ist. Karten wie die oben abgebildete gehören zu einer Art, die viele der Prüflinge beim Lernen benutzen. Sie wurde von der Geographers‘ A-Z Map Company gefertigt. Das 81 Jahre alte Unternehmen hat eine Geschichte, die ähnlich anschaulich wie ihre Produkte ist.

„Die A-Z-Karten sind sehr detailliert, und diese Details braucht man für The Knowledge“, sagt Peter Allen. Der Londoner Taxifahrer ist außerdem Miteigentümer und Ausbilder der Knowledge Point School, an der angehende Taxifahrer unterrichtet werden. „Außerdem sind sie sehr verständlich.“

Eine Seite aus einem A-Z-Atlas zeigt das Gebiet rund um das British Museum (das große rote Gebäude ungefähr in der Mitte). Die Taxirouten sind blau unterlegt.
Foto von Peter Allen, Knowledge Point School

Zum Beispiel, sagt Allen, bezeichnen die Schüler die größeren und kleineren Straßen mitunter als „Orangen“ und „Zitronen“. Damit beziehen sie sich auf das markante Farbschema, das A-Z benutzt, um die Straßenhierarchie abzubilden. Kleine Straßen sind weiß – so können die Schüler ihre Lieblingsabkürzungen in ihren A-Z-Atlanten markieren.

Aber die A-Z-Karten sind nicht nur für Taxifahrer. Sie werden auch von Touristen genutzt, mitunter sogar von Londonern. Auch die brauchen manchmal etwas Hilfe, um durch das verwirrende Netzwerk aus Straßen zu finden, die ihren Namen oder ihre Richtung von einem Häuserblock zum nächsten zu ändern scheinen. Die Karten bieten eine bemerkenswerte Dichte an Informationen auf kleinem Raum, ohne dabei unleserlich zu werden.

Ursprünglich wurde alles von Hand beschriftet, wie man an dem Ausschnitt einer A-Z-Karte von Birmingham hier unten noch erkennen kann. „Lwr. Tower St.“ (ungefähr in der Mitte) wurde von Hand geschrieben und scheint eine etwas abweichende Schriftart zu haben. „Es ist ... ein Stück Kartografiegeschichte, die zeigt, wie diese Karten früher gemacht wurden“, sagt Simon Kettle, ein Kartograf bei A-Z.

BELIEBT

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    Diese Karte von Birmingham weist eine Beschriftung von Hand auf, „Lwr. Tower St.“, etwa in der Mitte des Ausschnitts.
    Foto von GEOGRAPHERS’ A-Z MAP CO LTD.

    Das Unternehmen wurde 1936 von einer Frau namens Phyllis Pearsall gegründet. Sie war die Tochter eines ungarischen Kartografen, der zur Jahrhundertwende nach London ausgewandert war. Ihrer eigenen Erzählung nach verlief sich Pearsall in einer regnerischen Nacht auf dem Weg zu einer Party, als sie eine veraltete Karte der britischen Ordnance Survey benutzte. Fest entschlossen, eine bessere Karte zu erstellen, lief sie selbst durch die Straßen Londons, legte so über 4.800 Kilometer zurück und arbeitete 18 Stunden am Tag, um ihren ersten Atlas herzustellen.

    So charmant, wie die Geschichte auch ist, so skeptisch macht sie einige Menschen auch. Zu diesen Menschen zählen auch Pearsalls Halbbruder, der der Entzauberung des Mythos einen Blog gewidmet hat, und Peter Barber, der in British Library für den Bereich der Karten verantwortlich ist. Barber glaubt, es sei wahrscheinlicher, dass Pearsall damals verfügbare Karten einfach verbessert hat – zum Beispiel jene, die ihr Vater erstellte und die ähnlich aussahen.

    Ob Pearsalls Erzählung nun eine wahre Geschichte oder eine clevere Marketingstrategie ist, ihr Unternehmen wuchs jedenfalls zum größten unabhängigen Herausgeber von Karten in ganz Großbritannien heran. Zum Publikationskatalog gehören mehr als 350 Karten und Atlanten des ganzen Landes.

    Dieser Ausschnitt der A-Z-Karte von London zeigt das Gebiet rund um St. Paul‘s Cathedral (oben links) und die London Bridge (unten rechts).
    Foto von GEOGRAPHERS’ A-Z MAP CO LTD.

    Seit Kurzem arbeitet A-Z mit Uber zusammen, das in London neuen Richtlinien unterworfen ist. Letztes Jahr führte die Stadt Anforderungen für Fahrer von Uber und anderen privaten Unternehmen ein, laut denen sie einen „topografischen Einstufungstest“ bestehen müssen. Dessen Schwierigkeitsgrad ist weit entfernt von The Knowledge, aber privat engagierte Fahrer müssen nun beweisen, dass sie grundlegende geografische Kenntnisse der Stadt haben. Beispielsweise müssen sie sagen können, welche Hauptstraße zu einem bestimmten Flughafen oder einer nahegelegenen Stadt führt. Sie müssen außerdem zeigen, dass sie einen A-Z-Atlas nutzen können, um eine bestimmte Straße oder ein Wahrzeichen zu finden und um eine Route zwischen zwei Wegpunkten zu planen.

    Kettle sagt, dass das Unternehmen Atlanten für das Training und die Tests von Uber zur Verfügung stellt. (Was die schwarzen Taxis angeht, so werden die A-Z-Atlanten in den Regularien zwar namentlich erwähnt, es steht den Fahrern jedoch frei, sich nach Bedarf mit anderen Karten auf den Test vorzubereiten.)

    Wie lange sich die Papieratlanten im digitalen Zeitalter noch halten können, wird sich zeigen. Aber zumindest im Moment scheinen sie einen festen Platz in den Vorbereitungen der Taxifahrer auf The Knowledge zu haben – und vermutlich auch in den Händen der Uber-Fahrer, die herausfinden wollen, welche Straße nach Heathrow führt.

    Schließlich sind selbst GPS-Karten nicht ganz narrensicher. „Ich mache mehr Geld mit Menschen, die Google Maps auf ihrem Handy haben, als durch alles andere“, sagt Allen, der Taxifahrer und Ausbilder. „Die finden einfach nicht raus, in welche Richtung sie gerade gehen. Also verlaufen sie sich – und ich nehme sie dann mit.“

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