Medizin: Das Gehirn erwischt es immer
Veröffentlicht am 10. März 2022, 07:30 MEZ

In untadeliger Uniform sitzt Chris McNair auf der Veranda seines Elternhauses in Virginia. Die selbst gemachte Maske ist Teil seiner Therapie wegen eines Explosionstraumas. „Als wir uns etwas aus suchen sollten, fiel mir die Maske von Hannibal Lecter auf, und ich dachte: ‚Das bin ich.‘ Ich hatte das Gefühl, ich bin ähnlich gefährlich. Äußerlich charmant, innerlich ein Monster. Ich konnte keinem davon erzählen, meine Gefühle nicht ausdrücken.“
Foto von Lynn JohnsonSprengfallen verursachten in den US-Feldzügen im Irak (bis 2011) und in Afghanistan rund 60 Prozent aller Kriegsverletzungen. Äußerliche Wunden werden in der Regel unverzüglich versorgt – so wie hier bei Burness Britt im Juni 2011 im Süden Afghanistans. Andere Folgen zeigen sich oft erst viel später.
Foto von Anja Niedringhaus, AP ImagesExplosionen verändern Soldaten oft in einer Weise, die sie nicht in Worte fassen können. Diese Maske eines Soldaten zeigt eine Schnittwunde, in der Zahnräder sichtbar werden. Die Botschaft: Das Militär macht Menschen zu Maschinen.
Foto von Rebecca HaleTraditionelle und alternative Verfahren werden kombiniert, wenn Mediziner der Militärklinik in Bethesda, Maryland, Schädel-Hirn-Traumata und psychische Gesundheitsstörungen behandeln. Die Kunsttherapeutin Melissa Walker gestaltet zusammen mit den Patienten Masken, die deren verborgene Gefühle ausdrücken.
Foto von Rebecca HaleBei der Therapie kommt eine Reihe von Themen immer wieder vor: der Tod (häufig dargestellt durch Schädel), die Unfähigkeit, sich auszudrücken (ein zugenähter, geknebelter oder verschlossener Mund), körperliche Schmerzen (Gesichtswunden), patriotische Gefühle (amerikanische Nationalfarben).
Foto von Rebecca Hale„Ich habe das zu Beginn für einen Witz gehalten“, erzählt Explosionsopfer Perry Hopman. „Ich wollte damit nichts zu tun haben: Erstens bin ich ein Mann und mag nicht mit so einem niedlichen kleinen Pinsel malen. Zweitens bin ich kein Künstler. Und drittens bin ich nicht
im Kindergarten. Doch ich hatte Unrecht. Die Therapie wirkt. Ich glaube, ich habe dadurch angefangen, mich wieder zu öffnen und über den ganzen Kram zu reden und mich wirklich darum zu kümmern, dass es mir besser geht.“
Foto von Rebecca HaleEinen Moment zuvor hatte ein Motorradfahrer die Patrouille in Afghanistan überholt. Vermutlich löste er eine Sprengfalle aus. Ein Überlebender solch eines Anschlags beschrieb die Auswirkungen: „Es ist, als träte dich ein Pferd, aber mit einem Huf, der deinen ganzen Körper trifft.“
Foto von Peter van Agtmael, Magnum PhotosWissenschaftler in militärischen Forschungsprojekten wollen nun auch Proben aus dem Gehirn verstorbener Veteranen untersuchen, um mehr über die ganz spezifischen Schäden nach Explosionen zu lernen.
Foto von Lynn JohnsonSeine Maske – halb patriotisch, halb Totenkopf – spiegelt seine Zerissenheit: Sanitäter Perry Hopman vor der Batterie von Medikamenten, die er jeden Tag nehmen muss, seit er bei der Behandlung anderer Soldaten selbst durch eine Explosion verletzt wurde. „Ich weiß meinen Namen, aber den Mann, der diesen Namen früher getragen hat, kenne ich nicht. Ich bin 39. Ich muss mir einen Merkzettel machen, damit ich die Medikamente einnehme, einen Merkzettel, damit ich nicht vergesse zu duschen.“
Foto von Lynn Johnson„Einmal ging eine Bombe hoch – ich wurde durch die Luft geschleudert. Es gab viele ärztliche Untersuchungen. Aber keiner glaubte, dass Explosionen Schäden hinter lassen, die man nicht sieht. Es wurde auch nicht Buch geführt, wie viele Bomben es waren. Das hätten wir tun sollen, denn die Folgen von Explosionen summieren sich. Ich habe wohl mehr als 300 erlebt. Das wird mich aber nicht abhalten, mit meinen Kin dern zu spielen. Ich lasse nicht zu, dass meine Verletzungen ihr Leben beeinträchtigt.“
Foto von Lynn JohnsonTiffany H., wie sie genannt werden will, ist „in die Luft geflogen“, als sie Frauen in einem abgelegenen afghanischen Dorf dabei half, neue Einkommensmöglichkeiten zu finden. Sie leidet – unter anderem – an Gedächtnisverlust, Gleichgewichtsstörungen und Angstzuständen. Das blinde Auge und die versiegelten Lippen ihrer Maske sind Symbole, die von Soldaten nach Explosionsverletzungen häufig verwendet werden.
Foto von Lynn Johnson„Ich habe ihm klargemacht: ‚Ich räume nicht deinen Dreck weg‘“, sagt Ehe- frau Sheri Hall. „,Ich werde nicht dein Gehirn von der Schlafzimmerwand kratzen. Wenn du dich also umbringst, solltest du eine gute Begründung hinterlassen, damit ich deinen Kindern, deinen Mädchen, die dich lieben, erklären kann, warum du in unserem Leben so ein Chaos anrichtest.‘ Trotzdem wache ich manchmal morgens auf und frage mich: ,Na gut, was wird der Tag bringen?' Ich weiß, dass ihm jeden Tag davor graut, zur Arbeit zu gehen."
Foto von Lynn Johnson