Grandezza und gute Ideen
Rom lockt seit je mit seiner jahrtausendealten Kultur. Doch die Stadt hat auch einige Vorschläge für die Zukunft.
Mit leisem Rumpeln rollt der Kleinlaster der römischen Stadtreinigung über das Kopfsteinpflaster. Sonst stört nichts die friedliche Stille dieses Herbstmorgens auf der Via dei Fori Imperiali. Hohe Schirmpinien werfen ihre langen Schatten über die autofreie Paradestraße, die Mussolini vor fast hundert Jahren bauen ließ.
Ich spaziere entlang der Via dei Fori Imperiali, vorbei am Forum Romanum, dem Augustusforum, dem Trajansforum: Überresten einer mehr als 2000 Jahre alten Kultur, Tempelreste, zärtlich beschienen vom Morgenlicht.
Rom ist ewig, darauf ist Verlass. Doch bei all ihrer steinernen Standhaftigkeit lebt die Stadt nicht nur in der Vergangenheit. Und manchmal wird auch ein alter Stadtteil wieder interessant: Ostiense-Garbatella, das ehemalige Fabrik- und Arbeiterviertel im Süden Roms.
Wenn das Wahrzeichen des alten Rom das Kolosseum ist, dann ist das Wahrzeichen von Ostiense der Gasometer. Nur zwei Metrostationen brauche ich von den antiken Ausgrabungsfeldern bis zu dem Rundturm aus filigranem Eisengeflecht, der sich 90 Meter hoch über Industriebrachen erhebt. Er ist ein Relikt aus der Zeit, in der hier ein großes Gewerbegebiet florierte, mit Fabriken, Elektrizitäts- und Gaswerk, Schlachthof und Großmarkthalle. Von den 1970er-Jahren an aber schlossen die Fabriken, die Versorgungseinrichtungen der großen Stadt zogen um, die Hallen bröckelten, Unkraut wucherte über die Mauern.
Doch mittlerweile knallen an der Via Ostiense wieder Proseccokorken. Heute zum Beispiel hat sich Alessia Fruscione einen Lorbeerkranz auf die langen, dunklen Haare setzen lassen und feiert mit Familie, Freunden und frischer Pizza unter der Pergola vor der juristischen Fakultät ihren Abschluss in Rechtswissenschaften. Der moderne Klinkerbau steht dort, wo früher die Schlote eines Glaswerks rauchten. Als das Industrieviertel niederging, war es die jüngste der drei staatlichen Hochschulen der Stadt, Roma Tre, die sich ehemalige Produktionsflächen sicherte, dort baute und restaurierte. Dank ihr sieht man in den Straßen von Ostiense heute wieder viele junge Leute, die Vitalität und Ideen mitbringen. „Va bene, ich habe jetzt diesen Juraabschluss“, raunt die 26-Jährige mir zu, weil ihre Mutter es nicht hören soll. „Aber ich will Schriftstellerin werden!“
Ostiense befindet sich mitten in einem Übergangsprozess: Vor Wettbüros und Bars lungern immer noch Scharen von coatti herum, eine lokale Subkultur aus Teenagern mit Gelfrisur, depilierten Brustmuskeln und Pilotensonnenbrille. Doch die vierspurige Via Ostiense säumt bereits eine interessante bunte Gebäudeborte, in der sich bröckelnde alte Direktorenvillen, moderne Unibauten, Sechzigerjahre-Wohnblocks und Autowerkstätten abwechseln.
In diesem Habitat gedeihen Bierkneipen und Aperitif-Bars, vor denen sich abends so viel Ausgehvolk drängt, dass man auf die Fahrbahn und Tramgleise ausweichen muss, um vorbeizukommen. Es gibt stadtbekannte Clubs wie das Goa, vegane Katzen-Cafés (Ja: mit Katzen!) und auch eine hochoffizielle Kulturinstitution hat sich niedergelassen. Die Kapitolinischen Museen haben in die Centrale Montemartini, das ehemalige E-Werk von Rom, ihre schönsten antiken Skulpturen ausgelagert. Ich spaziere durch Räume mit hohen Decken und riesigen Sprossenfenstern, vorbei an alten Kesseln und Dampfmaschinen und an kopflosen Senatoren aus cremefarbenem Marmor; jede Togafalte ist detailgetreu in den Stein gemeißelt. Wunderschöne klassische Kunst.
„Es ist so schön, das Viertel wachsen zu sehen!“, schwärmt zwei Ecken weiter die Soulsängerin Emanuela Ottaviani. Die schlanke 44-Jährige mit den Dreadlocks betreibt zusammen mit ihrer Schwester Barbara in der Via Francesco Negri das Soulnest, eine Kombination aus Musikstudio, Co-Working-Space und Feldenkrais-Kursraum. Sie zeigt auf die ockergelben Jugendstilhallen mit den eingeworfenen Fensterscheiben auf der anderen Straßenseite. „Das waren mal die Großmarkthallen. Das Areal ist riesig, acht Hektar. Wir können kaum erwarten, dass es mit dem Umbau losgeht.“
Die mercati generali sind das größte Umwidmungsprojekt der Stadt. Seit 15 Jahren wird bereits an seiner Zukunft herumgeplant; neuesten Beschlüssen zufolge sollen aber schon in zwei Jahren Kinos und Sportstätten, Restaurants, Geschäfte, Bibliotheken und Uni-Wohnheime eröffnen. „Mein Traum“, ergänzt Emanuela, „wäre dann noch die Via Ostiense als Fußgängerzone. Dann könnte ich jeden Tag zur Arbeit spazieren.“
Emanuela wohnt in der Garbatella. Das kleine, 100 Jahre alte Stadtviertel beginnt unmittelbar hinter dem alten Schlachthof-Areal, es ist gestaltet von kurvigen Sträßchen mit aufgeplatztem Asphalt. Ockerfarbenen Mietshäusern mit Türmchen und Erkern, mit gemeinsamen Innenhöfen und Gärten, wo Großmütter ihren Enkeln beim Ballspielen zusehen. Eine Welt, nur wenige Kilometer von Roms Zentrum entfernt, von der man nicht geglaubt hätte, dass sie noch existiert.
Die Garbatella ist ein traditionsreicher Arbeitervorort. Bis heute lebt hier authentisch römisches Kleinbürgertum. Treue Fans des Fußballvereins AS Roma, die ihre verbeulten Kleinwagen in den schmalen Straßen parken, vormittags im Unterhemd am Fensterbrett lehnen und nachmittags in der struppigen Grünanlage an der Piazza Sant’ Eurosia auf Parkbänken Neuigkeiten austauschen.
„Früher hatte das Viertel einen schlechten Ruf. Aber inzwischen wissen alle, wie schön es hier ist“, sagt Amedeo Ciaccheri. Der linke Stadtteilpolitiker und angehende Lehrer sitzt im kleinen Park der Garbatella vor der Osteria Casetta Rossa und rührt in seinem Espresso. Das städtische Wohnungsamt sei zwar in Geldnot und würde seit einigen Jahren die Apartments im Viertel verkaufen. Doch eigentlich nur an die Mieter. „Natürlich haben es ein paar Besserverdiener von außerhalb geschafft, trotzdem bleibt die Garbatella ein echtes Arbeiterquartier, in dem sich die Menschen umeinander kümmern.“
Zum Abschluss mache ich einen Abendspaziergang, von der Garbatella quer durch Ostiense in Richtung Tiber und Gasometer. Vorbei an den neuen Szene-Restaurants an der Via del Porto Fluviale, dann an ausgebrannten Autos und armseligen Notunterkünften, die sich Romafamilien zusammengenagelt haben. Auf der Fußgängerbrücke über dem Tiber dreht ein junger Soulsänger gerade ein Video für seine erste CD. Er trägt den Künstlernamen Gentile und auf dem Rücken ein großes Tattoo, das eines der Eingangstore des Stadtteils zeigt.
„Ich bin in der Garbatella geboren. Nie würde ich irgendwo anders leben“, sagt der 25-Jährige, während unter uns der Fluss in Richtung Meer strömt. „Wir sind ein Dorf mitten in der schönsten Stadt der Welt.“
Dieser Artikel wurde gekürzt. Lesen Sie die ganze Reportage in Heft 3/2018 des National Geographic-Traveler. Jetzt ein Abo abschließen!