Ruf der Wildnis: Auf der Suche nach Grizzlybären und Walen auf Vancouver Island in British Columbia

Ob auf der Suche nach Grizzlybären im naturbelassenen Urwald oder beim Beobachten von Buckelwalen am Horizont – in Kanadas wohl wildester Provinz erwartet Sie Natur im Überfluss.

Von DOUG MCKINLAY
Veröffentlicht am 24. Sept. 2021, 18:10 MESZ
Das Gebiet ist Lebensraum für eine der größten Grizzlybär-Populationen in British Columbia. Die beste Zeit, um ...

Das Gebiet ist Lebensraum für eine der größten Grizzlybär-Populationen in British Columbia. Die beste Zeit, um ihnen zu begegnen, ist der Sommer, wenn die Bärenweibchen paarungswillig sind.

Foto von GETTY IMAGES

Weite, leere Strände voller Treibholz. Tiefe Flüsse. Dunkle, waldige Berge im Küstennebel, der die Bäume umschwebt wie weiße Geister. Für mich stehen genau diese Landschaften sinnbildlich für die Küstenregion von British Columbia, der westlichsten Provinz Kanadas.

In British Columbia finden sich Berge, Flüsse, Täler, Fjorde, Inseln, Wüste und Küstenlinie auf einer Gesamtfläche von knapp 70.000 Quadratkilometern. Die Bevölkerungsdichte liegt bei etwa fünf Einwohnern pro Quadratkilometer. Wer also ein bisschen Zeit für sich verbringen möchte, ist hier goldrichtig.

Ich bin in British Columbia aufgewachsen, doch dieses Mal bin ich als Besucher hier, auf einer Reise, die mich über die Johnston-Straße führt: vom Hotspot für Grizzly-Beobachtung im abgelegenen Knight Inlet – einem 120 Kilometer langen Fjord, der in der letzten Eiszeit entstand – bis ins Surfer-Paradies Tofino, an der offenen Pazifik-Seite von Vancouver Island.

Meine erste Station ist die abgelegene, schwimmende Knight Inlet Lodge, meine Unterkunft, an der ich mit einem alten Propellerflugzeug, einem 1956er De-Havilland-Otter, ankomme. Abgesehen von Booten ist das Flugzeug das einzige Verkehrsmittel, mit denen das Hotel erreicht werden kann. Das Terrain hier ist zu wild für Straßen. Es schüttet wie aus Eimern: Der Regen nimmt einem völlig die Sicht auf das Festland, das nur wenige Kilometer entfernt liegt. Aber die Führer verschwenden keine Zeit darauf, sich wegen des Wetters Gedanken zu machen. „So ein bisschen Regen macht uns nichts aus“, sagt der leitende Guide Dean Dougherty, ein 60-jähriger Rentner, der wie eine Mischung aus dem berühmten amerikanischen Tierfänger Grizzly Adams und Indiana Jones aussieht. „Kajak oder Motorboot?“, scherzt er und tut so, als hätte man wirklich eine Wahl. „Also Kajak“, sagt er und schmeißt jedem Mitglied unserer zwölfköpfigen Gruppe reflektierende rote Regenbekleidung und eine Schwimmweste entgegen. „Wir werden euch von morgens bis abends gut beschäftigen“, verspricht er.

Dean ist ehemaliger Highschool-Lehrer für Naturwissenschaften, mit einer Geduld, die nur auf den jahrelangen Kontakt mit Teenagern in Klassenräumen zurückgeführt werden kann. Diejenigen von uns, die noch nie zuvor in einem Kajak gesessen haben, bekommen ein paar einfache Paddel-Tipps. Außerdem wird der Ein- und Ausstieg erklärt und wie in einer schnellen Strömung die Position gehalten werden kann.

Dean Dougherty ist der leitende Guide der Knight Inlet Lodge, einem ökologischen Hotel im Herzen der Hochburg für Grizzly-Beobachtung in British Columbia.

Foto von Doug Mckinlay

Unsere kleine Flotte leuchtend bunter Kajaks gleitet leise vom Hotel weg und der Himmel über uns präsentiert sich in einer Palette aus Grau, Weiß und Schwarz. Für die Region typische Bäume wie die stacheligen Sitka-Fichten, Douglasien und die moosbewachsenen Riesen-Lebensbäume dominieren die Landschaft. In der Ferne sieht man kleine weiße Wolkenfetzen zwischen den dunklen Baumwipfeln, während ihre großen Brüder die Gipfel der umliegenden Berge verdecken. Die Luft ist frisch und süß, mit einer leichten Sole-Note, die aus den Seetangbecken entlang der Küste herüberweht. Kein Wunder, dass die indigenen Völker (die Da’naxda’xw Awaetlala, Mamalilikulla, Tlowitsis, Wei Wai Kum and K’ómoks First Nations) ihr Land immer als Wunder betrachtet haben.

Derzeit ist der Fjord Lebensraum für etwa ein halbes Dutzend Grizzly-Weibchen und ihre Jungen. Die Männchen kommen in den Sommermonaten während der Paarungszeit in dieses Gebiet und bleiben bis zur herbstlichen Lachswanderung; dann kommen bis zu 50 Bären auf einmal am Glendale River am östlichen Ende des Fjords zusammen, um vor dem Winterschlaf Fische zu fressen.

An der Flussmündung entdecken wir einen dichten Streifen proteinreicher Riedgräser, der sich an der Küste entlangzieht – die perfekte Mahlzeit für Allesfresser wie unsere Grizzlybären. Dean bemerkt sie zuerst. Mit einer schnellen Handbewegung sorgt er dafür, dass in den Booten plötzlich Stille herrscht. Direkt vor uns sucht eine Grizzly-Mutter mit ihren zwei Jungen zwischen den mit Seepocken bewachsenen Felsen der Gezeitenzone nach Futter. Obwohl ich mich inmitten vieler Kajaks befinde, fühle ich mich plötzlich allein – nur ich und die Bären in diesem riesigen Regenwald. Zwar bin ich in British Columbia aufgewachsen, doch egal, wie oft ich in diese Wälder eintauche – sie versetzen mich jedes Mal in pures Staunen. Als wäre ich ein kleiner Punkt in einer weiten Landschaft. Und jedes Mal fehlen mir die Worte, um dieses Gefühl wirklich zu beschreiben.

BELIEBT

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    In dem gemäßigten Regenwald British Columbias wachsen Zedern, die über 1.000 Jahre alt sind und bis zu 150 Meter hoch werden können.

    Foto von Destination Canada, Brian Caissie

    Mutter Bär heißt Lenor. Ihre beiden Jungen, zwei braune Fellknäuel, haben noch keine Namen. Sie sind eifrig damit beschäftigt, die nährstoffreichen Seepocken mit ihren scharfen Zähnen von den Felsen zu kratzen. Während die Familie im nahegelegenen Riedgras frisst, blickt Lenor hoch und nickt in unsere Richtung – als würde sie uns damit die Erlaubnis erteilen, ihre Welt zu betreten. Wir halten Abstand, mindestens 50 Meter. Dieser Sicherheitsabstand sorgt dafür, dass die Bären in der Nähe von Menschen entspannt bleiben. Obwohl sie in unserer Gegenwart überraschend ruhig bleiben, kann die Stimmung innerhalb einer Sekunde umschlagen. Dean erinnert mich jedes Mal daran, wenn ich den Tieren in der Hoffnung, das perfekte Foto zu bekommen, ein wenig zu nahekomme.

    Wir beobachten sie etwa 30 Minuten lang. Es ist nichts zu hören außer den Wellen des Wassers, die gegen die Kajaks schlagen, und das Kratzen der Bärenzähne an den Felsen. Dann sagt Dean, dass wir den Bären jetzt ein wenig Raum für sich geben müssten, und führt uns den Glendale River hoch.

    Wir paddeln mit aller Kraft gegen die Strömung an, kämpfen mit Gegenwind und starkem Regen. Wenigstens ist es nicht kalt. Unsere Arbeit wird schließlich reich belohnt: mit dem Anblick von Maultierhirschen. Er ist ein Zeichen für die Abgeschiedenheit dieser Wildnis, denn diese Tiere, die völlig furchtlos am Ufer des Flusses verharren, sind uns so nah, dass sie praktisch in unsere Kajaks steigen könnten. In der Ferne sehen wir Weißkopfseeadler aufsteigen und im Sturzflug herabschießen.

    Als wir eine Stunde später wieder in die salzige Bucht einfahren, sehen wir einen weiteren Grizzly. Es ist Bella, sie ist paarungsbereit und auf Partnersuche. „Bella hat sich diesen Sommer bereits mit mindestens fünf Männchen gepaart“, erklärt Melanie Clapham, Bärenforscherin der University of Cumbria in England.

    Die letzte Etappe führt und entlang der Küste zurück zur Lodge. Beim Abendessen erzählt Dean Wyatt, der die Lodge mit seiner Frau Kathy betreibt, was das Hotel inmitten der Wildnis so besonders für ihn macht. „Ich erinnere mich noch an meinen ersten Trip hierher, als wäre es gestern gewesen", sagt er. „Es war ein kalter Tag im November mit leichtem Nieselregen. Als wir hier an der Lodge ankamen, wartete auf der Terrasse bereits ein riesiger Kessel frisch gekochte Krabben in geschmolzener Butter mit Knoblauch auf uns. Ich dachte, ich wäre gestorben und im Himmel wieder aufgewacht: die Abgeschiedenheit, die majestätische Landschaft, die beeindruckende Umgebung. Damals wusste ich, dass ich eines Tages dieses Hotel hier übernehmen würde.“ Und das tat er.

    Am Morgen meiner Abreise wartet bereits mein Transportmittel auf mich. Dieses Mal ist es ein de Havilland Beaver – das Wasserflugzeug der Wahl in den Wäldern von British Columbia. Nach einem etwas holprigen Start neigt der Pilot die Flügel, als ob er der Lodge zum Abschied winken wollte, bevor wir über einen Berg hinweg davonfliegen.

    Die Insel Vancouver Island ist auf allen Seiten vom Pazifik umgeben und berühmt für ihre wilden, unberührten Strände und dichten Wälder.

    Foto von Destination BC, Jordan Dyck

    Einmal über die ganze Insel

    Tofino ist das Surfer-Paradies des kanadischen Westens. Es verbindet das kalifornische Lebensgefühl mit der modernen Hippie-Mentalität British Columbias. Surfer kommen hierher, um die Schönheit der weiten, dünn besiedelten Pazifik-Strände zu genießen (das nächste Festland Richtung Westen gehört zu Japan und ist etwa 7.400 Kilometer entfernt). Was Tofino jedoch von allen anderen Top-Surf-Spots unterscheidet, ist seine Lage: In direkter Nachbarschaft liegt eines der größten Wildnisgebiete der Welt, der Great Bear Rainforest. Knight Inlet ist ein Teil dieses wilden Regenwaldes.

    Marla Barker ist Skipper und arbeitet als Führerin für Jamie’s Whaling Station, einen Anbieter von Walbeobachtungstouren. Ich traf sie am letzten Tag meiner Reise als ich absolut nicht mehr damit rechnete, noch Wale zu Gesicht zu bekommen. „Keine Sorge", sagte sie, „wir werden sie sehen. Sie waren die ganze Saison über sehr aktiv."

    Wir starten an einem trockenen Morgen in Richtung Hot Spring Cove im Maquinna Marine Provincial Park, nördlich von Tofino. Die Bootsfahrt dauert ungefähr 90 Minuten und die ganze Fahrt über halte ich meine Augen auf das Meer gerichtet, in der Hoffnung, dass es mir einen Buckelwal offenbaren würde. Wir sehen kleine Wellen mit weißen Schaumkronen, die Blaslöcher sein könnten, und Treibholz, das an Schwanzflossen erinnert, jedoch keine echten Wale.

    Nachdem wir angelegt haben, tröste ich mich mit einem Spaziergang durch den Park: eine tolkienesque Welt aus Sitka-Fichten und Douglasien – manche bis zu 800 Jahre alt und über 90 Meter hoch. Überall sind Spanisches Moos und fasrige Flechten zu sehen, armlang von Zweigen herabbaumelnd, wie überdimensionale Linguine mit Pesto, die von einer Gabel hängen.

    Ganz in der Nähe liegen aktive heiße Thermalquellen, in denen man seine müden Muskeln nach einer langen Wanderung durch die Berge entspannen kann. Das Wasser fließt in mehreren kleinen Kaskaden in aneinandergereihte Felsbecken, wobei das Wasser in jedem weiteren Becken ein wenig kühler ist als im Vorherigen, weil sich das aus der Quelle mit dem aus dem Ozean mischt.

    Ein Seeotter bei Spring Island nahe Kyuquot Sound. Es leben in etwa 5.000 Seeotter in British Columbia. 

    Foto von Destination BC, Boomer Jerritt

    Auf dem Rückweg zum Steg vor meiner Rückreise nach Tofino schwimmt ein Seeotter von der Größe eines ausgewachsenen Schäferhundes ganz lässig auf dem Rücken an uns vorbei. Auf seiner Brust balanciert er eine Muschel, die er mit einem Stein bearbeitet, um an ihr weiches Inneres zu gelangen. Kaum hat er es geschafft, springen schwarze Raben auf den Holzsteg in der Hoffnung, etwas von dem Fang abzubekommen. Über uns kreisen ein paar Weißkopfadler, die auf eine Chance warten, den Raben ihre gestohlene Beute zu entreißen.

    „Wir fahren auf der offenen Meerseite zurück“, sagt Marla und startet das Boot. „Der Wind hat aufgehört, das Meer sollte also ruhig sein –beste Voraussetzungen, um ein paar Wale zu sehen.“

    Gerade als ich die Hoffnung aufgegeben habe, diesen Punkt auf meiner inneren Wunschliste abhaken zu können, schreit ein anderer Passagier unseres Boots: „Da bläst einer!“ Wir sehen drei Buckelwale: Eine Mutter, ein Junges und ein großes Männchen – zusammengenommen etwa 100 Tonnen Muskeln und Speck –, die vergnügt vor Flores Island im Clayoquot Sound schwimmen. Wir sehen ihre riesigen Schwanzflossen, Fontänen silbrigen Wassers aus dem Meer spritzen und dann – endlich – einen vollen Sprung: Ein 40-Tonnen-Koloss, der gen Himmel springt und mit seinem Aufprall auf dem Wasser einen kleinen Tsunami verursacht.

    Mein Ausflug nach Vancouver Island endet mit einer Fahrt mit der Fähre über die Straße von Georgia zurück nach Vancouver ans Festland. Bei meiner Ankunft bricht die Sonne durch die Wolkendecke und ich sehe noch einmal zurück zur Insel und denke: Egal wie urban und modern mein Alltag auch ist, die unberührte Wildnis existiert wirklich noch.

    Wissenswertes

    Anreise und Transport

    Air Canada und Lufthansa bieten Nonstop-Verbindungen von Frankfurt und München zum internationalen Flughafen Vancouver ab einem Preis von 500 Euro für Hin- und Rückflug an. British Columbia ist wie gemacht für Roadtrips. Ein Mietwagen ist deshalb die beste Möglichkeit, um in die wilde Natur zu gelangen. Fähren von BC Ferries steuern beinahe 50 verschiedene Häfen entlang der Küste an, einschließlich Vancouver Island, Haida Gwaii, Sunshine Coast und die Inselgruppe Gulf-Islands.

    Buchungsmöglichkeit

    Die Knight Inlet Lodge bleibt 2021 geschlossen, plant jedoch 2022 wieder zu öffnen und wird dann sowohl Touren als auch Übernachtungsmöglichkeiten anbieten. Alle Angebotspakete beginnen mit der Ankunft in Campbell River auf Vancouver Island und beinhalten auch die dortige Übernachtung.

    Beste Reisezeit

    Die Provinz British Columbia ist das ganze Jahr über wunderschön. Um sie in all ihrer beeindruckenden natürlichen Pracht zu erleben, empfehlen wir den Frühling als Reisezeit, denn dann sind die Wälder noch grün bei langsam steigenden Temperaturen. Im Frühjahr und Sommer erwachen die Bären aus dem Winterschlaf, um Lachse zu fangen, und die Wale kehren in die Gewässer rund um British Columbia zurück.

    Die Natur hat einen nachhaltigen Einfluss auf uns, und laut Experten ist dieser umso größer, je ursprünglicher die Natur. Wir laden Sie ein, bereits vor Abreise eine wohltuende kleine Auszeit in British Columbias großartiger Wildnis zu verbringen. Ihr Weg in die Natur:

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