Begegnung mit Hinat
In der Wüste Saudi-Arabiens, unweit des majestätischen AIUIa-Tals, liegt die antike Stadt Hegra – einst bedeutendes Handelszentrum der Nabatäer, nun Schauplatz eines bahnbrechenden Projektes, das uns erstmals das Gesicht einer nabatäischen Frau zeigt.
Ende des 4. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung (v. u. Z.) wurden die Nabatäer durch den Handel mit Weihrauch, Gewürzen und anderen Luxusgütern reich. Sie stammten höchstwahrscheinlich aus Zentralarabien und hatten sich im heutigen Petra (Jordanien) angesiedelt. Im Zuge der Vergrößerung ihres Königreichs gründeten die Nabatäer neue Handels- und Kulturzentren und erreichten im 1. Jahrhundert v. u. Z. schließlich die circa 500 Kilometer südlich von Petra liegende Stadt Hegra. Ihre einzigartige Lebensart wurde von den Einflüssen unterschiedlicher Kulturen und den durch den Handel mit Luxusgütern erworbenen Reichtum geprägt. In die Sandsteinfelsen rund um Hegra schlugen sie beeindruckend kunstvolle Gräber.
Der Felsen Jabal Al-Ahmar in Hegra wurde nach dem typischen Buntsandstein der Region benannt und beherbergt etwa 18 Gräber, inklusive Hinats Grab.
2000 Jahre später wählten Archäologen, die die in den Felsen Jabal Al-Ahmar am Rande des Wohngebiets von Hegra geschlagenen Gräber untersuchten, eines davon für genauere Studien aus. Im „Grab von Hinat, Tochter Wahbus“ fanden sie ungewöhnlich gut erhaltene Materialien, darunter menschliche Überreste – Knochen, Haut und sogar Haare –, Textilien, Leder, pflanzliche Stoffe und andere Substanzen.
Laut Laïla Nehmé, Leiterin des archäologischen Forschungsprojekts von Hegra, gibt es einen weiteren Grund, warum das Grab so interessant ist: „Die Nabatäer sind voller Geheimnisse. Einerseits wissen wir viel über sie, andererseits sehr wenig, weil sie keine literarischen Texte oder Aufzeichnungen hinterlassen haben. Die Erforschung dieses Grabs war eine großartige Gelegenheit, mehr darüber zu erfahren, wie sich die Nabatäer das Leben nach dem Tod vorstellten. Außerdem weist die Fassade des Felsengrabs eine wunderschöne Inschrift auf, die besagt, dass es einer Frau namens Hinat gehörte.“
Wer war Hinat? Genau wissen wir das nicht. Aber im Jahr 60 oder 61 u. Z. hat sie Folgendes in eine Tafel über dem Eingang ihres Grabs geritzt: „Dies ist das Grab, das Hinat, Tochter Wahbus, für sich selbst und für ihre Kinder und Nachkommen erbaut hat. Es soll bis in alle Ewigkeit der Familie gehören. Niemand hat das Recht, das Grab zu verkaufen, zu verpfänden oder zu vermieten. Tritt dies dennoch ein, soll der Anteil am Grab an den rechtmäßigen Erben zurückgehen. Im 21. Jahr von Malichus, König der Nabatäer.“
Eine Analyse des Grabs hat ergeben, dass dort bis zu 80 Personen begraben wurden. In einem hölzernen Sarg fanden die Forscher Überreste von mindestens vier Menschen – einem Erwachsenen und drei Kindern. Anderswo lagen Knochen, Textilien und Leder sowie Schnüre mit getrockneten Datteln, die offenbar als Halsketten dienten.
In einem Grab in der antiken Stadt Hegra wurden die Überreste einer Frau gefunden, die nach einer Inschrift außen am Grab den Spitznamen „Hinat“ erhielt. Durch die Rekonstruktion ihres Gesichts erlangen Wissenschaftler neue Erkenntnisse über eine uralte Kultur.
Die Forscher sammelten möglichst viele Informationen zu den im Grab gefundenen Gegenständen. Beim Analysieren eines Schädels kam ihnen dann eine hochinteressante Idee: Was, wenn sich mithilfe von Kenntnissen aus der Forensik und Paläopathologie das Gesicht der verstorbenen Person rekonstruieren ließe, die hier begraben liegt? Es wäre der erste Versuch einer solchen Rekonstruktion, und das Ergebnis könnte die Geschichte Hegras und die nabatäische Kultur einem weltweiten Publikum zugänglich machen.
Aber wen sollten die Forscher auswählen? Bei der Analyse eines der Skelette im Grab stellte sich heraus, dass es sich um eine Frau zwischen 40 und 50 Jahren von circa 1,60 Metern Größe handelte. Die Art des Begräbnisses lässt vermuten, dass sie der mittleren Gesellschaftsschicht angehörte. Die Archäologen gaben ihr den Spitznamen Hinat, wie auf der Inschrift des Grabs, und machten sie zum Fokus des Projekts.
Als Nächstes fand ein Treffen internationaler Fachleute in London statt, bei dem der Grundstein für das Rekonstruktionsprojekt gelegt wurde. Auf die nabatäische Kultur spezialisierte Archäologen, Experten für digitale und physische Gesichtsrekonstruktion, Forensiker und Wissenschaftskommunikatoren kamen zusammen, um aus einem computergenerierten Bild eine physische Büste Hinats zu machen. Da kaum Gemälde aus der Zeit der Nabatäer gefunden wurden und es nur noch wenige menschliche Überreste gibt, mussten sich die Experten bei wichtigen Entscheidungen in Bezug auf Hinats Erscheinungsbild – Augen- und Hautfarbe, Anzahl der Falten, Kleidung, Schmuckstücke – sowohl auf Fachwissen als auch auf künstlerisches Talent verlassen.
Der forensische Künstler Philippe Froesch beschreibt, wie alle wissenschaftlichen Kenntnisse ausgeschöpft wurden, bevor die Kunst ins Spiel kam: „Wir haben anhand [bereits vorhandener] Daten ein subjektives Porträt erstellt“, so Froesch.
Froeschs Aufgabe war es, ein erstes Computerbild von Hinats Gesicht zu erstellen. Um es wirklich detailgetreu zu gestalten, hat er mit dem forensischen Pathologen Philippe Charlier zusammengearbeitet. Eine Computertomografie (CT) des Schädels ergab Hinweise auf Osteoarthritis und sogar eine Infektionskrankheit der Zähne – Elemente, die beim Formen von Hinats Mund berücksichtigt werden mussten. Anhand technischer Daten zu Gesichtsmuskulatur und Hautdicke rekonstruierte Froesch Hinats Gesichtszüge bis ins kleinste Detail – selbst einzelne Wimpern und Hautporen wurden sorgfältig angepasst.
An seinem Computer sitzend reminisziert Froesch: „Da ist immer dieser emotionale Moment, wenn man die Augenlider des Modells öffnet. Plötzlich schaust du in die Augen eines Menschen. Das ist wie eine Art Dialog, ein sehr intimer Moment.“
An diesem Punkt übergab Froesch an Ramón López, einen Biologen und Bildhauer, der sich auf realistische Reproduktionen von Menschen und Tieren spezialisiert hat. López und sein Team erstellten mithilfe von Stereolithografie – einer 3-D-Drucktechnik, bei der Modelle schichtweise aus Harz aufgebaut werden – mehrere Gussformen, aus denen schließlich die Silikonbüste Hinats entstand.
Auf Grundlage des im Grab gefundenen Schädels der Frau erstellte ein Team von Experten aus den Bereichen Gesichtsrekonstruktion und Forensik ein computergeneriertes Bild ihres Gesichts.
Anschließend brachten Mitglieder des Teams Hinats Haare Strähne für Strähne an, fügten der Hautoberfläche Make-up hinzu und befestigten Ohrringe, die nach dem Vorbild von in Hegra entdeckten Schmuckstücken gestaltet worden waren. Gekleidet wurde Hinat in handgewebtes Leinen, um die Textilien aus dem Grab zu replizieren.
Mithilfe guter Teamarbeit und der Kombination vieler verschiedener Fachgebiete erweckten die Wissenschaftler eine Frau aus einer 2000 Jahre alten Kultur zum Leben.
Und nachdem sie 20 Jahrhunderte lang in der Wüste Hegras geruht hatte, blickte Hinat – oder eine Frau, die Hinat gekannt hatte, vermutlich ein Familienmitglied – endlich in die Augen der ehrfurchtsvollen Wissenschaftler. Monatelange wissenschaftliche Präzisionsarbeit und künstlerische Innovation zahlten sich aus. Die Kuratorische Leiterin und Archäologin Dr. Helen McGauran hat auf den Punkt gebracht, welchen Wert ein solch außergewöhnliches Projekt im 21. Jahrhundert hat: „In der Geschichte der Nabatäer sind menschliche Grundeigenschaften erkennbar“, sagt sie. „Das Interesse an der Außenwelt [und] die Interaktion mit anderen Kulturen und Gemeinschaften.“ Hinats 2.000 Jahre altes Gesicht hat uns eine Menge mitzuteilen.