Landwirtschaft: Rettung für die Küken

In Deutschland werden jährlich 40 Millionen männliche Küken kurz nach dem Schlüpfen getötet, weil sie für die Industrie wertlos sind. Inga Günther geht einen anderen Weg: Sie züchtet Hühner und Hähne, die beide für den Markt geeignet sind.

Von Alexandra Polič
bilder von Inga Günther, Ökologische Tierzucht gemeinnützige GmbH
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:32 MEZ
Hühner aus ökologischer und nachhaltiger Zucht.
Hühner aus ökologischer und nachhaltiger Zucht.
Foto von Ökologische Tierzucht gemeinnützige GmbH

Am 13.06.2019 hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, dass das Schreddern und Vergasen männlicher Küken vorerst erlaubt bleibt, bis wirtschaftliche Alternativen zur Verfügung stehen. Eine solche Alternative testet eine Landwirtin in Niedersachsen.

Der Bauckhof Klein Süstedt in der Lüneburger Heide ist ein idyllischer Ort: grüne Wiesen, frische Luft, gackernde Hühner. Hinter einer weißen Abdeckplane aber befindet sich ein Raum, in dem eine Agrarrevolution geplant wird. Inga Günther, 29 Jahre, schiebt sie beiseite und betritt einen Stall, in dem 1400 Küken munter herumhüpfen. Erst drei Wochen sind sie alt. „In einem Legebetrieb wäre die Hälfte von ihnen längst tot“, sagt die Öko-Agrarwissenschaftlerin. Denn 50 Prozent der Tiere sind männlich – und damit für viele Eierproduzenten ein Abfallprodukt.

Jährlich werden mehr als 40 Millionen männliche „Eintagesküken“ in Deutschland getötet. Sie werden eingefroren, vergast oder geschreddert, landen im Müll oder in den Futtertrögen von Masttieren. Die Geflügelproduzenten züchten entweder Fleischrassen, bei denen beide Geschlechter schnell an Masse zulegen, oder Eierrassen. „Es ist genetisch unmöglich, dass Tiere gleichzeitig viele Eier legen und groß und muskulös werden“, sagt Günther. Die Brüder der Legehennen sind für die Industrie wertlos.

Zum ersten Mal mit der Praxis konfrontiert wurde Günther während eines Landbaupraktikums in der neunten Klasse. Am Ende nahm sie fünf Küken mit nach Hause und zog sie auf. Später studierte sie Landwirtschaft. Heute ist sie Geschäftsführerin der Ökologischen Tierzucht, einer gemeinnützigen GmbH, die 2015 von den Bioverbänden Demeter und Bioland gegründet wurde. Sie arbeitet daran, aus alten Hühnerrassen, die Namen tragen wie „White Rock“ und „New Hampshire“, eine neue Rasse zu züchten, bei der weibliche und männliche Tiere wirtschaftlich rentabel sind.

“Eine moralische Frage kann man nicht mit neuer Technik beantworten.”

von Inga Günther

Der Bauckhof ist einer von vier Versuchsbetrieben. Hier wachsen Hühner aus sechs verschiedenen Kreuzungen artgerecht auf. Ziel ist es, dass die Hennen 220 Eier pro Jahr legen und die Hähne innerhalb von 16 Wochen ein Gewicht von 2,7 Kilo erreichen. „Das Tier kann in beiden Bereichen ein bisschen weniger, weil wir bewusst auf Höchstleistung verzichten“, sagt Günther. Die Züchtung des sogenannten Zweinutzungshuhns ist teuer. Das Unternehmen ist auf Spenden und Fördergelder angewiesen und wird vom Bundesagrarministerium unterstützt. Gleichzeitig hat die Behörde die Entwicklung eines Verfahrens in Auftrag gegeben, mit dem das Geschlecht des Kükens schon im Ei bestimmt werden kann. So könnte man Eier vernichten, bevor die Embryonen Nervenzellen entwickeln.

Dazu hat Günther eine klare Meinung: „Einer moralischen Fragestellung kann man nicht mit einer technischen Antwort begegnen.“ Dass das Leben ihrer Hühner trotz allem im Schlachthof endet, ist für sie keine Doppelmoral. „Ein Nutztier ist kein Haustier“, sagt sie. Und die Nachfrage ist hoch: 595 Hühner verzehrt ein Deutscher laut „Fleischatlas“ der Heinrich-Böll-Stiftung in seinem Leben.

Inga Günther wiegt also weiterhin täglich Küken, misst Schalendicken. Ein Ei des Zweinutzungshuhns wird voraussichtlich zwischen 60 und 70 Cent kosten – aktuell kosten Bioeier maximal 53 Cent.

Aber Günther ist zuversichtlich, dass es genug Menschen geben wird, die sagen: Das ist es uns wert.

Der Artikel wurde am 13.06.2019 aktualisiert.

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