Die Welt der Parasiten: schädlich oder schützenswert?

Sie sind gefährlich, angriffslustig und eklig. Doch sie halten unser Ökosystem in Balance und benötigen daher Schutz.

Von Erika Engelhaupt
Veröffentlicht am 18. Aug. 2022, 11:52 MESZ
Parasiten

Sie sind gefährlich, angriffslustig und eklig. Doch sie halten unser Ökosystem in Balance und benötigen daher Schutz.

Foto von Jarun Ontakrai / Shutterstock.com

In ihrer Jugend träumte Chelsea Wood davon, Meeresbiologin zu werden und Haie oder Delfine zu erforschen. Aufregende Tiere, für die Biologen die Bezeichnung charismatische Megafauna gefunden haben. Aber während eines Praktikums an der Uni blickte sie durch ein Mikroskop auf die Eingeweide einer Schnecke. Sie hatte die Tiere entlang der Küste von Long Island oft vom Felsen gepflückt und in Eimern gesammelt, doch noch nie hatte sie in ihr Inneres geblickt. Nun sah sie „Tausende von kleinen, weißen, wurstförmigen Dingern, die aus dem Körper der Schnecke herauskamen“. Die Würste waren Larven des Plattwurms Cryptocotyle lingua, eines verbreiteten Fischparasiten. Durch das Mikroskop betrachtet, hatten sie zwei dunkle Augenflecken, wodurch sie überraschend niedlich wirkten. „Ich konnte nicht glauben, dass ich Schnecken schon so lange angeschaut und all die coolen Dinge verpasst habe, die in ihnen passieren“, sagt Wood, heute Parasitenexpertin an der University of Washington.

Sie zählt zu einer neuen Naturschutzbewegung, die diesen auf den ersten Blick kaum liebenswerten Teil der Welt retten möchte. Fast die Hälfte aller bekannten Tiere sind Parasiten. Eine Studie geht davon aus, dass ein Zehntel von ihnen in den nächsten 50 Jahren aufgrund des Klimawandels, des Verlusts ihrer Wirte und vorsätzlicher Bekämpfung aussterben könnte; andere Schätzungen mutmaßen gar, dass bis zu ein Drittel verschwinden könnte. Im Moment scheint das jedoch nur wenige Menschen zu interessieren. Unter den mehr als 40000 Arten, die auf der Roten Liste der Weltnaturschutzorganisation IUCN als „bedroht“ geführt werden, befindet sich nur eine Handvoll Parasiten. Weil sie irgendwann in ihrem Leben in oder auf und dabei von einem Wirt leben, sind sie die Parias der Tierwelt. Dabei haben sich die meisten Parasiten so entwickelt, dass sie ihre Wirte nicht töten; keineswegs alle verursachen überhaupt einen merklichen Schaden. Den Menschen befällt ohnehin nur ein kleiner Prozentsatz.

Parasiten: Stabilisatoren für Ökosysteme

Wissenschaftler warnen vor schlimmen Folgen, falls wir die Misere der Parasiten weiter ignorieren. Nicht nur sind einige für den Menschen nützlich, darunter medizinische Blutegel. Langsam beginnen wir auch zu verstehen, dass sie eine stabilisierende Rolle in Ökosystemen spielen. Manche Experten meinen, es gebe sogar ein ästhetisches Argument für ihre Rettung. Wer den Ekelfaktor überwindet, kommt kaum umhin, ihren Einfallsreichtum zu bewundern – vom Krebstier, dass zur Zunge eines Fisches wird, bis zur Juwelwespe, die Kakerlaken unter ihre Kontrolle bringt. „Die Leute halten Parasiten für eklig, schleimig, schlaff und sich windend. Das stimmt manchmal“, sagt Wood. „Aber wenn man sie unter dem Mikroskop betrachtet, sind sie einfach umwerfend schön.“

 

Die Varroamilbe vermehrt sich in den Waben von Bienen, ehe sie die Tiere befällt. Sie gilt als einer der wichtigsten Schädlinge für Bienen weltweit.

Foto von xiSerge / Pixabay.com

Parasitismus als Lebensweise hat sich über Milliarden von Jahren immer neu entwickelt, von den kleinsten, einfachsten Mikroben bis zu den komplexesten Wirbeltieren. Es gibt parasitäre Pflanzen, parasitäre Vögel, eine verwirrende Vielfalt parasitärer Würmer und Insekten und sogar ein parasitäres Säugetier – die Vampirfledermaus, die überlebt, indem sie das Blut von Kühen und anderen Säugetieren leckt (nicht saugt, wohlgemerkt). Dennoch haben wir kaum damit begonnen, alle Parasiten zu identifizieren, geschweige denn ihre Lebensweise zu begreifen. „Das ist einfach nichts, das wir jemals wirklich priorisiert haben“, sagt Skylar Hopkins, Ökologin an der North Carolina State University. Vor ein paar Jahren trommelte Hopkins daher eine Gruppe von Wissenschaftlern zusammen, die sich für den Parasitenschutz interessierten. 2020 präsentierte die Gruppe in der Fachzeitschrift Biological Conservation den allerersten Plan zur Rettung von Parasiten.

Nützliche und schädliche Parasiten

Ein Problem ist das sogenannte Co-Extinktionsparadoxon. Da Parasiten per Definition auf andere Arten angewiesen sind, sind sie besonders anfällig. Nehmen wir etwa Haematopinus oliveri, die blutsaugende Schweinelaus. Das kleine Insekt lebt vom gefährdeten Zwergwildschwein in den Ausläufern des Himalaya. Dann gibt es noch die Kalifornische Kondorlaus, die durch eine ironische Wendung zum inoffiziellen Aushängeschild für den Parasitenschutz wurde: In den 1970er-Jahren begannen Biologen, den Kalifornischen Kondor verzweifelt zu retten, und mühten sich, die Vögel in Gefangenschaft aufzuziehen. Ein Teil des Protokolls bestand darin, jeden Vogel mit Pestiziden zu entlausen, in der Annahme, dass Parasiten schlecht für Kondore seien (ob sie das tatsächlich sind, ist unklar). Die Kalifornische Kondorlaus wurde seitdem nicht mehr gesehen. In ähnlicher Weise wurde der medizinische Blutegel aus New England seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr gesichtet, und Überfischung hat wahrscheinlich auch dem Meeresegel Stichocotyle nephropis den Garaus gemacht, der von Rochen abhängig war. Unzählige andere parasitäre Würmer, Protozoen und Insekten sind mutmaßlich mit ihrem Wirt untergegangen.

Der Verlust dieser Mitläufer des Lebens scheint keine große Sache zu sein, doch Ökologen glauben, dass ihre Tilgung den Untergang des Planeten bedeuten könnte. Ohne Parasiten, die sie in Schach halten, würden die Populationen einiger Tiere explodieren, ähnlich wie invasive Arten, die keine natürlichen Feinde mehr haben. Dies würde das gesamte Ökosystem aus der Balance bringen. Viele Parasiten haben Strategien entwickelt, um zu ihrem nächsten Wirt zu gelangen, indem sie etwa den Wirt, in dem sie sich befinden, manipulieren, was diesen dazu bringt, sich von einem Raubtier fressen zu lassen. Nematomorphe Würmer zum Beispiel reifen in Grillen heran, müssen dann aber zur Paarung ins Wasser. Sie beeinflussen das Gehirn der Grillen und treiben die Insekten dazu, in Bäche zu springen, wo sie zu einer wichtigen Nahrungsquelle für Forellen werden. Ähnliche Phänomene ernähren Vögel, Katzen und andere Raubtiere auf der ganzen Welt.

Selbst die menschliche Gesundheit würde durch die Ausrottung von Parasiten nicht nur profitieren. In den USA etwa sind Autoimmunkrankheiten dort seltener, wo es noch Darmparasiten gibt. Nach einer Theorie hat sich das menschliche Immunsystem zusammen mit einer Gruppe von Würmern und einzelligen Parasiten entwickelt. Erst als wir diese ausmerzten, begann das Immunsystem, uns selbst anzugreifen. Einige Menschen mit Morbus Crohn infizieren sich sogar absichtlich mit Darmwürmern mit dem Ziel, das ökologische Gleichgewicht in ihrem Darm wiederherzustellen – allerdings mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Gleichwohl möchten die Wissenschaftler nicht alle Parasiten retten – der Guineawurm darf verschwinden. Er wächst im Bauch einer Person auf bis zu zwei Meter Länge heran, wandert zum Bein und tritt schmerzhaft durch den Fuß aus. Auch Bobbi Pritt vertritt eine differenzierte Position. Als medizinische Direktorin des Labors für Humanparasitologie der Mayo Clinic identifiziert Pritt Parasiten, die im ganzen Land und in jedem Körperteil vorkommen. Sie schreibt einen Blog (Creepy Dreadful Wonderful Parasites) zum Thema und verbringt ihre Wochenenden damit, die Zecken vor ihrer Urlaubsunterkunft zu untersuchen. Als Ärztin steht sie für die Ausrottung von Parasiten dort, wo sie Krankheiten und Leiden verursachen. „Aber als Biologin“, sagt sie, „kommt mir die Idee, Lebewesen absichtlich zu vernichten, einfach nicht besonders klug vor.“ Letztlich besteht das Ziel der Parasitenschützer nicht darin, alle Menschen dazu zu bewegen, diese Wesen zu lieben. Sie mahnen vielmehr zur Zurückhaltung – weil wir so vieles an ihnen noch nicht verstehen.

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