Bionische Innovationen, inspiriert von den kälteren Gefilden der Erde

Von Frostschutzproteinen im Fischblut bis hin zu saubereren Enzymen in marinen Mikroorganismen, die kälteren Klimazonen der Erde sind voller bemerkenswerter Innovationen. Und die Menschen fangen an, sie nachzuahmen …

Von Johnny Langenheim
Veröffentlicht am 17. Dez. 2020, 10:24 MEZ

Eisbären sehen weiß aus, aber ihr Fell ist in Wahrheit transparent – es besteht aus winzigen hohlen Haaren, die Licht reflektieren und wasserfest und extrem leicht sind. Diese Eigenschaften dienten als Inspiration für innovative Aerogel-Materialien für den Einsatz in der Luft- und Raumfahrtindustrie. 

Foto von Andy Mann, National Geographic

Warum frieren Fische nicht in der Arktis ein? Das ist eine Frage, die ein Kind stellen könnte – und bis vor relativ kurzer Zeit hatten wir keine gute Antwort darauf. Die Natur steckt voller solcher Geheimnisse, die Wissenschaftlern Kopfzerbrechen bereiten und sogar eine Inspiration für Superheldenfilme darstellen. 

Aber in den letzten Jahrzehnten haben wir Menschen nicht nur die zugrunde liegenden Mechanismen identifiziert. Wir haben auch gelernt, wie man sie nachbilden kann und so ein völlig neues Forschungs- und Entwicklungsgebiet mit einer Kombination aus Wissenschaft, Technologie und Ingenieurskunst entwickelt: die Bionik.

Aber zurück zu diesen Fischen. Die arktischen Oberflächenwassertemperaturen im Winter liegen bei etwa -1,8 °C, was in etwa dem Gefrierpunkt von Salzwasser entspricht. Aber Fischblut gefriert bei ca. -0,9 °C – wodurch die Arktis auf den ersten Blick nicht als Lebensraum geeignet sein dürfte. Es sei denn, man hat Frostschutzmittel im Blut.

In den 1960er-Jahren entdeckte der Molekularbiologe Arthur DeVries ein Protein im Fischblut, das die Bildung von Eispartikeln verhindert, wodurch der Gefrierpunkt des Blutes effektiv gesenkt wird. Was man damals nicht verstand, war die Wirkungsweise des Proteins. 
 

Von der Natur inspirierte Wissenschaft
Auf der Suche nach nachhaltigeren Waschmitteln setzen Forscher auf eines der größten Phänomene der Natur.

Erst mehr als 40 Jahre später haben Wissenschaftler den molekularen Prozess dahinter herausgefunden : Das Protein verlangsamt die normalerweise sehr schnelle Bindungsbildung in Wassermolekülen und verhindert so die Entstehung von Eiskristallen. Das ist ein ziemlich raffinierter Trick, der viel effizienter ist als die Wirkung von Frostschutzmitteln, die häufig für Windschutzscheiben verwendet werden und aktiv Verbindungen mit Wassermolekülen eingehen müssen, um zu funktionieren.

Heute werden Frostschutzproteine (antifreeze proteins, AFPs) für den Einsatz in einer Reihe von Produkt- und Dienstleistungskategorien entwickelt – von der Weichhaltung und Kristallfreiheit von Eiscreme über die Konservierung von Zellen und Gewebe für biomedizinische Forschung und Behandlungen bis hin zur Herstellung von extrem haltbarem Beton, der beständig gegen Frost-Tau-Schäden ist.

Eisbären haben eine ganz andere Methode, nicht zu erfrieren – das ist genauso bemerkenswert, da sie manchmal tagelang im arktischen Wasser schwimmen. Sie haben drei Anpassungen entwickelt, um warm zu bleiben: Erstens eine dicke Unterhautfettschicht, zweitens eine schwarze Haut, die die Infrarotstrahlung der Sonne absorbiert und die Körpertemperatur erhöht und drittens das dichte, isolierende Unterfell und das Fell mit hohlen Haarschäften, die das Licht reflektieren. Letzteres diente Forschern als Inspiration für hochmoderne Materialien, mit denen wir den Weltraum weiter erforschen.

BELIEBT

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    Fische in der Arktis haben ein natürliches Frostschutzmittel entwickelt, um bei Wassertemperaturen in der Nähe des Gefrierpunkts überleben zu können. Chemiker wenden nun dasselbe Prinzip an, um eine neue Generation hocheffizienter Frostschutzmittel für den Einsatz in einer Reihe von Branchen zu entwickeln.

    Foto von Paul Nicklen, National Geographic

    Eisbären sind unter den Säugetieren einzigartig, da ihr Haar hohl ist – was auch für ihr weißes Erscheinungsbild verantwortlich ist. Die Struktur jeder Faser optimiert die Wärmespeicherung und Wasserbeständigkeit, während sie gleichzeitig extrem leicht und flexibel bleibt – sie weisen daher alle wünschenswerten Qualitäten in der Klasse der ultraleichten Materialien namens Aerogele auf.

    Letztes Jahr hat ein Team von Wissenschaftlern der University of Science & Technology of China (USTC) ein kohlenstoffbasiertes Aerogel entwickelt , das die hohle Struktur dieser Haare nachahmt. Durch das Zusammenweben von mikroskopisch kleinen, hohlen Kohlenstoffröhrchen konnten sie einen kleinen Materialblock erzeugen , der leichter ist als die meisten anderen Aerogele und gleichzeitig eine bessere Hitze- und Wasserbeständigkeit als Eisbärhaare bietet. Sobald die Forscher ihren Produktionsprozess im Labor im industriellen Maßstab replizieren können, könnte das neue Material eine breite Anwendung in der Luft- und Raumfahrt- und Bauindustrie finden.

    Und dann gibt es die Verbindung zwischen Kaltwasseralgen und Waschmittel. Sogenannte Bio-Waschmittel verwenden seit den Sechzigerjahren Enzyme, um die Waschleistung zu verbessern, und Wissenschaftler arbeiten kontinuierlich an deren Weiterentwicklung – wobei sie wieder in der Natur nach Inspiration suchen. Ariel wandte sich einem winzigen Mikroorganismus zu, der auf Meeresalgen lebt …

    Bakterien, die auf Meeresalgen leben, haften mit einem Biofilm an der Pflanzenoberfläche. Wenn sie bereit sind, weiterzuziehen, setzen sie ein Enzym frei, um die Verbindung zu lösen; die Eigenschaften dieses Enzyms wurden jetzt für die Verwendung in Waschmittel optimiert.

    Foto von Scott Leslie, Minden Pictures, National Geographic

    Der Mikroorganismus – ein Bakterium – verwendet den Seetang als Nahrungsquelle und als sicheren Zufluchtsort und bindet sich an dessen Oberfläche. Wenn das Bakterium bereit ist, weiterzuziehen, setzt es ein Enzym frei, um die Verbindung zur Alge zu lösen und sich von der Strömung abtreiben zu lassen. Forscher an der Newcastle University erkannten, dass das Enzym für Konsumgüter verwendet werden konnte. 

    Das bedeutet nicht, dass Wissenschaftler Algen zur Herstellung von Reinigungsmitteln ernten. Das spezifische Phosphodiesterase-Enzym aus der Natur lieferte lediglich einen Prototyp, den die Forscher unter der Leitung von Ariel Research Fellow Neil Lant in Zusammenarbeit mit dem Biotech-Partner Novozymes zur Entwicklung eines Proteins verwendeten, das die Leistung der Waschmittel von Ariel erheblich verbesserte. Zunächst musste ein ähnliches Enzym mit optimaler Leistung in der Natur identifiziert werden. Danach wurde die Aminosäuresequenz optimiert, um das erforderliche Gleichgewicht von Stabilität und Leistung in flüssigem Waschmittel zu erhalten.

    Das Endprodukt ist Actilift+ Power, ein patentiertes Enzym , das selbst in kälterem Wasser sehr effektiv klebrige Verschmutzungen von Textilien entfernt und das während der Abwasseraufbereitung in harmlose Bestandteile aufgebrochen wird.

    Die Bionik führt uns den riesigen Einfallsreichtum der Evolution vor Augen. Nicht nur die fantastischen Eigenschaften, die wir in der Natur finden, sind bemerkenswert. Die Evolution hat eine Spezies – uns Menschen – hervorgebracht, die sich die Genialität der Natur in neuen Bereichen zunutze machen kann, von Raumschiffen bis hin zu Pods, die in unseren Waschmaschinen für saubere Wäsche sorgen.

    Und da die Natur die Quelle all dieser Innovation ist, uns eingeschlossen, müssen wir sie schützen. Es gibt viele kleine Dinge, die wir tun können, um etwas zu bewirken. Beispielsweise stammen in Europa durchschnittlich bis zu 60 % der Treibhausgasemissionen, die durch Waschgänge entstehen, aus dem Erhitzen des Wassers in Waschmaschinen – mehr als durch Verpackung oder Inhaltsstoffe. Senkt man die Temperatur um nur wenige Grad, kann man den Energieverbrauch drastisch reduzieren. 

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