Der mikrobielle Wandel, der die Arktis für immer verändern könnte

Kleine Mikroorganismen in der Arktis reagieren auf das sich erwärmende Klima – und das könnte Konsequenzen für das Leben auf der gesamten Erde haben.

Von Johnny Langenheim
Veröffentlicht am 14. Dez. 2020, 17:19 MEZ
Jedes Grad zählt
In der einsamen Arktis untersuchen Birgitte und Martin die Auswirkungen des Klimawandels auf die Umwelt und fragen sich, wie sich eine Veränderung unserer täglichen Gewohnheiten positiv auswirken könnte.

Martin Nielsen greift über das Seitendeck der Porsild und ergreift das 100 Meter lange Bongonetz, das aus dem arktischen Wasser gezogen wird. Er wird dabei von dem Besatzungsmitglied Eli Martensen unterstützt, einem Inuit-Fischer, der bei diesen monatlichen Ausfahrten regelmäßig dabei ist. 

Das Netz ist für den Fang einiger der kleinsten Organismen des Ozeans konzipiert: Zooplankton. Nachdem es an Bord gezogen wurde, überträgt der Molekularbiologe Nielsen – der derzeitige wissenschaftliche Leiter der Arktisstation auf der Diskoinsel vor der Westküste Grönlands – den Fang in einen Probenbehälter und hält ihn hoch. Unzählige durchsichtige, krebsartige Tierchen treiben im Wasser wie in einer Schneekugel.

„Wenn man über Mikroorganismen im Ozean spricht, muss man sich bewusst machen, dass es unglaublich viele davon gibt“, erklärt Nielsen. „[Sie] sind ein wichtiger Teil der Nahrungskette.“

Martin Nielsen steht am Bug des Forschungsschiffs Porsild, während es an den Eisbergen vor der Küste der Diskoinsel vor Westgrönland vorbeifährt.

Foto von National Geographic

Neben Bakterien und Viren sind Zooplankton (Tiere) und Phytoplankton (Pflanzen) die am häufigsten vorkommenden Lebewesen im Ozean. Sie sind eine primäre Nahrungsquelle für Fische und Meeressäugetiere, darunter große Wale wie Buckelwale und Nordkaper. An einem einzigen Tag können diese Giganten fast tausend Kilogramm Krill, eine Art von Zooplankton, und kleine Fische wie Lodden, die sich davon ernähren, fressen.

Wissenschaftler sammeln seit Jahren Proben von Mikroorganismen in der Diskobucht vor der Küste Westgrönlands und untersuchen sie. „Die Arktisstation befindet sich seit mehr als 100 Jahren hier“, erklärt Martin. „Wenn man Wissenschaft betreibt, ist es wirklich wichtig, Zugang zu solchen langen kontinuierlichen Messungen zu haben.“

Seit 1906 protokollieren Forscher hier sorgfältig Daten zu allem, von der Bodenzusammensetzung über die Wolkendecke bis hin zum Klima. Und während Wissenschaftler vorsichtig sind, Schlussfolgerungen aus diesen Daten zu ziehen, sind zwei Dinge sicher: Die Arktis erwärmt sich schneller als jeder andere Ort auf der Welt und ihre Ökologie durchläuft große Veränderungen in extrem kurzen Zeiträumen.

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    Martin Nielsen überträgt Proben mit Phytoplankton und Zooplankton von seiner Forschungsstätte, einem offenen Meeresabschnitt vor der Küste der Diskoinsel. Mit der Zeit ermöglichen diese Proben es Forschern, Populationsschwankungen und mögliche Zusammenhänge zum Klimawandel aufzuzeichnen.

    Foto von National Geographic

    Zurück in der Arktisstation schaut Nielsen durch ein Mikroskop auf eine Petrischale mit Ruderfußkrebsen. Diese winzigen Krustentiere machen den Großteil des pelagischen Zooplanktons aus. Durch das Fenster ist eine Gruppe von Eisbergen zu sehen. Die Wale versammeln sich normalerweise im Sommer zur Nahrungssuche hier, aber dieses Jahr sind sie nicht erschienen, was darauf hindeutet, dass auch die Lodden, die sie fressen, nicht vor Ort sind. „Wir beobachten einen Wandel in der Populationsdynamik“, sagt Martin. „Eine Verschiebung der vorhandenen und dominanten Arten.“

    Ein Großteil davon hat mit dem sich ändernden Klima zu tun. „Phytoplankton und Zooplankton sind stark vom Klima abhängig… hier oben sehen wir also, dass die Menge des arktischen Eises für diese kleinen Gemeinschaften wirklich wichtig ist.“ 

    Laut Nielsen können einige Arten von Phytoplankton und Zooplankton unter den wechselnden Bedingungen gedeihen, während andere verschwinden. Das hat eine Kettenreaktion für Lebewesen zur Folge, deren Ernährung von ihnen abhängt, von Fischen über Wale bis hin zum Menschen. Aktuelle Forschungen in der Framstraße zwischen Ostgrönland und dem norwegischen Archipel Spitzbergen deuten darauf hin, dass bei beschleunigter Eisschmelze nährstoffreiche eisbewohnende Algen in den Sommermonaten durch Phytoplankton ersetzt werden können, das in offenem Wasser gedeiht. Letztere haben einen niedrigeren Fettgehalt als ihre eisgebundenen Verwandten, die nahrhafter für Krill und Fische sind, von denen wiederum die Wale abhängig sind. „Alles ist einfach zu instabil und schwer vorherzusagen“, sagt Martin.

    Birgitte Danielsen ist eine Geographin, die sich auf Bodenkunde und den Klimawandel spezialisiert hat. Sie ist auch Martins Freundin. „Ich bin in die Arktis gezogen, um die Feldforschung für meine Doktorarbeit über die unterirdische Gasdynamik in der Arktis zu beginnen“, erklärt sie. Diese Feldforschung beinhaltet eine 45-minütige Wanderung zu einem Ort auf der Tundra direkt unter einem Gletscher. Hier zeichnet sie CO2- und Methanwerte in verschiedenen Tiefen sorgfältig auf. „Wir wollen untersuchen, wie diese extremen Wintererwärmungsereignisse den Boden und die Mikroorganismen beeinflussen und wie viel Kohlenstoff sie als CO2 in die Atmosphäre freisetzen werden.“ 

    Birgitte Danielsen protokolliert den Kohlendioxid- und Methangehalt des Bodens an ihrer Forschungsstätte in der Tundra, etwa eine Stunde von der Arktisstation im Landesinneren. Die Klimaerwärmung kann dazu führen, dass mikrobielle Gemeinschaften mehr Treibhausgase in die Atmosphäre freisetzen.

    Foto von National Geographic

    Wie bei marinen Mikroorganismen ist es schwierig, aus diesen Daten eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. Es ist jedoch durchaus möglich, dass durch die Erwärmung eine Rückkopplungsschleife entsteht, bei der die mikrobielle Aktivität im Boden zunimmt und sich die Treibhausgasemissionen erhöhen. „Ich denke, dass die Mikroorganismen im Boden nach den Kleinstlebewesen im Meer die zahlreichsten auf dem Planeten sein könnten“, sagt Birgitte. „Und man sieht, dass die Temperatur hier große Auswirkungen hat.“ 

    Was das alles für Grönland und die Arktis bedeutet, ist noch immer unklar. Aber in einer so extremen Umgebung, an der Front des Klimawandels, ist die Unvorhersehbarkeit sehr besorgniserregend. „Die Daten und wissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass die Menge des Meereises abnimmt und instabil wird, und wir hören das Gleiche von den Einheimischen, die das Meereis tatsächlich im Alltag nutzen“, sagt Martin. 

    Grönlands Eisschild ist der zweitgrößte der Welt nach der Antarktis. Die Insel trägt derzeit am stärksten zum weltweiten Anstieg des Meeresspiegels bei und hat laut einer Studie der NASA und der Europäischen Weltraumagentur zwischen 1992 und 2018 3,8 Billionen Tonnen Eis verloren. Forscher gehen davon aus, dass der Meeresspiegel bis 2100 allein aufgrund des abnehmenden Grönländischen Eisschilds um 8 bis 13 cm steigen wird, wodurch 100 Millionen Menschen jährlich von Überschwemmungen betroffen sein werden.

    Birgitte und Martin sind schon seit mehr als einem Jahr auf der Diskoinsel, wo die Sonne im Winter kaum über den Horizont steigt und im Sommer kaum untergeht. Ihr Bungalow in der Nähe der Labors und Forschungseinrichtungen der Arktisstation ist eine kleine Oase voller Pflanzen, die sie aus Dänemark mitgebracht haben. Aber durch ihren Aufenthalt hier sind sie sich der Umweltauswirkungen ihres eigenen Verhaltens bewusst geworden. 

    Martin Nielsen untersucht Zooplanktonproben im Labor der Arktisstation. Diese sind eine wichtige Nahrungsquelle, aber der Klimawandel kann ihre Verbreitung verändern.

    Foto von National Geographic

    „Durch unser Leben hier haben wir erkannt, dass unsere täglichen Gewohnheiten tatsächlich Auswirkungen auf [das] Klima haben“, sagt Birgitte. 

    „Wir versuchen also, nachhaltig zu leben. Wir versuchen, Energie zu sparen, wann immer wir können“, fährt Martin fort. Dazu gehören das Ausschalten der Lichter, die Wiederverwendung und das Recycling, wenn möglich, das Kompostieren von organischem Abfall und das Waschen von Kleidung in kürzeren Waschgängen bei niedrigeren Temperaturen. 

    Martin blickt aus dem Fenster auf einen Ozean voller Mikroorganismen, der Grundlage der Nahrungskette des Meeres. „Kleinigkeiten sind wirklich wichtig“, sinnt er nach. „Das Klima erwärmt sich. Das ist eine Tatsache und wir müssen etwas dagegen unternehmen.“


    In Europa stammen durchschnittlich bis zu 60 % der Treibhausgasemissionen, die durch Waschgänge entstehen, aus dem Erhitzen des Wassers in Waschmaschinen – mehr als durch Verpackung oder Inhaltsstoffe. Senkt man die Temperatur um nur wenige Grad, kann man den Energieverbrauch drastisch reduzieren. 

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