Eingeschleppte Pilze sind beunruhigend anpassungsfähig 

Eingeschleppte Pilze erweisen sich als enorm anpassungsfähig. Welche Folgen hat ihre Verbreitung für das neue Ökosystem?

Von Sarah Gibbens
Veröffentlicht am 12. Apr. 2024, 13:29 MESZ
Buchen-Schleimrüblinge

Buchen-Schleimrüblinge wie die hier abgebildeten, die eine Buche auf dem Olymp „überragen“, werden zwischen zweieinhalb und acht Zentimeter groß. 

Foto von Agorastos Papatsanis

Anne Pringle inspizierte gerade Pilze auf einem Feld nördlich von San Francisco, als sie sich in einer misslichen Lage wiederfand. Sie stand mitten in einem Meer von einem der giftigsten Pilze der Welt: Amanita phalloides, dem Grünen Knollenblätterpilz, der vielsagend auch „Grüner Mörder“ genannt wird. „Ich konnte keinen Schritt tun, ohne draufzutreten“, sagt Pringle, „ein Tal des Todes.“ Das ist 20 Jahren her. Damals forschte Pringle, heute Mykologin an der University of Wisconsin-Madison, in Berkeley. Es kursierte das Gerücht, dass der Giftpilz trotz seiner weiten Verbreitung nicht von der kalifornischen Goldküste stammte. Sechs Jahre und etliche DNA-Sequenzierungen später gelang Pringle der Nachweis, dass der Grüne Knollenblätterpilz tatsächlich ein Eindringling war – eine Pilzart, die ursprünglich wohl in Europa beheimatet war.

Grüne Knollenblätterpilze sind weltweit für die meisten Pilzvergiftungen verantwortlich. Der Wulstling, durchschnittlich zwölf Zentimeter hoch mit einem zumeist blass gelbgrünen Hut, kann leicht mit einer essbaren Art verwechselt werden. Seine starken Toxine greifen den menschlichen Körper bereits sechs Stunden nach dem Verzehr an und verursachen zunächst heftige Brechdurchfälle, ehe die Phase der schweren Leberschädigung beginnt. Immer wieder sterben Menschen nach dem Verzehr auch nur von Teilen der Fruchtkörper, zuletzt traf es im August 2023 drei Menschen in Australien. Grüne Knollenblätterpilze sind Mykorrhizapilze, aus dem Griechischen mykes für Pilz und rhiza für Wurzel.

​Die verborgene Kraft der Pilze

Verborgen in der Erde bilden sie ein Gewebe aus feinsten Zellfäden, den Hyphen, die den Boden durchdringen sowie die Wurzeln zahlreicher Bäume umwachsen und miteinander verknüpfen. Zwischen den Fäden fließen elektrische Impulse, und die Symbiosepartner verständigen sich über chemische Botenstoffe. Das äußerst komplexe Netzwerk, das Mycel, fasziniert und beunruhigt Wissenschaftler gleichermaßen. Wir wüssten noch viel zu wenig über das Pilzreich, das alle Kontinente durchzieht, sagt Pringle, und darüber, was genau vonstatten geht, wenn die Netzwerke neue Synapsen bilden. Seit unsere Welt sich zunehmend vernetzt, verbreiten sich auch vermehrt Pilze rund um den Globus. Meist werden sie mit importierten Pflanzen eingeschleppt und ihr Sporenpulver über Hunderte Kilometer mit dem Wind davongetragen. Als Folge des Klimawandels keimen sie nun auch in Ökosystemen aus, die früher zu kalt und zu trocken waren.

Pilze sind eine verborgene Dimension unserer Welt, die wir gerade erst verstehen lernen. Auf den ersten Blick gedeihen Pilze so wie Pflanzen im Boden und bilden ihre Fruchtkörper auf Wiesen und im Wald. Andere Merkmale sind wiederum gar nicht pflanzenähnlich. Während die Zellwände von Pflanzen überwiegend aus Zellulose bestehen, enthalten Pilzzellwände Chitin, einen Stoff, der auch im Exoskelett von Insekten und Krebstieren vorkommt. Pilze sind zudem heterotroph, das heißt, sie nutzen ebenso wie Tiere fremde Biomasse als Nahrungsquelle. Entweder zersetzen sie zum Beispiel Holz und abgestorbene Pflanzenreste, um Energie zu gewinnen, oder sie hängen sich an eine Pflanze, ein Tier oder einen anderen Pilz als Parasit oder als Symbiont. Ohne Pilze würden sich tote Pflanzen, Pilzfruchtkörper und Tierkadaver häufen und die meisten Bäume hätten es schwer, an essenzielle Nährstoffe zu kommen.

Das Sporenpulver eines Rehbraunen Dachpilzes tanzt unter seinen Lamellen in der Luft und läutet die nächste Generation und den nächsten Wachstumszyklus ein. Die Aufnahme entstand in Griechenland auf dem Olymp.

Foto von Gorastos Papatsanis

​Pilze: beunruhigend anpassungsfähig

Nach heutiger Kenntnis sind die Pilze näher mit den Tieren als mit den Pflanzen verwandt, bilden aber eine Gruppe für sich. Seit einer Milliarde Jahren haben sich Pilze entwickelt, um in bestimmten Umgebungen zu leben, zuweilen in Partnerschaft mit nur einer anderen Art. Dutzende oder gar Tausende Kilometer weit von ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet entfernt, können diese komplexen Beziehungen jedoch völlig aus dem Ruder laufen. „Bei Pilzpathogenen kann das verheerende Folgen haben“, sagt Stephen Parnell, Epidemiologe an der University of Warwick, der die Ausbreitung von Pflanzenkrankheiten modelliert. Vielfältige Vermehrungsstrategien helfen Pilzen beim Überleben. Sporen verschiedener Arten, die durch die Luft transportiert werden, können sich in einem neuen Lebensraum vermischen; die Fäden, die ihre unterirdischen Netzwerke bilden, können miteinander verwachsen. Einige Pilze können sich auch ungeschlechtlich fortpflanzen. In einer Zeit, in der sich Klima und Natur in Rekordgeschwindigkeit verändern, so Parnell, machen diese Fortpflanzungseigenschaften die Pilze einzigartig – und beunruhigend anpassungsfähig.

Unaufhaltsam können sich fremde Pilze in neuen Umgebungen ausbreiten und die Topografie der Umgebung dramatisch verändern. Amerikanische Edelkastanien waren einst die dominanten Giganten in den Appalachen. Anfang des 20. Jahrhunderts landete jedoch der in Ostasien beheimatete Cryphonectria parasitica auf amerikanischem Boden. Der Pilz verursacht Kastanienrindenkrebs und hat innerhalb von 100 Jahren um die vier Milliarden Bäume vernichtet. Ein anderer Pilz, als Chytridpilz bekannt, rafft weltweit Frösche und andere Amphibien dahin. Man nimmt an, dass die Pilzlinie auf der Koreanischen Halbinsel entstanden ist. Durch den Handel mit Amphibien hat er sich im Lauf der letzten 150 Jahre rund um den Globus verbreitet und steht mit dem Rückgang von mindestens 500 Amphibienarten in Verbindung. „Wir bewegen biologisches Material binnen weniger Stunden über Kontinente hinweg, die Jahrmillionen getrennt waren“, sagt Ben Scheele, Ökologe an der Australian National University. „Wir haben ein dysfunktionales neues Pangäa erschaffen.“

​Die Suche nach dem Gegenmittel

Im vergangenen Herbst sammelte Pringle mehrere Hundert Grüne Knollenblätterpilze in Großbritannien, Ungarn, Frankreich und Polen. Die Proben könnten den Wissenschaftlern helfen zu verstehen, warum die Pilze in bestimmten Ökosystemen besonders gut gedeihen. Andere Forscher suchen nach einem Fressfeind oder Pathogen, den sie replizieren können – man nennt die Methode biologische Kontrolle. Das wirksamste Mittel ist die Vorbeugung: die Überwachung der Einfuhr fremder Arten und die Untersuchung von Importen auf Pilze. Die Bekämpfung eingeschleppter Arten kann nämlich höchst aufwendig werden. Um die Amerikanische Kastanie zu retten, arbeiten Wissenschaftler an Zuchtprojekten, die auch umstrittene Genmanipulationen beinhalten. Und während einzelne Frösche geheilt werden können, ist es praktisch unmöglich, einen einmal eingeschleppten Pilz wieder auszurotten.

Immerhin haben neue Erkenntnisse darüber, wie der Grüne Knollenblätterpilz sein Gift produziert, den Weg für ein mögliches Gegenmittel geebnet. Einige Start-ups und gemeinnützige Organisationen entwickeln aktuell Lösungen, um Pilzen zu helfen, uns zu helfen. Simmons zufolge gilt es, den Wettlauf gegen die Zeit zu gewinnen – für Mensch und Pilz gleichermaßen. „Wir sind dabei, Entdeckungen zu machen, die uns in vielerlei Hinsicht nützlich sein könnten, zum Beispiel bei der Herstellung von Biokraftstoffen oder in der Medizin“, sagt Simmons. Was heute unter Schutz gestellt werde, könne eines Tages zur Lösung ungeahnter, vom Menschen verursachter Probleme beitragen.

BELIEBT

    mehr anzeigen

    Cover National Geographic 4/24

    Foto von National Geographic

    Über die Suche nach Gegenmitteln, aber auch über die Nützlichkeit der Pilze lesen sie im vollen Artikel im NATIONAL GEOGRAPHIC Magazin 4/24. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!

    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie
    • Video

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved