Fotostrecke: Tim Samaras - Die letzte Jagd

31. Mai 2013, 17.51 Uhr - Schwarzer Himmel über Oklahoma. In der nächsten Stunde werden Gewitterstürme Tornados auslösen, in denen 22 Menschen umkommen – auch der NATIONAL GEOGRAPHIC- Forscher Tim Samaras.

Von Robert Draper
Foto von Gregory Käser und Markus Pfister

Der berühmte Sturmjäger und Wissenschaftler Tim Samaras wollte wissen, wie Tornados funktionieren. Die Suche nach Antworten führte ihn kreuz und quer durch die USA – bis sie eines Abends in diesem Frühjahr auf einem Feldweg in Oklahoma endete.

Es ist kurz nach sechs am Abend des 31. Mai 2013. Auf dem Beifahrersitz des weißen Chevrolet Cobalt starrt der 55-jährige Sturmjäger einen Moment lang in die Videokamera, die ihm der Fahrer des Wagens vors Gesicht hält. Dann schaut er durch das Rückfenster auf die Außenbezirke der Stadt El Reno in Oklahoma. Die Weizenfelder glühen ge- spenstisch, ein ruppiger Wind peitscht die Halme. Keine drei Kilometer vom Wagen entfernt schrau- ben sich zwei Wirbeltrichter aus einer gigantischen schwarzen Wolkenmasse Richtung Erdboden. Die Stimme des Mannes in dem Video klingt nicht so kühl und sachlich, wie es für den Wissenschaftler sonst typisch ist: «O mein Gott, der ist ja gewaltig.»

Der Mann runzelt die Stirn und streicht sich nervös übers Kinn. Tim Samaras hat schon einen großen Teil seines Lebens in der gefährlichen Nähe von Tornados verbracht. Er ist geradezu besessen von ihnen, und zwar so sehr, dass seine Frau Kathy einmal sagte, ihr Mann habe «eine Affäre mit Mutter Natur». Doch dieses Rendezvous sollte eine bedrohliche Wendung nehmen.

 

Im Frühjahr 2013 kann er diese Affäre später als gewöhnlich wieder aufnehmen. «Wer hat denn die ganzen Tornados geschluckt?», twittert er ungeduldig. Aber dann kommt der Mai, und mit ihm die „Mai-Magie“: eine Wetterlage, bei der sich feuchte, warme Südwinde aus dem Golf von Mexiko unter Luftmassen schieben, die ostwärts von den Rocky Mountains heranziehen. Diese Kombination braut die Energie und die Windscherung für heftige Gewitter zusammen, die überall in Amerika die Sturmjäger in den Internet-Diskussionsforen jubeln lassen: «Unwetter! GROSSARTIGE Unwetter!»

Am Morgen des 18. Mai gibt Samaras seiner Frau Kathy einen Abschiedskuss und versichert sich, dass sein Glücksbringer ordentlich auf dem Armaturenbrett seines Chevy liegt: ein echter, wenn auch schon ziemlich angegammelter Cheeseburger. Dann fährt er los. Mit dabei sind der 45-jährige Meteorologe Carl Young und Samaras, 24-jähriger Sohn Paul. Von ihrem Wohnort Bennett in Colorado fahren sie mit Vollgas ostwärts zu den Ebenen im Mittelwesten, auch Tornado-Allee genannt.

Als Tims Mutter bemerkte, dass ihr kleiner Sohn beim Baseball nicht den Ball im Auge behielt, sondern lieber beobachtete, was sich am Himmel abspielte, gab sie es auf, ihn zum Baseballspieler machen zu wollen.

Die drei bilden das Team TWISTEX – zusammengesetzt aus Twister (Tornado) und Experiment. In den nächsten vier Tagen beobachten sie in Kansas, Oklahoma und Texas mindestens elf Tornados. Nach weiteren vier Nächten zu Hause bricht Samaras erneut auf. Jetzt hat er in einem Truck eine Hochgeschwindigkeitskamera zur Erforschung von Blitzen installiert. Und einen Zweitwagen dabei. Falls sich erneut die Gelegenheit ergibt, Tornados zu jagen.

In dem Video vom 31. Mai sitzt Samaras in diesem Zweitwagen, einem Chevy Cobalt. Ein Sturmjäger auf der Pirsch. Ein Mann, der begeistert seiner Leidenschaft frönt. Aber es ist offensichtlich: Irgendetwas ist anders.

«Der rast direkt auf Oklahoma City zu», murmelt er ins Mikrofon.

Dieser Tornado ist ein Abkömmling mehrerer Gewitter, die sich an jenem Nachmittag entlang einer Kaltfront über Zentral-Oklahoma gebildet haben. Kurz nach sechs Uhr abends schält er sich aus der Spitze der südlichsten Superzelle, die die feuchteste und wärmste Luft einsaugen kann. Ein Leviathan. Er rotiert gegen den Uhrzeigersinn und tanzt ein irres Ballett über die weite Ebene. Die Bäume in seinem Weg schütteln sich, als wären sie vom Teufel besessen.

«Okay, ich halte an», sagt Young, der im Fahren den Sturm filmt. Samaras, Paul und er steigen aus. Die Männer stehen am Rand einer Schotterstraße und blinzeln in den Regen. Da schlängelt sich ein dritter Trichter aus dem Himmel.

«Drei Wirbel!», ruft Young.

«Yep», sagt Samaras. Als er sich wieder der Kamera zuwendet, sieht man, wie beeindruckt er ist. «Wow. Das wird gigantisch».

Young stimmt zu: «Könnte ein sehr langlebiger Tornado werden. Der könnte kilometerlang am Boden bleiben.»

Minuten später sitzen sie wieder im Wagen, wortlos geht es Richtung Osten. Die Scheibenwischer flattern, südlich von ihnen tobt der Wirbelsturm weiter. Blitze flackern über den düsteren Himmel. Starkstromleitungen schwingen beängstigend hin und her. Die Sturmwolke wächst und wächst, löscht jede Spur von Sonne, verdunkelt die drei Männer im Wagen.

«Der ist rabiat», sagt einer.

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