Flucht vor dem Krieg: Menschen aus der Ukraine erzählen ihre Geschichten

Von Eve Conant
Veröffentlicht am 24. März 2022, 10:00 MEZ

Von einem Tag auf den anderen verloren Millionen Menschen in der Ukraine ihr Zuhause. Tausende sind vor dem Krieg über die Grenze nach Polen geflohen – und blicken in eine ungewisse Zukunft.

BILDER: Anastasia Taylor-Lind | Davide Monteleone
VIDEOS: Alice Aedy | Davide Monteleone | Manuel Montesano
VON: Eve Conant

Flucht vor dem Krieg: Menschen aus der Ukraine erzählen ihre Geschichten

BELIEBT

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    Geweckt von Explosionen. Die hektische Suche nach dem Reisepass. Eine qualvolle Zugfahrt durch die Dunkelheit, auf der Flucht vor den russischen Truppen. Die Hoffnung auf einen „warmen Platz“, an dem man sich ausruhen kann. Die Geschichten der Menschen, die vor dem Krieg aus der Ukraine fliehen mussten, erzählen von Leid – und zeugen alle von einer großen Verzweiflung, die unvermeidlich ist, wenn Millionen Menschen dazu gezwungen werden, innerhalb weniger Tage ihre Heimat zu verlassen.

    Unter ihnen ist auch Irina Lopuga, die zwei panische Tage in einer Autoschlange verbrachte, die sich unerträglich langsam auf die polnische Grenzstadt Przemyśl zubewegte. Sie und ihr Mann hatten viel Zeit, zu reden. Allerdings ging es in den Gesprächen nicht mehr um ihren Traum von einem eigenen Haus oder einer Reise nach Ägypten, sondern ums Überleben. „Wir sprachen darüber, wie die ganze Welt plötzlich kopfstand.“

    An der Grenze angekommen war es Zeit, Abschied zu nehmen. Alle ukrainischen Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren sind dazu verpflichtet, in ihrem Land zu bleiben und es zu verteidigen. An ihrer Seite sind auch Frauen, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine Waffe in der Hand halten. Die, die nicht kämpfen, bereiten Essen zu – und bauen Molotowcocktails. Irinas Ehemann wollte in seiner Kirchengemeinde dabei helfen, alles für die Flüchtlinge aus Kiew vorzubereiten. Bevor er aufbrach, sagt sie „drehte er sich weg und brach in Tränen aus.“

    Dann rannten sie los: Irina, ihre Kinder und der Familienhund.

    Sie sind nur ein kleiner Teil einer der größten Flüchtlingsströme der letzten Jahrzehnte, auf der Suche nach einem warmen Platz in einem aufgewühlten Europa, das an seine Grenzen kommt und um seine eigene Sicherheit fürchtet. Doch auch, wenn die meisten Familien, die in den Aufnahmeländern ankommen, zerrissen wurden: Der Kampfgeist der Menschen ist noch nicht gebrochen.

    ENTSCHEIDUNG

    Stimmen von der Grenze: Irina Lopuga, Ludmyla Tkachenko, Nelya Tkachenko, Blessing Oyeleke und Iryna Novikova
    Lidiya Ivanenko, die hier ihren Sohn auf dem Arm hält, ist bereits zum zweiten Mal auf der Flucht: Im Jahr 2014 war es der Konflikt mit den von Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine, der sie zwang, ihr Zuhause in der Nähe von Luhansk hinter sich zu lassen und in die Umgebung von Kiew zu ziehen. „Ich habe nicht gedacht, dass der Krieg mich dort einholen würde.“
    Anna Bianova, 34, mit ihrem Sohn Maksym und ihrem Neffen Myhaylo Bianov (beide 11). Ihre Schwiegermutter Lyudmyla Shevchuk, 71, hält derweil den Familienhund Archie. Für Anna Bianova war Krieg etwas Unvorstellbares, mit dem frühere Generationen zu kämpfen hatten – nicht aber ihre eigene. „Ist ein solcher Krieg im 21. Jahrhundert überhaupt möglich?”

    “ Es ist schwer, wenn dein Ehemann zurückbleiben muss. Du musst dich entscheiden: Willst du die Kinder retten oder bei ihm bleiben?” ”

    NEYLA TKACHENKO

    An der Sammelstelle für Flüchtende in Medyka, Polen, bemühen sich die Menschen um etwas Normalität, während sie auf ihre Weiterreise warten.

    Foto von DAVIDE MONTELEONE

    FLUCHT

    Stimmen von der Grenze: Anna Bianova und Irina Lopuga

    “ Am Bahnhof waren Millionen Menschen, es war so voll, dass wir uns nicht bewegen konnten. Es war schrecklich. Tränen fielen wie Hagel.” ”

    ANNA BIANOVA
    Links: Oben:

    Valentyna Turchyn mit ihrer Mutter, die denselben Namen trägt, und ihren drei Töchtern: Maya, 5, Tanya, 7, und Galyna, 16. Sie schützen sich gegenseitig gegen die Kälte in einer Flüchtlingsunterkunft in Polen, in die sie ihre Reise aus der ukrainischen Stadt Tscherkassy geführt hat.

    Rechts: Unten:

    Ludmyla Kuchebko, 72, stammt aus der Stadt Schytomyr. Die Sirenen, die vor drohenden Luftangriffen warnen, hat sie hinter sich gelassen, doch die Sorge um ihren Sohn in Kiew trägt sie immer bei sich. Sie hofft, dass Gott „nicht nur meinen Sohn, sondern die ganze Ukraine beschützen wird“. Sie betet für jeden Flüchtenden in jedem Zug. „Wir beten heute nicht nur für die Ukraine – wir beten auch für Russland und unsere Brüder und Schwestern dort.“

    bilder von ANASTASIA TAYLOR-LIND

    Ein provisorisches Bett vor der Sammelstelle für Flüchtende in der Nähe des Grenzübergangs zwischen der Ukraine und Polen bei Medyka, am Rand der polnischen Stadt Przemýsl.

    Foto von DAVIDE MONTELEONE

    KRIEG

    Stimmen von der Grenze: Lidiya Ivanenko, Ludmyla Tkachenko, Nelya Tkachenko und Anna Bianova
    Die 25-jährige Medizinstudentin Blessing Oyeleke stammt aus Nigeria. Sie ist eine von Tausenden afrikanischen Studierenden in der Ukraine. Auf ihrer Flucht aus der Stadt Ternopil im Westen des Landes hat sie viel Chaos und auch Rassismus erlebt. Über die fünf Jahre, die sie in dem Land verbracht hat, sagt sie jedoch: „In die Ukraine zu kommen war wie ein Traum für mich.“
    Die Schwestern Ludmyla und Nelya Tkachenko, 35 und 41, aus Kiew machen sich Sorgen um ihre Kinder, die mit ihnen nach Polen geflohen sind. Bei dem Gedanken an ihre Männer und Familienangehörige, die in der Ukraine zurückgeblieben sind, müssen sie mit den Tränen kämpfen. Neyla sagt, sie fühle sich zerrissen. „Die eine Hälfte meines Herzens ist in der Ukraine, die andere habe ich mitgenommen.“

    “ Es war beängstigend, als die ersten Bomben explodierten.” ”

    LUDMYLA TKACHENKO

    Von Freiwilligen gesammelte Schuhe warten in der Nähe der polnischen Stadt Przemýsl darauf, an geflüchtete Menschen aus der Ukraine verteilt zu werden.

    Foto von DAVIDE MONTELEONE

    VERLUST

    Stimmen von der Grenze: Ludmyla Kuchebko, Iryna Novikova, Ludmyla Tkachenko und Nelya Tkachenko

    “ Wir wurden in der Ukraine geboren und wir lieben unser Land. Es ist wunderschön. Gott hat es mit allem beschenkt: Wälder, Felder … meine geliebten Felder.” ”

    LUDMYLA KUCHEBKO
    Links: Oben:

    Irina Butenko, 33, und ihre Tochter, Kateryna Falchenkko, 8, mussten überstürzt aus der ostukrainischen Stadt Charkiw fliehen. Als endlich ein Zug kam, der sie in den Westen bringen sollte, „rannten wir darauf zu während hinter uns Schüsse fielen“, sagt Irina. Sie will nie wieder zurückkehren. Kateryna fühlt sich jetzt sicher: „Niemand schießt auf uns oder bedroht uns. Meine Mutter ist immer bei mir.”

    Rechts: Unten:

    Iryna Kuzmenko, 41, und ihre Tochter Arianda Shchepina, 11, aus der Stadt Saporischschja in einem Moment der Ruhe vor der Juliusza Slowackiego-Schule in Przemýsl, Polen.

    bilder von ANASTASIA TAYLOR-LIND

    Mehrere Zehntausende Flüchtende haben Anfang März 2022 bereits die polnisch-ukrainische Grenze in bei Medyka überquert – und der Strom reißt nicht ab.

    Foto von DAVIDE MONTELEONE

    ZUKUNFT

    Stimmen von der Grenze: Iryna Butenko, Ludmyla Tkachenko, Nelya Tkachenko, Blessing Oyeleke, Lidiya Ivanenko und Irina Lopuga

    “ Wir brauchen nicht viel. Ein warmes Plätzchen reicht uns.” ”

    LIDIYA IVANENKO
    Links: Oben:

    Iryna Novikova, 42, floh mit ihrer Tochter aus Kiew. Alles musste so schnell gehen, dass nicht einmal Zeit blieb, um zu duschen, Zähne zu putzen und sich umzuziehen. „In so einer Situation braucht man das alles nicht. Ich weiß nicht, wie ich gerannt bin – meine Beine haben mich einfach getragen.“ Ihre Tochter hatte sie vor bevorstehenden Angriffen gewarnt, doch „ich konnte es einfach nicht glauben.“

    Rechts: Unten:

    Amoakohene Ababio Williams, 26, stammt ursprünglich aus Ghana. Nach seiner Flucht aus Odessa wurde er, wie einige andere Schwarze Männer auch, vor der polnischen Grenze von seiner ukrainischen Ehefrau Sattennik Airapetryan, 27, und ihrem gemeinsamen 1-jährigen Sohn Kyle Richard getrennt. „Ich dachte, das war’s. Vielleicht sehe ich sie nie wieder.“ Doch es kam anders.

    bilder von ANASTASIA TAYLOR-LIND

    National Geographic Fotografin Anastasia Taylor-Lind fotografiert in den Themenbereichen Frauen, Gesellschaft und Krieg.

    Alice Aedy ist Dokumentarfotografin mit dem Schwerpunkt soziale Gerechtigkeit.

    National Geographic Explorer Davide Monteleone ist Fotograf und visueller Künstler. Sein besonderes Interesse liegt in dem Bereich der post-sowjetischen Länder. Seine Arbeit wird von National Geographic gefördert.

    Der ukrainischer Filmstudent Petro Halaburda aus Warschau, Polen, half als Übersetzer bei der Produktion dieser Strecke.

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