Unterdrückung von Frauen: Wie unvermeidbar ist das Patriarchat?

Männliche Dominanz scheint die universelle Norm zu sein. In Wahrheit ist sie weder naturgegeben noch notwendig, sagen Philosophen und Soziologen.

Von Angela Saini
Veröffentlicht am 20. Juni 2023, 11:20 MESZ
Zeus Statue

Männliche Dominanz scheint die universelle Norm zu sein. In Wahrheit ist sie weder naturgegeben noch notwendig, sagen Philosophen und Soziologen.

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Der britische Philosoph Kwame Anthony Appiah fragte einmal, warum einige von uns an eine gleichberechtigtere Vergangenheit glauben müssen, um sich eine gleichberechtigtere Zukunft vorstellen zu können. Patriarchale Macht hält unsere modernen Gesellschaften im Würgegriff. Viele von uns betrachten die geschlechtsspezifische Unterdrückung und fragen sich, ob es eine Zeit gab, in der Männer nicht herrschten, in der Weiblichkeit und Männlichkeit nicht das bedeuteten, was sie heute bedeuten. 

Wenn wir nach mächtigen Frauen in der Geschichte suchen, offenbaren wir möglicherweise unsere Sehnsucht nach einer alternativen Gesellschaftsstruktur, von der wir fürchten, dass es sie gar nicht gibt. Was, wenn wir nicht davon ausgehen, dass Männer stets über Frauen herrschten? Wenn wir die Ungleichheit der Geschlechter als etwas Fragiles wahrnehmen, das immer wieder neu durchgesetzt werden muss? 

Das Wort, mit dem wir die Unterdrückung von Frauen beschreiben – „Patriarchat“ –, schließt jeglichen Missbrauch und jegliche ungerechte Behandlung von Frauen, Mädchen und nicht-binären Menschen auf der ganzen Welt ein, von häuslicher Gewalt und Vergewaltigung bis hin zum Lohngefälle zwischen Männern und Frauen und der Doppelmoral, mit der sie behandelt werden. Zusammengenommen scheinen diese Realitäten aufgrund ihres bloßen Ausmaßes und ihrer Tragweite außerhalb unserer Kontrolle zu liegen. Aber wie alt und wie universell ist das Problem wirklich? 

Kontroverse: „Die Unvermeidbarkeit des Patriarchats“

1973 veröffentlichte der Soziologe Steven Goldberg das Buch „The Inevitability of Patriarchy“ (zu Deutsch etwa: „Die Unvermeidbarkeit des Patriarchats“). Darin argumentierte Goldberg, dass die grundlegenden biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen so tiefgreifend seien, dass sich in jeder menschlichen Gesellschaft letztendlich ein patriarchales System durchsetzen würde. 

Er behauptete, dass Männer – die seiner Ansicht nach von Natur aus mächtiger und aggressiver seien – immer das größere Stück des Kuchens abbekommen würden, egal wie man ihn aufteilen würde. Dabei ist männliche Dominanz nicht universell. Es gibt auf der Welt viele matrilinear organisierte Gesellschaften, in denen Familienname und Besitz von Müttern an Töchter vererbt werden. In manchen Regionen geht man davon aus, dass matrilineare Traditionen Tausende von Jahren zurückreichen. 

Seit Jahrzehnten stellen westliche Gelehrte Hypothesen auf, um Bedingungen zu bestimmen, unter denen die Mutterfolge entsteht oder verfällt. Manche behaupten, sie könne nur in Gesellschaften von Jägern und Sammlern oder einfachen Ackerbauern vorkommen, nicht aber in deutlich größeren Gesellschaften. Andere sagen, die Mutterfolge funktioniere am besten, wenn die Männer sich im Krieg befänden und den Frauen die Verantwortung überließen. 

Wieder anderen zufolge sei sie dem Untergang geweiht, sobald Menschen Vieh oder andere große Tiere halten, weil Männer diese Ressourcen kontrollieren wollten – und Landbesitz und Eigentum automatisch zum Patriarchat führten. Allein die Existenz dieser Erklärungen setzt voraus, dass matrilineare Gesellschaften ungewöhnliche Fälle sind, „von besonderen Belastungen betroffen, zerbrechlich und selten, möglicherweise sogar zum Aussterben verurteilt“, schreibt die Anthropologin Linda Stone von der Washington State University. 

Väterliche oder mütterliche Abstammung?

In akademischen Kreisen hat das Problem seinen eigenen Namen: das „matrilineare Rätsel“. Die Vaterfolge hingegen wird als überhaupt nicht erklärungsbedürftig angesehen. Sie ist einfach da. 2019 versuchten Forscher der Vanderbilt University, das matrilineare Rätsel zu lösen. Sie analysierten Gemeinschaften auf der ganzen Welt auf Gemeinsamkeiten. Von 1291 untersuchten Gesellschaften waren 590 traditionell patrilinear und 160 traditionell matrilinear organisiert.

Weitere 362 Gesellschaften waren bilateral, sie erkannten also die Abstammung durch beide Elternteile an. Die Biologin Nicole Creanza, die an der Studie mitwirkte, erklärt, dass keine der von ihnen untersuchten gängigen anthropologischen Vorstellungen über die Mutterfolge in allen Gesellschaften zutraf. Letztendlich waren die einzelnen Gesellschaften zu komplex, um sie auf einfache Faktoren zu reduzieren, seien es biologische, umweltbezogene oder andere. 

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