Amerigo Vespucci

Ein Buchhalter aus Florenz macht mit 50 noch eine Karriere als Seefahrer. Er fährt über den Atlantik und spricht als Erster von einer „Neuen Welt“. Ihm zu Ehren wird sie von einem deutschen Kartographen „America“ getauft.

Von National Geographic
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Ein Buchhalter aus Florenz macht mit 50 noch eine Karriere als Seefahrer. Amerigo Vespucci fährt über den Atlantik und spricht als Erster von einer „Neuen Welt“. Ihm zu Ehren wird sie von einem deutschen Kartographen „America“ getauft.

In seiner Freizeit, aber nur dann, kann er sich über den Alltag erheben. Da studiert er Seekarten, brütet über Zahlenkolonnen des Astronomen Regiomontanus, schmökert im Reisebericht des großen Marco Polo , der zwei Jahrhunderte zuvor in die Ferne Asiens aufgebrochen ist und von dort wahre Wunderdinge berichtet hat.
Seine Arbeit nimmt Amerigo Vespucci weitaus weniger gefangen. Zinsen ausrechnen, Belege prüfen, säumige Schuldner mahnen – tagaus, tagein kritzelt er mit dem Gänsekiel Dinge aufs Papier, die ihn eigentlich nicht interessieren. Doch wie seinem Schicksal entrinnen? Amerigo Vespucci, 1451 als Sohn eines Kaufmanns geboren, steht als Buchhalter im Dienst des Handelshauses der Medici, der mächtigsten Familie von Florenz.

Das große Abenteuer kommt erst auf ihn zu, als er an den Schläfen schon grau zu werden beginnt. Sein Chef Piero de’ Medici bietet ihm einen Platz in der Filiale des Hauses in Sevilla an. Unregelmäßigkeiten sind dort vorgekommen, man braucht einen verlässlichen Mann. Der spanische Binnenhafen am Guadalquivir wird immer wichtiger. Hier laufen sie aus und ein, die großen und kleinen Entdecker, Farbholz-, Seidenstoff- und Gewürzhändler. Vespuccis Aufgabe ist, Warenballen auszupacken, nachzuwiegen, Einträge zu machen. Doch in Sevilla spürt auch ein Kontorist das Flair der weiten Welt.

Im Alter von schon fast 50 Jahren öffnet sich für Amerigo Vespucci das Tor zur Welt. Er verdankt das vermutlich den Rivalitäten und Intrigen, die zwischen den spanischen Konquistadoren ausgebrochen sind. Alonso de Ojeda erhält von dem für die „Indien-Angelegenheiten“ zuständigen Bischof Rodríguez de Fonseca die Unterschrift zur Ausrüstung einer neuen Expedition – ein Affront gegen Christoph Kolumbus , den der Bischof noch nie leiden konnte. Zwar fehlt auf der Urkunde das Staatssiegel des Königs. Doch auf der Basis dieses Dokuments kann der angeheuerte Vespucci, der viel Erfahrung hat, den Kauf und die Ausrüstung von vier Schiffen betreiben. Ojeda wirbt aus der einstigen Mannschaft des Kolumbus Juan de la Cosa und Bartolomé Roldán an. Er zeigt ihnen die Kopie einer Karte, die Kolumbus an den Hof geschickt hat – der Bischof hat sie ihm zugespielt. So bricht am 16. Mai 1499 eine Flotte nach Westen auf, die offensichtlich den Auftrag hat, Kolumbus die vertraglich zugesicherten Privilegien streitig zu machen.

Die drei Schiffe fahren getrennte Routen und wollen sich in Santo Domingo auf der Insel Hispaniola treffen. Vespucci stößt, wie er berichtet, nach 43 Tagen auf Land. Es ist die nordöstliche Küste von Südamerika, er aber hält es wieder für Asien. Auf einer vorgelagerten Insel, so notiert er, gebe es «die viehischste und wildeste Gattung von Menschen, die man jemals finden kann. Sie schauten von Angesichte und Gebärden grässlich aus und hatten allesamt die Backen inwendig voll von einem grünen Kraute, das sie beständig, wie das Vieh, kauten, so dass sie kaum ein Wort herausbrachten.»
Vespucci fährt vermutlich Richtung Süden weiter, entdeckt die Mündung des Amazonas, fährt diesen Strom ein kurzes Stück hinauf, wendet sich dann aber wieder zum Meer, nimmt Kurs auf Hispaniola. Kolumbus, der dort als Gouverneur residiert, ist wütend, als er von der Konkurrenzflotte erfährt. Nach heftigem Streit mit seinen Beamten segeln Ojeda und Vespucci nach Cádiz zurück.

Doch einen Weg zurück in die enge Welt der Buchhalterei gibt es trotz allem für Vespucci nicht mehr. Portugals König Emanuel I. stellt ihn nun in seine Dienste. Verstärkung soll an einen Landstrich geschickt werden, den Pedro Cabral durch Zufall entdeckte, als er auf dem Weg um Afrika nach Indien zu weit nach Westen abgetrieben wurde. Der König will einen Expeditionsleiter, der große Erfahrung mit Navigationsgeräten hat. So segelt Vespucci an Südamerika entlang, von Kap São Roque nach Süden. Am 1. Januar 1502 läuft er vermutlich in die Bucht von Rio de Janeiro ein. «Wenn in der Welt ein irdisches Paradies zu finden ist», notiert er, «dann muss es ohne Zweifel nicht weit von dieser Gegend sein.»

Amerigo Vespucci kommt an Patagonien vorbei. Er stößt, so jedenfalls sein Bericht, bis ungefähr zum 50. Breitengrad vor. Die kahle, unbewohnte Insel kurz vor dem südlichen Polarkreis, auf die er trifft, könnte das Eiland sein, das später Südgeorgien getauft wird. Gebeutelt von Kälte und Stürmen, fahren die Seeleute wieder nach Norden. Am 12. Mai 1502 sind sie in Sierra Leone an der afrikanischen Küste, am 7. September wieder in Lissabon. Nun steht für Vespucci fest: Die endlos lange Küste, an der er nach Süden fuhr, kann nicht Asien sein. Man müsse «in der Tat einen anderen Teil der Erde ausmachen, welchem gebührt, eine ‚Neue Welt‘ genannt zu werden».
Vespucci ist kein Meisterautor, wie er später selber zugeben wird. Er zweifelt, ob er je ein Publikum für seine Berichte finden wird, «weil ich an dem, was ich geschrieben, keinen Geschmack finde, sonderlich wegen der unreinen Schreibart, die von aller zierlichen Ordnung entblößt ist».
Vespucci lässt sich möglicherweise sogar zum Schwindeln hinreißen. Oder andere spannen ihn mit frei erfundenen Expeditionen für ihre eigenen Zwecke ein. Die Echtheit von Briefen und anderen Dokumenten, die über seine Reisen kursieren, ist oft mehr als zweifelhaft.

Erfolge und Misserfolge von Entdeckungsreisen sind für Italiens wichtigste Handelsstädte Genua, Venedig und Florenz von größtem Interesse. Sie alle haben intensive Geschäftsbeziehungen zur Iberischen Halbinsel. Sie gehören zu den großen Kreditgebern, sie investieren ihr Geld in der Hoffnung auf eindrucksvolle Renditen. Florenz, die Heimatstadt Vespuccis, ist zum Beispiel an Farbstoffen aus der Neuen Welt für seine Textilindustrie interessiert. 1494 wurde es von Truppen des französischen Königs Karl VIII., einem der Hauptfeinde Spaniens, besetzt. Seit deren Abzug hat sich die Stadt deutlich von Spanien ab- und den Portugiesen zugewandt. Ist es Zufall, dass die Vespucci zugeschriebenen Briefe, die Portugals Erfolge preisen, just zu dieser Zeit von Florenz aus nach Paris gelangen, von wo aus sie seit 1503 gedruckt und auf diese Weise in ganz Europa propagiert werden?

Wenn all diese Berichte der Wahrheit entsprächen, dann hätte der Italiener insgesamt sogar vier Atlantikreisen unternommen, davon nicht weniger als drei an der südamerikanischen Küste entlang. Es tauchen vermeintliche Briefe von ihm auf, aus denen beispielsweise hervorgeht, dass er schon am 30. Juni 1497, auf seiner angeblich ersten Reise, das amerikanische Festland betreten habe. Amerigo Vespucci soll von der Halbinsel Yucatán die mexikanische Küste entlanggefahren sein, dann durch den Golf von Mexiko um Florida herum an die Ostküste Nordamerikas.
All diese Dokumente haben den Nachteil, dass niemand anders sie bestätigen kann. Die meisten Forscher, die sich in den folgenden Jahrhunderten damit beschäftigen werden, kommen zu dem Schluss, dass es sich bei zwei dieser vier erwähnten Reisen um reine Fantasieprodukte handelt.

Unzweifelhaft freilich ist, dass sich Vespucci im Dienst der Portugiesen einen Namen gemacht hat. So wird Amerigo Vespucci am Ende seiner Karriere noch einmal vom spanischen Hof abgeworben. Um dem Kartenchaos ein Ende zu bereiten, das auf hoher See ständig zu Streitereien führt, wird 1508 ein Amt für Entdeckungen eingerichtet. Es soll alle geographischen und navigatorischen Kenntnisse zusammenfassen und einheitliche Atlanten erstellen. Der Italiener wird sein Direktor und erhält die kastilische Staatsbürgerschaft. Ein königlicher Erlass bestimmt, «dass alle Steuerleute Unseres Reiches... in der Kunst, den Quadranten und das Astrolabium zu gebrauchen... unterrichtet werden sollen».

Trotz seiner geringen literarischen Fähigkeiten plant Vespucci ein Buch über seine Abenteuer. Ein cleverer Florentiner Geschäftsmann aber kommt ihm zuvor. Er verschafft sich eine ausführliche Schilderung, die Vespucci an Lorenzo de Medici geschickt hat, und schmückt sie unter dem Pseudonym „Jocundus“ noch ein wenig mit Erzählungen aus, die Cabrals Steuermann nach Hause brachte. Für das gebildete Publikum verfasst er eine Ausgabe in Latein, der Titel lautet: Mundus novus – Neue Welt.

Auf diese Weise aber wird Americus, so sein lateinischer Name, in der Geschichte verewigt. Der deutsche Kartograph Martin Waldseemüller hat 1507 eine große Weltkarte, eine Karte, die zum Aufkleben auf einen Globus gefertigt ist, und eine Schrift mit dem Titel Cosmosgraphia introductio veröffentlicht. In diesen Werken taucht erstmals der Name auf, den der neu entdeckte Kontinent in Zukunft haben wird: America.

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