Die letzten Neandertaler

März 1994. Im Norden Spaniens erkunden Freizeitforscher ein Höhlensystem. In einem Seitengang fällt das Licht ihrer Lampen auf Knochen: Zwei Unterkiefer ragen aus dem Sand. Die Grotte, El Sidrón, liegt im Hochland von Asturien.

Von Stephen S. Hall
bilder von David Liitschwager
Foto von David Liitschwager

März 1994. Im Norden Spaniens erkunden Freizeitforscher ein Höhlensystem. In einem Seitengang fällt das Licht ihrer Lampen auf Knochen: Zwei Unterkiefer ragen aus dem Sand. Die Grotte, El Sidrón, liegt im Hochland von Asturien. Die Forscher rufen die Polizei. Sie vermuten, die Knochen könnten aus dem spanischen Bürgerkrieg stammen. El Sidrón hatte Republikanern in den dreißiger Jahren als Versteck vor den Soldaten des Diktators Franco gedient. Doch bei der folgenden Spurensuche stoßen die Ermittler auf die Überreste eines viel größeren - und viel älteren - Dramas. In wenigen Tagen graben Polizisten etwa 140 Knochen aus, ein Richter lässt sie an das gerichtsmedizinische Institut in Madrid schicken. Als die Wissenschaftler ihre Analyse abschließen - sie brauchen dafür rund sechs Jahre -, hat Spanien seinen ältesten ungeklärten Kriminalfall. Die Knochen von El Sidrón gehören nicht republikanischen Widerstandskämpfern: Es sind die versteinerten Überreste einer Gruppe von Neandertalern, die hier vor etwa 43 000 Jahren lebten und womöglich eines gewaltsamen Todes starben.

Der Fundort ist einer der wichtigsten Verbindungspunkte zu unserer Vorgeschichte, und das Datum führt mitten ins Zentrum eines der großen Rätsel in der Evolution der Menschheit. Die Neandertaler, unsere nächsten prähistorischen Verwandten, besiedelten Eurasien fast 200 000 Jahre lang.

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Während dieser Zeit steckten sie ihre bekannt große Nase in jeden Winkel Europas und darüber hinaus - entlang des Mittelmeeres von Gibraltar bis nach Griechenland und zum Irak, im Norden bis Sibirien , im Westen bis Großbritannien und im Osten fast bis in die Mongolei. Im Westen Europas überstieg die Gesamtzahl der Neandertaler zwar wohl selbst auf dem Höhepunkt ihrer Ausbreitung wahrscheinlich niemals 15 000 Menschen. Doch sie überlebten lange. Sogar als eine Eiszeit den Großteil ihres Territoriums in eine Landschaft verwandelte, die dem heutigen Norden Skandinaviens ähnelt. Zum Zeitpunkt der Tragödie von El Sidrón waren die Neandertaler jedoch schon auf dem Rückzug. Eine Klimaverschlechterung drängte sie auf die spanische Halbinsel sowie in Enklaven entlang des Mittelmeeres. Gleichzeitig nahten von Osten her die ersten anatomisch modernen Menschen unserer Art, des Homo sapiens, die sich aus Afrika kommend unaufhaltsam ausbreiteten. Weitere 15 000 Jahre später waren die Neandertaler für immer verschwunden.

Ihre Hinterlassenschaft: ein paar Knochen und eine Menge Fragen. Waren sie, ähnlich wie wir, eine kluge Rasse von Überlebenskünstlern? Oder eine Spezies in einer Sackgasse der Evolution? Was geschah in jener Zeit, etwa 45 000 bis 30 000 Jahre vor heute, als sich die Neandertaler weite Gebiete der eurasischen Landschaft mit den modernen Migranten aus Afrika teilen mussten? Warum überlebte die eine Art Mensch und die andere nicht?

BELIEBT

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    An einem feuchten, nebelverhangenen Morgen im September 2007 stehe ich vor dem Eingang der El-Sidrón-Höhle. Begleitet werde ich vom Paläoanthropologen Antonio Rosas vom Staatlichen Naturkundemuseum Madrid. Einer seiner Kollegen reicht mir eine Taschenlampe, und ich lasse mich vorsichtig in das schwarze Loch hinab. Nachdem sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt haben, erkenne ich die Umrisse einer phantastischen Karsthöhle. Ein unterirdischer Fluss hat sie aus dem Gestein gewaschen. Sie erstreckt sich über Hunderte von Metern, und wie Spinnenbeine zweigen mindestens zwölf Seitengänge davon ab. Nach zehn Minuten erreiche ich die Galería Osario - den Knochengang. Allein hier hat man seit dem Jahr 2000 etwa 1500 Knochen freigelegt, Überreste von mindestens neun Neandertalern: fünf jungen Erwachsenen, zwei Jugendlichen, einem etwa achtjährigen und einem dreijährigen Kind. Bei allen zeigen die Zähne deutliche Zeichen von Nahrungsmangel - nichts Ungewöhnliches für junge Neandertaler in der Spätphase ihrer Art.

    Viel überraschender sind allerdings die Spuren an ihren Knochen. Rosas hält mir ein Schädelfragment und ein Stück eines Oberarmknochens hin. Beide haben unregelmäßig gezackte Ränder. "Das haben Menschen getan", sagt Rosas und deutet einen Schlag mit einem Faustkeil an. "Da wollte jemand an das Hirn und an das Knochenmark." Schnittkerben an den Knochen beweisen, dass diese Menschen von Menschen verzehrt wurden. Wer immer ihr Fleisch aß und aus welchem Grund - Hunger? Ritual? -, das anschließende Schicksal ihrer Überreste verlieh ihnen eine außergewöhnliche Art von Unsterblichkeit. Denn kurz nach dem Tod dieser Menschen brach der Boden unter ihnen ein, Hyänen und andere Aasfresser hatten wenig Zeit, die Überreste zu zerstreuen. Eine Lawine von Knochen, Erde und Steinen stürzte 20 Meter tief in eine von unterirdischem Wasser ausgespülte Kalksteinkammer. Und so blieben - geschützt von Sand und Ton, konserviert durch die konstante Temperatur, eingebettet in mineralisierte Knochensubstanz - ein paar kostbare Moleküle des genetischen Codes der Neandertaler erhalten. Können sie neue Antworten auf die Frage geben, warum ihre Art ausstarb?

    Eine der längsten und besonders hitzigen Debatten um die menschliche Evolution betrifft die genetische Beziehung zwischen den Neandertalern und ihren europäischen Nachfolgern. Verdrängten die modernen Menschen, die vor 45 000 Jahren aus Afrika kommend nach Eurasien zogen, die Neandertaler? Oder vermischten sie sich mit ihnen? Sind wir vielleicht alle noch ein bisschen Neandertaler?

    (NG, Heft 11 / 2008, Seite(n) 140)

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