Islands neue Not

Wer Island verstehen will, muss vor allem begreifen, wie spärlich es bevölkert ist.

Von Marguerite del Giudice
Foto von Jonas Bendiksen

Wer Island verstehen will, muss vor allem begreifen, wie spärlich es bevölkert ist. Das Leben auf einer so überschaubaren Insel am Ende der Welt hat zur Folge, dass diese Gemeinschaft, deren Stammbaum bis zu den Wikingern zurückreicht, wie ein Mobile funktioniert. Tippt man einmal irgendwo an, gerät das ganze Gebilde in Bewegung. Obwohl Island in vieler Hinsicht eine offene Gesellschaft ist, halten sich die Menschen lieber bedeckt, wenn es um politische Themen geht. So zum Beispiel in der im Moment so brisanten Frage, wie es dem Land gelingen soll, einen Mittelweg zwischen Umweltschutz und Wirtschaftswachstum zu finden. Doch genau darum soll es hier gehen. Im Herbst 2006 stand Island an einem Wendepunkt. Für einen fast 60 Quadratkilometer großen Stausee , der eine neue Aluminiumhütte mit Strom versorgen soll, wurde eine abgelegene Wildnis im Hochland geflutet. Die Staumauer ist die höchste in ganz Europa. Das Land wurde auf eine Weise verändert, die nicht mehr rückgängig zu machen ist: Die Vegetation ist überschwemmt, Wasserfälle und Teile einer Schlucht sind trockengelegt, Kurzschnabelgänse und Rentierherden vertrieben.

Eigentlich beginnt diese Geschichte vor Millionen von Jahren, denn sie hat ihre Wurzeln in der einzigartigen geologischen Entwicklung der Insel. Ursprünglich war Island ein felsiges, windgepeitschtes, baumloses Terrain - abweisend und atemraubend. Island liegt genau auf der Grenze zwischen zwei Erdplatten, dem sogenannten Mittelatlantischen Rücken. Ein Drittel sämtlicher Lavamengen, die in den vergangenen 500 Jahren weltweit ausgetreten sind, kamen hier aus der Erde, und es gibt so viele heiße Quellen, dass fast alle Gebäude mit Erdwärme beheizt werden können. Über allem thronen gewaltige Gletscher, die zahlreiche Flüsse speisen. Diese Kombination aus heiß und kalt, aus brodelnder Aktivität unter der Erde und mächtigen Flüssen oberhalb, macht die Insel zu einer der bedeutendsten Quellen von Erdwärme und Wasserkraft auf unserem Planeten: also von sauberer, erneuerbarer, grüner Energie, wie wir sie immer dringender benötigen. Allerdings konnte von dieser Energie bisher nur wenig genutzt werden - das Land liegt einfach zu fern vom Rest der Welt. Nur für eine Branche mit enormem Energiebedarf hätte es sich gelohnt, sich hier niederzulassen. Geeignet schien die Aluminiumindustrie. Also willigte der nationale Energiekonzern Landsvirkjun im Jahr 2003 ein, als sich die Gelegenheit bot, mit dem amerikanischen Aluminiumkonzern Alcoa einen 40-Jahres-Vertrag über die Lieferung von Wasserkraft für eine neue Schmelzhütte abzuschließen.

Der Vertrag mit Alcoa würde Kapital in die dünn besiedelte Region im Osten fließen lassen, an die 400 Arbeitsplätze schaffen und als Nebeneffekt die Entstehung neuer Dienstleistungsunternehmen nach sich ziehen. Außerdem bekäme Island dadurch die Chance, seine vom Fischfang abhängige Wirtschaft zu diversifizieren und Fachwissen zu erwerben, das sich möglicherweise in anderen Ländern gewinnbringend umsetzen ließ. Es wurde ein gigantisches System aus Dämmen, Tunneln, Kraftwerken und Hochspannungsleitungen gebaut, samt dem fast 200 Meter hohen Wasserstaudamm - und das alles für die Versorgung einer einzigen Aluminiumhütte, die in der östlichen Fjordstadt Reydarfjördur, nahe dem Berg Kárahnjúkar errichtet wurde, der dem Vorhaben auch seinen Namen gab: Kárahnjúkar-Wasserkraftprojekt.

BELIEBT

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    Kárahnjúkar löste das aus, was einer der Beteiligten als "Islands Kalten Krieg" bezeichnete. Kárahnjúkars Kritiker argumentierten, dass man dem Osten auch auf andere Weise hätte helfen können. Die Leute aus dem Osten führten dagegen an, dass sie schon alles versucht hätten: Gewerbe, Industrie, Tourismus. "Nichts hat funktioniert", sagte Smári Geirsson, Studienrat für Geschichte und ehemaliger Vorsitzender der aus 16 Mitgliedern bestehenden Vereinigung lokaler Gemeindeverwaltungen. Mit seinem nächsten Satz traf er den Kern des isländischen Konflikts: "Die Gegner dieses Projekts sind sehr besorgt um das Land und die Rentiere und die Vögel. Aber über die Bedürfnisse der Menschen wollen sie nicht diskutieren."

    Die Monate vergingen, die Demonstrationen nahmen zu. Ein Protestcamp entstand, Tage vor der Flutung des Stausees zogen mehr als 10 000 Gegner durch Reykjavík. Kritiker zerpflückten den Geschäftsplan von Kárahnjúkar und charakterisierten ihn als wahnwitzig.

    Und wie sah es in einem Land, das praktisch ein einziger großer Vulkan ist, mit den geologischen Risiken aus? Und wie stand es um die Emissionen des Werks? Immer mehr Menschen wurde klar, dass die gesamte Bevölkerung für dieses Mammutprojekt zur Kasse gebeten würde - und, wenn etwas schiefginge, auch die Folgen tragen müsste.

    Man stand sich als einzige große, unglückliche Familie gegenüber. Die Umweltschützer wollten Island retten. Die Industriellen wollten Island retten. Alle wollten Island retten. Ein Krieg der Träume. Bald nach der Flutung beschloss die Regierung - wohl als Konzession an die wachsende grüne Wählerschaft -, einen riesigen, schon lange angekündigten Nationalpark einzurichten, eine fast 13 000 Quadratkilometer große Wildnis auf dem Vatnajökull-Gletscher und in dessen Umgebung, gleich neben Kárahnjúkar. Es wird bereits über alternative Branchen mit hohem Energiebedarf wie zum Beispiel "Server-Farmen" - riesige Rechenzentren - nachgedacht, genauso wie über einen Umstieg auf Erdwärmeenergie, die weniger umweltbelastend sein kann als Wasserkraft. Der Ausbau der Erdwärme, hautpsächlich für den Betrieb der Aluminiumfabriken im Südwesten und Nordosten, wird vorangetrieben - und von den Umweltschützern kritisiert. Der Kalte Krieg geht also weiter. Und die Erdwärme wird sich wohl zum nächsten umweltpolitischen Schlachtfeld entwickeln.

    Island steht vor einem scheinbar unlösbaren Dilemma: soll unberührte Natur zerstört werden, damit das Land einen Wirtschaftsaufschwung erlebt oder soll man im Sinne des Umweltschutzes auf die gewinnbringenden Industrien verzichten und den strukturschwachen Osten verarmen lassen? Die Nutzung der weniger umweltbelastenden Erdwärme oder der Ökotourismus könnten eine Lösung darstellen.

    (NG, Heft 3 / 2008, Seite(n) 72)

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