"La Bella Principessa" - ein echter da Vinci?

Eine 100-Millionen-Dollar-Frage: Ist dies ein echter da Vinci oder nicht? „La Bella Principessa“ fasziniert die Kunstwelt. Analysen mit Unterstützung der National Geographic Society lassen vermuten: Das Porträt stammt von Leonardo da Vinci.

Von Tom O’Neill
bilder von Gianluca Colla
Foto von Gianluca Colla

Martin Kemp bekommt häufig Post von Menschen, die er als „Leonardo Spinner“ bezeichnet. Sein guter Ruf als Experte für Leonardo da Vinci beschert dem emeritierten Professor für Kunstgeschichte regelmäßig Zuschriften, manchmal zwei pro Woche: die Absender schicken Fotos von Gemälden, weil sie überzeugt sind, ein unbekanntes Werk des Meisters aufgespürt zu haben. So erreichte ihn im März 2008 auch die E-Mail eines Kanadiers. Das angehängte Foto zeigte das Porträt einer jungen Frau. Ihr Name: unbekannt. Der Künstler: ebenso. «Mein erster Reflex ist immer, Nein zu sagen», erzählt Kemp. Doch diesmal war es anders. Kemp sah eine «unheimliche Lebendigkeit» des Gesichts, die ihn neugierig machte. Er flog nach Zürich, wo der Besitzer das Bild in einem Tresor aufbewahrte. «Als ich es sah», sagt Kemp, «spürte ich ein Kribbeln. Ein Gefühl, dass dies kein normaler Fall ist.»

Als das Bild im Januar 1998 in New York seinen Weg in die Kunstwelt findet, zieht es nur wenige Blicke auf sich. Der Katalog des Auktionshaus Christie’s bezeichnet es als deutsche Arbeit aus dem frühen 19. Jahrhundert mit Stilelementen der Renaissance. 33 mal 23,9 Zentimeter, kaum größer als ein DIN-A4-Blatt. Eine farbige Kreide- und Tinte-Zeichnung auf Vellum, einem Pergament aus der Haut von Kälbern oder Kalbsföten. Für 21850 Dollar bekommt die New Yorker Kunsthändlerin Kate Ganz den Zuschlag.

Zehn Jahre später stößt der kanadische Sammler Peter Silverman in Ganz’ Galerie auf das Gemälde, am Preis hat sich wenig geändert. Er kauft es sofort. Das Bild könnte tatsächlich aus der Renaissance stammen, denkt er. Ganz hat erwähnt, dass es wohl von da Vinci beeinflusst sei, und Silverman fragt sich, ob es nicht sogar von Leonardo selbst stammen könnte. Sein möglicher Wert: 100 Millionen Dollar.

Nur selten werden heute noch Werke da Vincis entdeckt. Als Silverman die Zeichnung kauft, sind mehr als 75 Jahre vergangen, seit zum letzten Mal ein zuvor unbekanntes Leonardo-Gemälde für echt erklärt wurde. Es gibt keinerlei Beleg, dass der Schöpfer der „Mona Lisa“ jemals auf Vellum gemalt hat. Und falls dieses Bild ein authentischer Leonardo sein sollte – wo war es 500 Jahre lang verborgen?

Um mehr über das Gemälde zu erfahren, schickt Silverman schließlich Martin Kemp jene E-Mail, die den ehemaligen Oxford- Professor nach Zürich lockt. Kemp hört auf seinen ersten Impuls. Gemeinsam mit dem französischen Ingenieur Pascal Cotte beginnt er, das Gemälde zu untersuchen. Cotte hat ein Verfahren entwickelt, das Bilder mit allen Spektren des Lichts abtastet, von Infrarot bis Ultraviolett.

So können die unterschiedlichen Farbschichten erforscht werden – von den ersten Strichen bis zu späteren Restaurierungen. Je mehr Kemps Kennerauge sieht, desto mehr Hinweise auf Leonardo meint er zu entdecken: die Art, wie die Schnüre, die der Frisur Gestalt geben, das Haar eindrücken, die schönen Abstufungen der Farben, die präzisen Linien. Darstellungen von Schatten zeigen deutlich die Pinselstriche eines Linkshänders, wie Leonardo einer war. Der Gesichtsausdruck – selbstsicher, aber nachdenklich – ist der Blick einer Frau, die zu rasch erwachsen geworden ist: Das entspricht Leonardos Maxime, dass ein Porträt die «Leidenschaft des Geistes» zeigen soll.

Kemp aber braucht weitere Belege, dass das Bild zu Leonardos Lebzeiten (1452–1519) angefertigt wurde und dass seine historischen Hintergründe zur Biografie des Künstlers passen. Eine Radiokarbon-Datierung ergibt, dass das Vellum zwischen 1440 und 1650 hergestellt worden sein muss. Gewänder wie jenes des Mädchens wurde Ende des 15. Jahrhunderts am Hof von Mailand getragen, als es Mode war, die Haartracht mit Schnüren zu drapieren. Leonardo lebte damals in Mailand und erhielt Aufträge für höfische Porträts. Am Rande des Bildes finden sich Spuren einer Fadenbindung. Gut möglich, dass es aus einem Buch stammt, vielleicht aus einem Werk zum Anlass einer königlichen Hochzeit.

Kemps Detektivarbeit gibt der Porträtierten schließlich einen Namen: Bianca Sforza – eine Cousine von Bianca Maria Sforza, der späteren Kaiserin des Heiligen Römischen Reichs. Bianca war die uneheliche Tochter des Herzogs von Mailand und wurde 1496 mit Galeazzo Sanseverino verheiratet, Befehlshaber der Mailänder Streitkräfte und ein Förderer von Leonardo. Das Porträt entstand, als sie 13 oder 14 war. Tragischerweise starb sie einige Monate darauf. Kemp tauft die Zeichnung „La Bella Principessa“, die schöne Prinzessin.

2010 veröffentlichen Kemp und Cotte ihre Ergebnisse in einem Buch. Mehrere prominente Leonardo-Experten stimmen ihren Thesen zu, andere bleiben skeptisch. Carmen Bambach, Kuratorin am New Yorker Metropolitan Museum of Art, wird mit dem Satz zitiert, das Porträt sehe einfach «nicht wie ein Leonardo» aus. Ein anderer Gelehrter empfindet die Darstellung der Principessa als «zu niedlich».

Schon hält man das Bild für eine sehr gute Fälschung. Zweifel wachsen. Woher stammt das Porträt? Warum taucht es erst jetzt auf? Kemp kann diese Fragen nicht beantworten. Dann meldet sich D. R. Edward Wright bei ihm. Der emeritierte Professor für Kunstgeschichte an der Universität von Südflorida hat Kemp noch nie getroffen, wohl aber die öffentliche Auseinandersetzung verfolgt. Wright gibt Kemp den Hinweis auf ein Buch der Polnischen Nationalbibliothek in Warschau, eine Chronik des Herzogs von Mailand und der Familie Sforza. Wright, Experte für die Ikonografie der Renaissance, beschreibt das Buch als einen luxuriösen Erinnerungsband an die Hochzeit der Bianca Sforza – sicher eine angemessene Gelegenheit, um Leonardo mit einem Porträt zu beauftragen.

Mit Unterstützung der National Geographic Society reisen Kemp und Cotte nach Warschau. Cottes Aufnahmen zeigen, dass genau dort, wo im Buch ein Porträt zu erwarten gewesen wäre, ein Blatt fehlt. Sie legen ein Faksimile des Bildes in das Buch. Es passt perfekt. Für Kemp ist endgültig klar: «„La Bella Principessa“ ist ein Porträt von Leonardo, das in ein Buch eingefügt, aber später gerahmt wurde.»

Wright zufolge gelangte der Band Anfang des 16. Jahrhunderts nach Polen, als ein Mitglied der Familie Sforza einen polnischen Adligen heiratete. Das Blatt wurde vermutlich im 17. oder 18. Jahrhundert herausgeschnitten, als das Buch einen neuen Einband erhielt. Dann verliert sich die Spur. Bis die Witwe eines italienischen Kunstrestaurators den Band bei Christie’s zur Auktion anbietet.

Die Prüfung der Echtheit eines jahrhundertealten Kunstwerks verläuft selten geradlinig. Schon gar nicht bei einem so berühmten Künstler wie Leonardo. Leicht kann das Ego, der persönliche Geschmack oder die Furcht vor juristischen Folgen die Beurteilungen beeinflussen. Kemp hat seine neuesten Erkenntnisse an führende Spezialisten geschickt. Fast alle verweigerten eine Stellungnahme, auch für diesen Artikel wollten sie keinen Kommentar abgeben. Es werde dauern, bis Klarheit herrsche, räumt Kemp ein, «aber ich bin zuversichtlich, dass meine Einschätzung richtig ist».

Weitere Informationen:
Biografie der Bianca Sforza: deutsche-biographie.de/sfz56665.html
Buch-Tipp: Sabine Weiss: Die vergessene Kaiserin: Bianca Maria Sforza, Innsbruck: Tyrolia-Verlag 2010.

(NG, Heft 02 / 2012, Seite(n) 122 bis 129)

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