Mekong - Gigantische Stromstörung

Mit dem Wirtschaftsboom wächst in Südostasien der Hunger nach Energie. Die Lösung sollen Staudämme am Mekong liefern – doch der Kreislauf des Lebens entlang des mächtigen Gewässers ist empfindlich.

Von Michelle Nijhuis
bilder von David Guttenfelder
Foto von David Guttenfelder

Zusammenfassung: Die Wirtschaft in Südostasien brummt. Dies hat zur Folge, dass der Bedarf an Energie rasant steigt. Liefern soll sie der Mekong. Talsperren entlang des 4200 Kilometer langen Stroms sollen saubere Energie erzeugen – doch der Kreislauf des Lebens entlang des Mekong ist empfindlich. Etwa 60 Millionen Menschen leben vom Fischfang sowie vom Reisanbau im fruchtbaren Mekong-Delta. Durch Protestaktionen wollen Aktivisten nun auf die geplanten Dämme und deren Folgen aufmerksam machen.

Pumee Boontom lebt in Thailand, doch wenn er wissen will, was ihm das Wetter bringt, schaut er die chinesischen Nachrichten an. Denn die Gefahr kommt aus China . Ein schwerer Sturm im Süden des Landes, und Boontoms Dorf wäre wahrscheinlich überschwemmt. „Früher ist das Wasser bei uns mit den Jahreszeiten langsam gestiegen und gefallen“, sagt er. „Aber jetzt steigt und sinkt es dramatisch, und wir haben keine Ahnung, wann es passieren wird. “ Es sei denn, sie beobachten das Wetter in China. Denn dort stehen die großen Staudämme, die das Leben in seinem Dorf heute bestimmen.

Boontom lebt im Norden Thailands am Mekong. Überall entlang des Stroms wachsen Talsperren. Sie versprechen saubere Energie durch Wasserkraft. Und kaum etwas braucht Südostasien so dringend wie Elektrizität. Am Mekong lässt sich davon reichlich erzeugen. Über 4200 Kilometer fließt er von seinem Ursprung in Tibet aus durch China, Myanmar, Thailand, Laos, Kambodscha und Vietnam, bevor er ins Südchinesische Meer mündet.

Der Mekong ist der längste Fluss Südostasiens. Er bietet nicht nur zahllose Möglichkeiten, Elektrizität zu erzeugen, er ist zugleich auch eines der fischreichsten Binnengewässer der Erde. Kambodschaner und Laoten fangen hier pro Kopf die größten Mengen Süßwasserfisch weltweit. Die mehr als 500 bekannten Fischarten im Mekong haben Millionen Menschen während Dürren, Überschwemmungen und zur Zeit des mörderischen kambodschanischen Pol-­Pot­-Regimes vor dem Hungertod gerettet. Das macht den Fluss mit seinen verstrickten Zuläufen und Armen zu einem hoch­ komplexen Gebilde, nicht nur ökologisch, sondern auch politisch. Was hier dem einen nutzt, kann die Existenz des anderen bedrohen.

So kam es auch, dass Ban Pak Ing, das kleine Dorf mit unbefestigten Straßen und Häusern aus Schlackenbeton, in dem Boontom Ortsvorsteher ist, vom Wetter in China abhängig wurde.Ban Pak Ing erstreckt sich vom abschüssigen Westufer des Mekong bis zu einem gepflegten buddhistischen Tempel. Vor 20 Jahren lebten die Menschen hier noch vom Fischfang. Doch seitdem die Chinesen flussaufwärts erst einen, dann zwei und schließlich sieben Staudämme errichtet haben, hat sich das Leben der wenigen Hundert Dorfbewohner verändert. Denn seit­dem hat sich auch der Mekong verändert. Wenn in Südchina ein Unwetter herrscht, geben die chinesischen Staudämme mit einem Mal große Wassermengen frei, die dann flussabwärts auf Boontoms Dorf zuschießen. Eigentlich sollte die chinesische Regierung die flussabwärts gelegenen Länder rechtzeitig warnen. Doch solche Warnungen kommen entweder zu spät oder gar nicht.

Die plötzlichen Schwankungen des Wasserstands haben noch eine weitere, nachhaltigere Folge: Sie beeinträchtigen Migration und Laichverhalten der Fische. Und die Menschen hier leben von den Fischen. Boontom und viele andere haben ihre Fischerboote verkauft und sich auf den Anbau von Mais, Tabak und Bohnen verlegt. Es ist ein Geschäft, mit dem sich die Menschen hier nicht besonders gut auskennen und das wiederum erschwert wird durch die häufigen Überschwemmungen.

Ban Pak Ing ist keineswegs ein tragischer Einzelfall. Es ist ein Menetekel dafür, was auch vielen anderen Dörfern am Mekong in Zukunft droht. In China werden derzeit fünf weitere Dämme errichtet. Flussabwärts, in Laos und Kambodscha, sind elf Staudämme in Planung oder bereits im Bau. Einer davon soll nur 60 Kilometer flussabwärts von Ban Pak Ing gebaut werden. Aus dem Norden würden dem Dorf dann weiterhin die Überschwemmungen drohen, aber von Süden, von Laos her, würde auch noch ein steigendes Wasserreservoir dagegendrücken. „Stellen Sie sich vor, was mit uns geschehen wird“, sagt Boontom und schlägt die Handflächen hart aneinander. Sein Dorf würde von den Fluten zermalmt.

Schätzungen zufolge wird das Aufstauen des Flusses im gesamten unteren Mekong-Becken die Nahrungsversorgung von 60 Millionen Menschen gefährden. Kraisak Choonhavan, thailändischer Aktivist und ehemaliger Senator, bezeichnet die Dämme als „eine Katastrophe von gewaltigen Ausmaßen“.

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Die engen Schluchten und rauschenden Wasserfälle, die im 19. Jahrhundert für europäische Forschungsreisende auf der Suche nach einem Handelsweg in den Westen Chinas noch so hinderlich gewesen waren, sind für Dammbau-Ingenieure seit Langem attraktiv. Schon in den Sechzigerjahren plädierten die USA für den Bau von Staudämmen zur Stromerzeugung am Unterlauf des Mekong. Sie hofften, auf diese Weise die Wirtschaft der Region zu stärken und den Aufstieg des Kommunismus in Vietnam zu verhindern. Der Plan lief ins Leere, die Region wurde zum Kriegsgebiet. In den Neunzigerjahren war schließlich China das erste Land, dem es gelang, den Hauptarm des Mekong aufzustauen.

Heute ist Südostasien eine relativ friedliche Region, die Wirtschaft brummt fast überall. Doch nur ein Drittel der Kambodschaner und etwas mehr als zwei Drittel der Laoten haben Zugang zu Elektrizität, die oft sehr teuer ist. Die Nachfrage nach Energie in der Region wird rasant steigen: Eine Analyse der Internationalen Energieagentur aus dem Jahr 2013 geht von einem Mehrbedarf von 80 Prozent in den kommenden 20 Jahren aus. Um ihn zu decken, ohne das Klima noch stärker zu belasten, braucht Südostasien vor allem eines: saubere Energie. Das Wasserkraftpotenzial des Mekong ist verlockender denn je.

Doch wer regelt seine Nutzung? Für die Koordinierung des Dammbaus am unteren Mekong ist die Mekong River Commission (MRC) zuständig. Sie wird von ihren vier Mitgliedsstaaten Vietnam, Kambodscha, Thailand und Laos finanziert, gefördert mit internationaler Entwicklungshilfe. Zusammengehalten wird die Kommission allerdings nicht von einem gesetzlich bindenden Vertrag, sondern lediglich vom gemeinsamen Interesse am Fluss und am Frieden in der Region.

Das Gebilde wird nicht gerade stabiler durch die Tatsache, dass China kein Vollmitglied der Kommission ist und damit auch nicht ausdrücklich verpflichtet, seine Nachbarn flussabwärts zu konsultieren, wenn es am Oberlauf des Mekong bauen möchte. 1995 wurde der Wert des Arrangements besonders deutlich. Die Mitglieder der Kommission feierten die Unterzeichnung eines neuen Vertrags mit einer Fahrt auf dem Mekong. Das Boot lief auf Grund. Die Chinesen hatten einen neuen Staudamm errichtet, und der hatte der Festgesellschaft das Wasser abgegraben.

Die Pläne für elf Staudämme in Laos und Kambodscha haben die fragile Macht der Kommission zuletzt weiter untergraben. Eine von der MRC geförderte Umweltverträglichkeitsstudie forderte im Jahr 2010 einen Baustopp von zehn Jahren für Staudämme am Hauptarm des Mekong: Die Folgen für die Fischer und Bauern könnten sonst verheerend sein, und die Umweltschäden wären wohl „irreversibel“. Doch Laos hat andere Interessen. Das Land ist arm, war lange Zeit isoliert und will nun die „Batterie Südostasiens“ werden, indem es Wasserkraft an seine Nachbarn verkauft. Nach Jahren des Leugnens räumten laotische Funktionäre Ende 2012 ein, dass der Bau der hochumstrittenen Xayaburi-Talsperre an einem entlegenen Mekong-Abschnitt im Norden von Laos bereits im Gange sei. Das Geld dafür kommt aus Thailand, und wenn sie fertig ist, wird sie 32 Meter hoch und mehr als 800 Meter lang sein.

Als ich vor zwei Jahren dort war, sah ich ein Ufer, das ausgehöhlt war von Stollen. Sand und Schotter wurden aus ihnen gefördert. Kranaus- leger ragten über den Fluss, Arbeiter sprengten Terrassen in die steilen Böschungen. Die Bewohner eines kleinen Dorfes auf der anderen Seite des Flusses erzählten, dass sie schon seit drei Jahren unter dem Lärm der Sprengungen litten. Sie sollten umgesiedelt werden, in ein neu gebautes Dorf flussaufwärts. Einige freuten sich darauf; sie schienen froh zu sein, dem immer länger werdenden Schatten des Staudammes zu entkommen. Vielleicht könnten sie in der neuen Heimat sogar weiterfischen?

Flussabwärts, in unmittelbarer Nähe der Baustelle, gab es noch ein anderes Dorf. Seine Bewohner mussten 2013 umziehen, in eine Siedlung weit weg vom Flusstal. Das Staudammunternehmen hatte ihnen Geld und Land als Kompensation versprochen. Aber das Geld reiche nicht, sagten die Menschen, und es komme auch nur schleppend an. Sie wurden aus ihrer Agrargesellschaft gerissen und mussten sich nun in einer anderen Welt behaupten, die nach neuen, für sie fremden wirtschaftlichen Gesetzen funktionierte. „In unserem alten Dorf haben wir nicht viel Geld verdient, aber wir konnten den Reis essen, den wir angebaut haben“, erzählte eine junge Frau mit zwei Kindern. „Heute können wir jeden Tag Geld verdienen. Aber um Essen zu kaufen, müssen wir jeden Tag mehr ausgeben, als wir bekommen.“

Die Xayaburi-Talsperre bringt das Leben der Menschen schon jetzt aus dem Gleichgewicht. Doch vor allem wird mit dem Projekt ein Präzedenzfall geschaffen. Unter Missachtung des Umweltgutachtens und des Widerstands von Vietnam, Kambodscha und internationalen Nichtregierungsorganisationen ebnet Laos den Weg für den Rest der Staudammkaskade, die für den Hauptarm geplant ist. Und einige dieser Bauvorhaben könnten noch weitaus bedrohlichere Folgen für den Mekong haben.

Das Herz der Mekong­-Fischerei liegt in Kambodscha, wo ein großer See, der Tonle Sap, mit dem Hauptarm des Mekong verbunden ist wie eine Lunge mit der Luftröhre. Während der Monsunregenfälle wird der Tonle Sap größer, während der Trockenzeit schrumpft er. Sein trübes Wasser und die wechselnden Strömungen sind ein Paradies für Fische. Hunderte Arten tummeln sich hier, von fingerlangen Karpfenfischen bis zu Mekong­-Riesenwelsen, die an die 300 Kilo schwer werden können. Der Fischfang bildet die Lebensgrundlage für die Bewohner der schwimmenden Dörfer, Ansammlungen von Hausbooten, die am Ufer des Sees ankern.

Mehr als hundert Fischarten wandern vom Tonle Sap aus über weite Entfernungen nach Norden, manche bis nach Laos. Die Xayaburi­ Talsperre, etwa 900 Kilometer flussaufwärts, ist wohl zu weit entfernt, um einen unmittelbaren Einfluss auf die Migration der Fische zu haben. Aber gleich nördlich der Grenze, in Laos, wird bald ein weiterer Staudamm gebaut, der Don Sahong. Er soll zwar nur ein Bett des verzweigten Flusses aufstauen, doch mit Sicherheit wird er die Fischwanderung beeinflussen und auch den Lebensraum der Irawadidelfine weiter einschränken. Im Mekong gibt es nur noch weniger als hundert Exemplare dieser Spezies.

Eine noch größere Gefahr für die Fischerei zieht im Norden Kambodschas auf, an einem Nebenfluss des Mekong, dem Sesan. Der Sesan ist eine wichtige Migrationsroute für Dutzende Fischarten. Derzeit wird gerade der Lower Sesan 2 gebaut, ein Staudamm, der die Verbindung des Sesan mit dem Mekong kappen wird.

Nicht weit von der Baustelle entfernt, liegt das Dorf Vern Houy. Es ist nur mit dem Boot erreichbar. Als ich dort eine Gruppe von Frauen frage, was der Damm für sie bedeuten wird, sagen sie: „Wir werden sterben.“ Dies ist das einzige Leben, das sie kennen, eine Umsiedlung, ein anderes Leben können sie sich nicht vorstellen. Aber der Stausee wird das Dorf so oft überfluten, dass es unbewohnbar sein wird.

Das Haus des Dorfvorstehers besteht aus einem einzigen Raum. Pfähle stützen das Dach, Grasmatten bilden die Wände. Es ist Mittagszeit, ein paar Männer sitzen zusammen und essen frisch geschlachtete Ente mit scharfer Soße. „Ich würde nirgendwo anders hinziehen. Und auf keinen Fall in die Stadt“, sagt In Pong, der stellvertretende Dorfvorsteher. „Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Die Einwohner von Vern Houy haben sich mit denen anderer Dörfer zusammengeschlossen, um gegen den Staudamm zu protestieren. Sie haben Briefe an das kambodschanische Parlament geschrieben und sind in die Hauptstadt Phnom Penh gereist. Erfolglos.

Wie überall sind sich auch die Menschen hier nicht einig, ob die Dämme Bedrohung oder Chance sind. „Wir brauchen Fortschritt. Wir können den Strom nutzen. Wenn sie das Land hier fluten, ziehen wir eben in eine höher gelegene Gegend“, sagt Loek Soleang, Er ist Lehrer und einer der wenigen, die nicht im Dorf geboren wurden. Die Männer um ihn herum starren schweigend zu Boden. Pong nimmt einen Zug aus seiner Zigarette und bläst den Rauch nachdenklich durch das geöffnete Fenster.

Es stimmt: Die Menschen im Mekong­Becken brauchen mehr Strom. Vern Houy hat überhaupt keinen. Im Dorf O Svay, unterhalb der Don­Sahong­Baustelle, gibt es immerhin stinkende Dieselgeneratoren. Doch diese können sich nur die wohlhabendsten Familien leisten. Wie im größten Teil des ländlichen Südostasiens haben auch hier nicht viele Kinder das Glück, ihre Hausaufgaben bei elektrischem Licht machen zu können oder einen Ventilator zu besitzen, der ihnen in der Gluthitze des Sommers ein wenig Schlaf ermöglicht.

Genau damit argumentieren die kambodschanischen und laotischen Behörden: Staudämme würden den Armen im Land nützen, sie machten Elektrizität billiger und leichter zugänglich. Kambodscha hat sich zwar gegen die Dämme am Hauptarm des Mekong in Laos ausgesprochen, die Funktionäre loben aber den eigenen Lower Sesan 2 und andere Staudammprojekte an Nebenflüssen. „Dämme eröffnen den Menschen eine Chance. Wenn sie erst mal Strom haben, können sie ein besseres Leben führen“, sagt Touch Seang Tana, Vorsitzender einer kambodschanischen Kommission für den Erhalt der Mekong-Delfine und die Entwicklung des Ökotourismus.

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Die in Kambodscha und Laos geplanten Talsperren könnten tatsächlich Energie produzieren, die weit über den Eigenbedarf der beiden Länder hinausgeht. Aber das bedeutet nicht, dass jeder Fischer oder Bauer hier Strom bekommt. Von der Produktion am Hauptarm des Mekong würden 90 Prozent nach Thailand und Vietnam verkauft werden, vor allem in die boomenden Ballungszentren. Und die Einnahmen? Der Großteil ginge an die Unternehmen, die die Dämme gebaut haben, nicht an die Menschen an den Flussufern. Die Umweltverträglichkeitsstudie der MRC prognostiziert: Die von den Dammprojekten verursachten Verluste für die Fischerei würden die Armut noch verschärfen. In manchen Flüssen der Region ist die Ausbeute des Fischfangs nach dem Bau von Staudämmen um 30 bis 90 Prozent gefallen.

Dabei ist der Mekong mit seiner Wasserkraft keineswegs die einzige Quelle für erneuerbare Energien. Die elf geplanten Dämme am Unterlauf des Hauptarms sollen etwa sechs bis acht Prozent des südostasiatischen Energiebedarfs bis 2025 decken. Studien zeigen, dass Energieeffizienzmaßnahmen und Investitionen in andere emissionsfreie Technologien genauso viel oder mehr Energie zu geringeren Kosten generieren könnten. Doch in Südostasien klingen solche Ansätze für viele Funktionäre immer noch exotisch. Für die Regierungen von Kambodscha und Laos ist Wasserkraft vertrauter, machbarer und als Exportware wertvoller.

So bleibt letztlich nur eine Hoffnung: Dass es möglich ist, die Energie des Mekong zu nutzen und zugleich seinen Reichtum zu schützen. Eine Studie der Universität Princeton untersuchte 27 Staudämme, die an Nebenflüssen des Mekong geplant sind, und verglich das prognostizierte Energieaufkommen jedes Kraftwerks mit dem wahrscheinlichen Verlust für die Fischerei. Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass es enorme Unterschiede bei den Auswirkungen auf die Ökologie gibt. Die schlimmsten Folgen sind am Lower Sesan 2 zu befürchten: Allein dieser Damm würde die Fischbiomasse im Unterlauf um mehr als neun Prozent senken. Einige sorgfältig gesetzte Staudämme an anderen Stellen im Einzugsgebiet hingegen würden ebenfalls beträchtliche Mengen an Energie produzieren, die Nahrungsvorräte indes nur minimal schädigen.

Doch um solche Pläne zu verwirklichen, müssten die Anrainerstaaten und ihre Investoren ihre Aktivitäten miteinander abstimmen. Anders als bei den bisherigen willkürlichen, im Geheimen vollzogenen Vorstößen. „Man muss den Mekong wie ein Spielbrett betrachten, bei dem man entscheiden kann, ob man einen Damm hierhin und nicht dorthin setzt und so das ökologische Gleichgewicht des gesamten Flusssystems erhält“, sagt Brian Richter, Wasserexperte der amerikanischen Naturschutzorganisation Nature Conservancy. „Aber am Mekong ist das extrem schwer umzusetzen.“

In der Marktstadt Can Tho steht der auf Feuchtgebiete spezialisierte Ökologe Nguyen Huu Thien am Ufer und zeigt auf die jungen Vietnamesen, die auf ihrem Motorrad über die Straße knattern. „Wie viele von denen wissen etwas über die Dämme?“, fragt er. „Nur sehr, sehr wenige haben überhaupt eine Ahnung davon, was hier passieren wird.“ Nguyen wuchs in den Siebzigerjahren im Delta auf. Für ihn war es damals völlig normal, in den Kanälen und überfluteten Feldern zu schwimmen und mit den Händen Fische zu fangen. Später studierte Nguyen an der Universität von Wisconsin Naturschutzbiologie. „Das Mekong-Delta ist einzigartig“, sagt er. Die Mischung von Süß- und Salzwasser und die jahrhundertelangen Versuche der Menschen, den Fluss zu lenken, haben eine komplexe Landschaft geformt. Nguyen arbeitete gerade an einem Projekt zur Rückgewinnung von Feuchtgebieten, als er gebeten wurde, am MRC-Gutachten zu den geplanten Staudämmen mitzuarbeiten. Schnell wurde ihm klar, dass die Dämme all seine Bemühungen, neues Land nutzbar zu machen, vereiteln würden.

Das Gleichgewicht von Fluss und Meer verschiebt sich bereits durch den Klimawandel. Dürreperioden und der Anstieg des Meeresspiegels haben das Meerwasser landeinwärts ins Delta strömen lassen. Mit Folgen für die Bauern: Ihre Ackerflächen versalzen. In diesem Punkt hätten die Staudämme einen positiven Effekt: In der Trockenzeit könnte mehr Wasser abfließen und das Salzwasser zurückdrängen. Allerdings würden die Talsperren auch mehr als die Hälfte des Mekong-Beckens in Stauseen verwandeln und seine Fließeigenschaften und Sedimentfracht völlig verändern. Ein großer Teil der nährstoffreichen Ablagerungen, die heute die Felder düngen und die Fische ernähren, könnte sich nicht mehr frei über das Delta verteilen. Nguyen ist skeptisch: So wenig wie der Mensch die Folgen des Klimawandels ausgleichen kann, werde er die Folgen des Dammbaus in den Griff bekommen.

An einem kühlen Abend Ende Januar 2013 versammeln sich einige Dutzend Aktivisten in der Nähe des Mekong-Ufers in Ban Huay Luek, einem Dorf im Norden Thailands. Angeführt von einer Gruppe buddhistischer Mönche, sind sie zwei Wochen lang 124 Kilometer am Fluss entlangmarschiert. Die Protestaktion sollte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die geplanten Dämme lenken.

Nun gönnen die Demonstranten ihren mit Blasen bedeckten Füßen etwas Ruhe. Es wird still, als der Aktivist Kraisak Choonhavan das Podium betritt. Seine Stimme tönt aus einem knarzenden Lautsprecher. Er erinnert die Zuhörer daran, dass die chinesische Regierung vor Jahren Sprengungen an Stromschnellen durchführen ließ, um einen Abschnitt des Mekong schiffbar zu machen. Damals hatten Demonstranten aus dem Norden Thailands verhindert, dass die Chinesen ihr Vorhaben vollenden konnten. „Ohne euch hätten sie alles in die Luft gejagt“, ruft Choonhavan. „Jetzt müsst ihr aufstehen und diese Macht erneut einsetzen.“

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In Thailand gibt es – anders als in den Nachbarländern – eine Tradition von Bürgerprotest. Das Land könnte tatsächlich Einfluss ausüben auf den Bau der Dämme am Mekong­Hauptarm. Heimische Energieversorger gelten als potenzielle Abnehmer für einen Großteil der Elektrizität, die dort produziert würde. Doch dafür brauchen sie das Einverständnis der Regierung. Öffentlicher Widerstand könnte Thailands Politiker davon überzeugen, Neuplanungen oder gar die Annullierung von Dammprojekten zu fordern.

Nach dem Marsch reichten 37 Dorfbewohner Klage gegen die Regierung ein. Im vergangenen Sommer ließ ein thailändisches Gericht die Klage zu. Vermutlich zu spät. Der Bau der Xayaburi­Talsperre wird wohl nicht mehr zu stoppen sein. Schon bald soll der Staudamm von einem Ufer zum anderen reichen. Dann wäre es so weit: Der Hauptarm des unteren Mekong wäre zum ersten Mal abgeschnitten.

(NG, Heft 7 / 2015, Seite(n) 136 bis 157)

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