Nigeria - Gelähmt vor Angst

Dank der Erdöl-Milliarden galt Nigeria als Hoffnungsträger Afrikas. Nun droht die Terrorgruppe Boko Haram das Land brutal zu zerreißen.

Von James Verini
bilder von Ed Kashi
Foto von Ed Kashi

Der Fahrscheinkontrolleur an der Busstation von Kano stand mit dem Rücken zu dem Auto. Bevor er die Explosion hörte, schleuderte ihre Wucht ihn zu Boden. Benommen lag er auf dem Bauch, seine Ohren dröhnten, Flammen schlugen um seinen Kopf. In seinem Bein steckte ein Metallsplitter, aus der Wunde strömte Blut. Er wusste sofort, was geschehen war: Da war eine Bombe in dem Auto.

Der Mann in dem Wagen hatte sich von Anfang an auffällig verhalten. Als er auf das staubige Gelände der Busstation gefahren war, kamen Tickethändler auf ihn und seinen Beifahrer zu. Er hatte sie abgewimmelt. Als der Kontrolleur zu ihm gegangen war, hatte der Fahrer gesagt: «Wir haben schon Fahrscheine.»

Und dann – wumm.

Als der Schmerz in seinen Ohren nachließ, hörte der Ticketkontrolleur laute Schreie. Er sah, wie Menschen taumelnd von den Bussen wegliefen. Brennende Körper hingen aus zerborstenen Fenstern. Um ihn herum lagen die zerfetzten Leichen von Passagieren, von seinen Kollegen und von den Frauen, die gerade noch gekochten Maniok und gebratenen Fisch verkauft hatten. Von Freunden, die er täglich getroffen hatte, waren nur noch einzelne Körperteile übrig geblieben. Als er bemerkte, dass er selber in Flammen stand, riss er sich die Kleidung vom Leib und lief nackt in Richtung Krankenhaus. Auf dem Weg verlor er das Bewusstsein. Irgendjemand schleppte ihn weiter.

Ich traf den Kontrolleur eine Woche später in einem Krankenhaus in Kano, in dem drei Stationen mit den Opfern des Anschlags belegt waren. Wer dem Schlimmsten entgangen war, litt an Verbrennungen im Gesicht und hatte sich die Haut nur an Armen und Hüften samt der Kleidung vom Leib gerissen. Die, die weniger Glück hatten, ähnelten kaum mehr Afrikanern. Die äußere Hautschicht an ihrem Körper war weggebrannt. Sie sahen aus – und sofern sie ihre Lippen überhaupt bewegen konnten, raunten sie sich das im Scherz zu – wie bekee. In der Sprache der Igbo, einem der großen Volksstämme Nigerias, bedeutet das „weißer Mann“. Es war, als hätte man sie ihrer Identität beraubt.

Einer dieser Männer saß auf seinem Bett, während Krankenschwestern ihn vorsichtig in Gaze hüllten. Er musste unerträgliche Schmerzen haben, trotzdem schaute er mich so freundlich an, dass ich lächelte. Ich fragte ihn – und wusste sofort, dass dies eine ausgesprochen dumme Frage war –: «Sind Sie o.k.?»

«Nein», antwortete er ganz ruhig, wandte sich ab und starrte gegen die Wand.

In dem Moment, als das Auto explodierte, hatten er, der Fahrscheinkontrolleur, und jeder, der den Knall sah oder hörte, nur zwei Worte gedacht: Boko Haram. Zwar wusste niemand, wer Boko Haram war und warum sie eine Busstation als Ziel eines Bombenanschlags wählten, aber das tat nichts zur Sache.

Im offiziellen Sprachgebrauch der nigerianischen Regierung ist Boko Haram eine terroristische Gruppe. Der Name ist aus der Sprache Hausa und dem Arabischen zusammengesetzt und bedeutet so viel wie „Westliche Bildung ist Sünde“. Boko Haram entstand zu Beginn dieses Jahrtausends aus einer separatistischen Bewegung, die von Mohammed Yusuf angeführt wurde. Der radikale muslimische Prediger aus dem Norden Nigerias prangerte Armut und Korruption an und rief den Kampf für einen „Gottesstaat“ aus. Im Jahr 2009 wurde Yusuf verhaftet, kurz danach war er tot. Die nigerianische Polizei erklärte, der Boko­Haram­Führer sei bei einem Fluchtversuch erschossen worden. Seine Anhänger schworen Vergeltung.

In mehr als zehn Jahren seit den Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center ist es der Weltgemeinschaft nicht gelungen, den gewalttätigen Islamismus zurückzudrängen. Mehr denn je schüren die Terroristen Konflikte in Afrika. In der Sahelzone sind auch die Qaida im islamischen Maghreb und die Dschihadisten, die bis zum Jahr 2013 den Norden Malis kontrollierten, aktiv. Doch Boko Haram hat sich als die gewalttätigste der neuen, noch gnadenloseren Bewegungen erwiesen. Die radikale Gruppe fordert ein islamisches Reich in Nigeria und ruft zum Krieg gegen Christen und zur Ermordung von Muslimen auf, die in ihren Augen Verräter sind.

Auf das Konto von Boko Haram gingen zwischen 2009 und 2013 mindestens 4700 Tote. In diesem Jahr erreichte die Gewalt in dem westafrikanischen Land eine neue Stufe. Amnesty International zählte bis März 1500 Todesopfer. Andere Schätzungen gehen von etwa 2000 Menschen aus, die im ersten Halbjahr 2014 bei Boko­Haram­Angriffen getötet wurden. Noch einmal so viele starben bei Vergeltungsschlägen von Polizei und Armee.

Worum es bei dem Konflikt wirklich geht, können nicht einmal Experten exakt beurteilen. Manche halten Boko Haram für eine rein islamistische Gruppierung, andere eher für eine nationale Widerstandsbewegung. Nur eines ist sicher: weder Muslime noch Christen in Afrikas bevölkerungsreichstem Land können sich sicher schätzen.

Zunehmend wählen die radikalen Islamisten „weiche“ Ziele. Im April verschleppten sie in der Stadt Chibok im Nordosten des Landes 276 Schülerinnen. Die meisten von ihnen waren bis zur Drucklegung dieser Ausgabe Anfang August noch nicht wieder frei. Boko Haram erklärt Fußball für unislamisch und drohte mit Anschlägen während der Weltmeisterschaft: In Damaturu sprengte sich inmitten von Fernsehzuschauern, die sich das Spiel zwischen Brasilien und Mexiko anschauten, ein Selbstmordattentäter in die Luft. Er riss mehr als 20 Menschen mit in den Tod. Die Gegend im Norden gilt als Hochburg der Gruppe. Über die Bundesstaaten Yobe, Borno und Adamawa ist seit Mai 2013 der Ausnahmezustand verhängt.

Im kollektiven Bewusstsein des mit 170 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten afrikanischen Landes ist Boko Haram längst nicht mehr nur eine islamistische Gruppierung. Die Nigerianer hüten sich davor, den Namen der Terrormiliz auszusprechen – aus Furcht, getötet zu werden. Sie reden allenfalls von «der Krise» oder «der Unsicherheit». «Die Leute trauen ihren Nachbarn nicht mehr», sagte mir ein Aktivist in Kano, der mit 2,4 Millionen Einwohnern zweitgrößten Stadt Nigerias. «Jeder kann von Boko Haram sein.» Staatspräsident Goodluck Jonathan, ein evangelikaler Christ, stellte sogar öffentlich die Frage, ob der Terror das Zeichen einer bevorstehenden Apokalypse sei.

Etwa die Hälfte der Nigerianer sind Muslime, die meisten von ihnen leben in den nördlichen Bundesstaaten. Nach dem Bombenanschlag auf die Busstation in Kano im März 2013 reiste ich zweimal nach Atakar, eine hügelige Gegend im Bundesstaat Kaduna. Dort sollten viele Menschen getötet worden sein. Vor dem ersten Besuch hatte ich mich bei Vertretern der Regierung erkundigt. Sie sagten, sie seien nicht in Atakar gewesen und planten dies auch nicht. Sie seien jedoch überzeugt, dass die Morde das Werk von Boko Haram seien. Alle Getöteten seien Christen gewesen. «Es gibt einen Zusammenhang mit dem Kampf, den Norden zu islamisieren», sagte ein Beamter. «Sie wollen so viele Christen wie möglich beseitigen.»

In dem ersten Dorf, das ich besuchte, traf ich auf eine muslimische Familie vom Volk der Fulbe, die bei den niedergebrannten Grundmauern ihrer Häuser ausharrte. Nach ihrer Darstellung waren sie von einem plündernden Mob aus einem anderen Teil Atakars angegriffen worden, ihrer Vermutung nach von Christen. Einige behaupteten, die Attacke habe einen ethnischen Hintergrund, andere glaubten an religiöse Motive. Ein junger Mann erzählte mir, dass die Auseinandersetzung entstanden sei, nachdem eine Kuh vergiftet worden war. «Wir wurden attackiert, weil wir Fulbe sind – und wegen der eingegangenen Kuh», sagte er.

Eine Kleinigkeit wie so viele, die im Norden Nigerias über Jahrzehnte ethnische oder religiöse Auseinandersetzungen ausgelöst haben. Im Jahr 2002 hatte ein Journalist geäußert, der Prophet Mohammed hätte wohl nichts gegen einen Schönheitswettbewerb einzuwenden gehabt. Die darauf folgenden Unruhen forderten Hunderte Menschenleben.

Später fuhr ich in einen anderen Teil von Atakar und fand heraus, dass auch dort Dorfbewohner angegriffen worden waren – Christen vom Volk der Ataka. Sie waren in einem Flüchtlingslager auf einem Schulhof versammelt. Ein Mann sagte mir, er sei in seinem Haus gewesen, als er Schüsse gehört habe. Er ging nach draußen und sah schwarz gekleidete Männer aus großen Gewehren feuern. Er war sich sicher, dass die Angreifer Fulbe waren, ein Nachbar stimmte ihm zu. Als ich den Nachbarn fragte, warum er das glaube, sagte er: «Meine Leute tragen nicht Schwarz.» Beide hatten den Verdacht, dass die Angreifer auch zu Boko Haram gehörten. Warum die Islamisten einen so abgelegenen Ort angreifen sollten, konnten sie mir nicht erklären.

«Wir wollen daran glauben, dass es Boko Haram ist», sagte mir ein örtlicher Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. Er wollte damit ausdrücken, dass das Leben im Norden Nigerias inzwischen von so unfassbarer Angst bestimmt ist, dass man zwischen der Überzeugung, dass Boko Haram dabei eine Rolle spielt, und einer womöglich davon abweichenden Realität nicht mehr unterscheiden will.

«Nigeria sollte Gottes eigenes Land in Afrika sein», schrieb Ken Saro-Wiwa Jr. in seinen Erinnerungen („Im Schatten des Märtyrers“, Claassen-Verlag, 2002) an seinen Vater Ken Saro-Wiwa, den berühmten Bürgerrechtler, der 1995 nach vorgeschobenen Anschuldigungen verurteilt und hingerichtet worden war. Das Land verfügt über reiche Vorkommen an Gas und Mineralien, große Häfen, fruchtbare Böden, eine gebildete Mittelschicht, geschäftige Städte und eine kritische, wenn auch nicht völlig freie Presse. Der wichtigste natürliche Reichtum aber ist seit seiner Entdeckung in den fünfziger Jahren das Rohöl. Nigeria ist der fünftgrößte Exporteur weltweit und hat nach einer umstrittenen Neuberechnung des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr Südafrika als größte Volkswirtschaft des Kontinents überholt. Dennoch leben zwei Drittel seiner Einwohner in absoluter Armut – sie haben gerade genug, um nicht zu sterben.

Das Öl hat die öffentliche Verwaltung zu einer sehr lukrativen Branche gemacht, und weil die Staatskassen vor allem durch die Öleinnahmen und nicht durch Steuern gefüllt werden, glauben Politiker, sie müssten niemandem Rechenschaft ablegen. Eine Zeitung schätzte 2012, dass seit dem Amtsantritt von Präsident Jonathan im Jahr 2010 rund 31 Milliarden Dollar in dunklen Kanälen versickert seien. «In Nigeria ist der Staat schon immer auf allen Ebenen gescheitert», sagte mir ein westlicher Diplomat.

Dieses Scheitern ist überall zu besichtigen, aber nirgendwo so sehr wie in Kano, der Stadt, die einst zu den bedeutendsten Orten Afrikas und der muslimischen Welt zählte. Händler und Geistliche brachten den Islam im 11. Jahrhundert hierher. Der Hausa-König von Kano nahm ihn 1370 als seine Religion an. 1804 wurde ein Kalifat gegründet, das die Briten 1903 stürzten, die gefügigen Emire aber blieben in ihren Ämtern. Kano war seit der Antike ein regionaler Handelsknoten, nun wurde es zu einem industriellen und landwirtschaftlichen Zentrum.

Der Emir und die Briten hielten westliche Bildung und anderen Fortschritt von Kano fern, aber sie erlaubten die Zuwanderung von Christen aus dem Süden. Seit den siebziger Jahren geriet Kano ins Abseits, denn im Norden gab es kein Öl. Die aktuellen Statistiken sind beunruhigend: Im Norden Nigerias sind mehr als die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren wegen Unterernährung in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. Im Nordosten, wo Boko Haram seinen Ursprung hat, ist nur ein Viertel der Häuser ans Stromnetz angeschlossen. Seit dem Jahr 1980 wurden Tausende in ethnischen oder religiösen Konflikten getötet.

Heute erweckt Kano den Eindruck einer kampfesmüden Garnisonsstadt. Bei der Anfahrt werden Besucher alle paar hundert Meter kontrolliert. Die Stadt ist zur urbanen Wüste geworden: Straßen, Parks und Plätze sind menschenleer. An Orten, die zum Ziel eines Anschlags werden könnten, wurden sämtliche Schilder entfernt –und das ist praktisch überall.

Die einzigen sichtbaren Zeichen einer Ordnungsmacht sind die Einheiten der Joint Task Force, kurz JTF, die in gepanzerten Fahrzeugen patrouillieren. Die paramilitärischen Teams werden von Polizisten, Soldaten und Agenten des State Security Service, einer mit dem FBI vergleichbaren bundesstaatlichen Ermittlungsbehörde, gebildet. Sie sind für ihre Brutalität und Bestechlichkeit berüchtigt und werden vor allem in ärmeren muslimischen Stadtvierteln ebenso gefürchtet wie die Aufständischen.

Die wahre Macht in Kano, die Regierung des Bundesstaates, sitzt hinter hohen Mauern im Stadtzentrum. Gouverneur Rabiu Kwankwaso begrüßte mich in seinem Büro von einem ledernen Sofa aus, an einer Wand hing sein lebensgroßes Porträt, an einer anderen Wand lehnte eine Pappfigur mit seinem Antlitz. Auf beiden Darstellungen trug er die gleiche Kleidung wie jetzt bei meinem Besuch: einen weißen, kaftanartigen Umhang, die babban riga, und eine rote randlose Kappe. Beides sind Symbole seiner Kampagne zur Erneuerung Kanos, die er die «Rote­Kappen­Revolution» nennt.

«Ich bin sehr zuversichtlich, dass Nigeria sie eines Tages bezwingen wird», sagte mir Kwankwaso über die Auseinandersetzung mit Boko Haram. «Wie das gelingen wird, ist derzeit schwierig zu sagen.» Während wir redeten, erlosch das Licht – das Stromnetz von Kano ist seit Jahren marode. Als die Lampen wieder angingen, sprach er weiter. «Wir müssen Gewalt verhindern. Aber andererseits muss die Regierung auch so viele andere Dinge tun. Was wir erleben, ist nur ein Symptom dessen, was früher geschehen ist.» Nachdem Kwankwasos erste Amtszeit als Gouverneur 2003 beendet war, wurde er angeklagt, 7,5 Millionen Dollar aus der Staatskasse unterschlagen zu haben. Er wurde nie vor Gericht gestellt, und 2011 gewann er erneut die Wahl.

Der Palast des Emirs liegt in der ummauerten Altstadt von Kano. Inmitten der Armut seiner Untertanen lebte der Greis, der inzwischen gestorben ist, wie zu alten Zeiten. Eine Audienz bei ihm wurde mir verwehrt, aber ich durfte mich eines Morgens im Palast umschauen. Ich kam mit einem Bus voll Besuchern aus den Golfstaaten an, die den Palast mit Geschenken in Duty-free-Tüten betraten. Der Emir empfing sie, danach kam er heraus. Er war in seidene Gewänder gekleidet, bestieg ein Pferd, wobei seine Bediensteten ihn mit einem riesigen, quastenbehangenen Schirm vor der Sonne schützten, und ritt zu seiner Moschee. Früher konnte jeder solchen Ritualen zuschauen – bis zum Januar 2013. Damals näherten sich Männer in einem Wagen dem Rolls-Royce des Emirs und eröffneten das Feuer. Zwei Söhne des Emirs erlitten Schussverletzungen, mehrere seiner Begleiter wurden getötet.

Während ich in Kano war, gab es beinahe täglich Berichte über Schusswechsel und eine Reihe von fehlgeschlagenen Bombenattentaten, darunter eines auf den Palast des Emirs. An Sonntagen stehen Wasserwerfer der Polizei vor Kirchen bereit, während drinnen die Priester über «den Kampf des Herrn» gegen Boko Haram predigen. Nicht weit entfernt verdammen Geistliche in Moscheen Goodluck Jonathans «Krieg gegen den Islam».

Einmal, es war an den Ostertagen, bekam ein befreundeter Fernsehreporter einen Anruf. Die JTF hatte ein mutmaßliches Versteck von Boko Haram gestürmt. Er kehrte einige Stunden später mit einem Video zurück: Es zeigte sorgsam aufgereihte Schusswaffen und Munition, und daneben sorgsam aufgereihte Leichen getöteter „militanter Kämpfer“. Unter den Leichen konnte ich mindestens eine Frau und ein Kind erkennen. Die Anordnung der Getöteten legte nahe, dass sie entweder nach ihrer Erschießung so hingelegt worden waren. Oder dass ein Massenmord stattgefunden hatte.

Es gibt unterschiedliche Versionen, wie Boko Haram entstanden ist. Am häufigsten hört man in Nigeria, dass Anfang des Jahrtausends ein von der Armut und Unordnung angeekelter Prediger namens Mohammed Ali sich in der Stadt Maiduguri im Nordosten auf eine hidschra begab, einen von Muslimen praktizierten Rückzug aus der Gesellschaft. Mit seinen Gefolgsleuten gründete er eine Gemeinschaft, in der die Scharia galt. Nach einer Auseinandersetzung mit den Behörden griff die zunächst Nigerianische Taliban genannte Gruppe eine Polizeistation an. Das Militär begann eine Belagerung, und Ali wurde getötet.

Die Überlebenden fanden unter Mohammed Yusuf, einem aufstrebenden Anhänger Alis, wieder zusammen. Yusuf begründete eine größere Allianz, die in einem Bericht als «Staat im Staate, mit einem Kabinett, einer eigenen Religionspolizei und einer großen Farm» beschrieben wurde. Er nannte seine Gruppe „Gemeinschaft für die Verbreitung der Lehre des Propheten und des Heiligen Krieges“. Möglicherweise um Yusufs Fanatismus zu verspotten, nannte sie jemand «Boko Haram».

Laut Medienberichten führte Yusuf Zwangsbekehrungen zum Islam durch und befahl wahrscheinlich auch die Ermordung eines Rivalen. Dennoch wuchs seine Anhängerschaft in Nigeria – nicht nur unter Muslimen. «Boko Haram ist eher eine Widerstandsbewegung gegen den Machtmissbrauch als eine rein islamische Gruppe», sagte ein Bischof.

2009 kam es zu Zusammenstößen von Yusufs Gefolgsleuten mit Sicherheitskräften. Das Militär feuerte auf die Gruppe. Yusuf hatte vorausgesagt, er werde im Fall seiner Festnahme ohne ein Gerichtsverfahren getötet werden – und genau so geschah es.

Seine Anhänger tauchten unter. Einige gingen ins Ausland, um mit anderen Kämpfern zu trainieren, andere schlossen sich in Kano um Yusufs Stellvertreter Abubakar Shekau zusammen. Sie nahmen sich vor, «uns und unsere Religion aus den Händen Ungläubiger und der Regierung Nigerias zu befreien». Die Terroristen überzogen den Norden des Landes mit Bombenanschlägen,

Brandstiftungen und Schießereien. Sie richteten sich gegen Polizeistationen und Regierungsgebäude, dann gegen Kirchen, Moscheen, Schulen und Universitäten. Staatsbeamte, Politiker und Geistliche wurden umgebracht. Es gab ein Selbstmordattentat auf das Gebäude der Bundespolizei in Nigerias Hauptstadt Abuja, dann auf den dortigen Sitz der Vereinten Nationen.

Ein tödlicher Angriff traf Kano am 20. Januar 2012. In Wellen überfielen Bewaffnete Polizeistationen und Büros des State Security Service. Offiziell wurde die Zahl der Toten mit 185 angegeben, aber Einwohner der Stadt versicherten mir, dass es viel mehr gewesen seien. Sie erzählten mir auch, dass einige Leute ihr Leben riskiert und sich vor den Polizeistationen versammelt hätten, um die Angreifer noch anzufeuern – so verhasst ist die Staatsmacht in Kano.

Die Wut, die diese Bewohner antrieb, lässt sich mit einem der Lieblingssprüche Ken Saro­Wiwas erklären, den dessen Sohn gern zitierte: «Einen Tag in Nigeria zu leben, bedeutet, viele Male zu sterben.»

Um nach Kano zu gelangen, musste ich am Flughafen von Lagos umsteigen. Der Aufpasser an der Gepäckdurchleuchtung verlangte in Anwesenheit seiner ungerührten Vorgesetzten ein Bestechungsgeld von mir. Als ich mich weigerte, fing er an zu feilschen: «Geld für ein Wasser?» Ich sagte ihm, wenn er wirklich Durst habe, könne er mich in der Snackbar treffen.

Eine halbe Stunde später kam er, nun nicht mehr in Uniform, sondern in Jeans und mit zwei Mobiltelefonen in der Hand. Wir unterhielten uns eine Stunde, und ich lud ihn schließlich zum Mittagessen ein. Er wiederum rief einen Freund an, der mich am Flughafen in Abuja in Empfang nehmen sollte. «Was immer du brauchst ...», sagte er beim Abschied, und es war ernst gemeint. So sieht in Nigeria die Polyfonie des Umgangs miteinander aus – „liebevolle Erpressung“ nennen es manche.

Das Land hat in den gut 50 Jahren seiner Unabhängigkeit einen Bürgerkrieg, sechs Militärputsche, zwei Morde an Staatsoberhäuptern und mindestens drei verheerende Aufstände erlebt. Das Volk verachtet die politische Führung, auch damit ist vielleicht die komplexe Sicht der Nigerianer auf Boko Haram zu erklären.

Einerseits verurteilt es deren Gewalttaten, und es durchschaut deren Heuchelei. Ein muslimischer Soldat, der am Palmsonntag eine Kirche bewachte, sagte mir: «Sie erzählen uns, westliche Bildung sei ein Übel. Aber das Buch, das sie lesen – wie wurde es denn hergestellt? Der Stift, mit dem sie schreiben, die Waffe in ihren Händen – wo wurden sie produziert?»

Andererseits bringen die Nigerianer Boko Haram eine Art widerwilligen Respekt entgegen. Sie kennen die Frustrationen, die Menschen dazu treiben kann, die Waffe gegen den korrupten Staat zu erheben.

Als ich mehr über das Bombenattentat auf die Busstation in Kano herauszufinden versuchte, wurde mir klar, wie sehr und auf welch seltsame Weise der Aufstand die Psyche der Nigerianer verändert hat. Im Gegensatz zu den üblichen Boko­Haram­Attentaten hatte dieses kein spezifisches Ziel, es sollte einfach nur so viele Menschen wie möglich töten. Über die Bedeutung gibt es unterschiedliche Theorien. In Kano leben vor allem Hausa und Fulbe, aber im Stadtbezirk Sabon Gari, in dem die Busstation liegt, wohnen viele Igbo. Sie sind vornehmlich Christen. «In meinen Augen war es eine Ausweitung der Attentate gegen Christen», sagte mir ein Sicherheitsbeamter in Abuja. Ein traditioneller Igbo­Vorsteher in Sabon Gari, Chief Tobias, behauptete: «Igbos waren das Ziel.»

Aber diese Theorie ist nicht schlüssig. Die Busfahrer sind Igbo, auch viele der Passagiere und Bediensteten der Busstation, die ums Leben kamen. Aber viele andere eben nicht. Manche waren Hausa oder Fulbe, vielleicht sogar einige Kanuri – sie gehörten also der gleichen Ethnie an wie die Mehrheit der Begründer von Boko Haram. In Sabon Gari stehen die meisten Kirchen Kanos, aber es gibt auch zahlreiche Moscheen. Dieser Stadtteil erinnert am ehesten an die alten, kosmopolitischen Zeiten. Hier könnte man innerhalb eines Tages Angehörigen von jeder einzelnen der etwa 250 ethnischen Gruppen in Nigeria begegnen.

Junaid Muhammad, ein Muslim und ehemaliger Abgeordneter aus Kano, sagte, die These von Chief Tobias sei lächerlich. «Man kann doch einer Kugel oder einer Bombe nicht sagen: ‹Du musst einen Igbo treffen› oder ‹Los, töte einen Hausa›». Ich besuchte Boniface Ibekwe, den obersten Führer der Igbo in Kano. Er ist Christ, und zu meiner Überraschung stimmte er Muhammad zu. «Dies war keine direkte Attacke auf mein Volk», sagte er. «Boko Harams Ziel ist es vor allem, an Orten mit Menschenansammlungen Zerstörung anzurichten.»

Die staatlichen Stellen haben Boko Haram für den Anschlag verantwortlich gemacht, ohne den Vorfall zu untersuchen. Es gab keine offizielle Opferzahl. Einige Zeugen behaupteten, in dem Auto hätten zwei Leute gesessen, andere sagten drei. Journalisten zufolge haben die Sicherheitskräfte die Leichen schnell vom Tatort entfernt. Sie ließen auch Überlebende von einem Krankenhaus in ein anderes verlegen, um sie von Reportern fernzuhalten. «Die Behörden wollen die Öffentlichkeit bewusst im Dunkeln lassen», sagte Nasir Zango, ein Reporter aus Kano.

Warum? Auch darüber gibt es unterschiedliche Theorien: Um Vergeltungsschläge zu vermeiden. Um ihre eigenen Jobs zu schützen. Weil sie sowieso oft lügen. Am häufigsten hörte ich eine Erklärung, die mich am meisten beunruhigte: Die Sicherheitskräfte haben nach dem Anschlag nicht ordentlich ermittelt, weil sie es nicht können. Sie haben weder die Ausbildung dafür noch die Erfahrung. Mir wurde gesagt, dass die Polizei häufig nach Anschlägen nicht einmal Zeugen befrage.

Das hindert die Regierung und die Medien aber nicht daran, für jegliche Gewalt im Norden Boko Haram verantwortlich zu machen. Diese pauschalen Schuldzuweisungen, darüber sind sich viele Nigerianer einig, nutzen gewöhnliche Kriminelle für ihre Verbrechen aus. «Man könnte auf die Idee kommen, dass irgendjemand unbedingt möchte, dass die Schwierigkeiten weitergehen», sagte mir der Journalist Lawan Adamu. «Der Konflikt bekommt eine immer größere Dimension, weil mittlerweile viele an eine Verschwörung glauben.»

Ken Saro-Wiwa jr., der mittlerweile – in einer wundersamen und sehr nigerianischen Wendung – als Berater von Präsident Jonathan arbeitete, sagte mir, dass Boko Haram etwas typisch Nigerianisches sei. «Am Anfang stand eine von einer Ideologie getriebene Bewegung. Mittlerweile haben sich politische und wirtschaftliche Interessen so damit vermischt, dass niemand mehr sagen kann, worum es geht.»

Als ich einen Gemeindevorsteher in Atakar fragte, warum sich in den angegriffenen Dörfern keine offiziellen Vertreter der Regierung hatten blicken lassen, sagte er: «Warum hätten sie kommen sollen? Die schüren doch all diese Dinge.» Und war Boko Haram darin verwickelt? «Warum nicht?» sagte er. «Was ist der Unterschied?»

Fast kein Nigerianer, mit dem ich sprach, glaubt, dass Boko Haram einfach Boko Haram ist. Manche behaupten, es handle sich um eine Schöpfung des Westens. Andere sind überzeugt, dass Boko Haram von machthungrigen Politikern des Nordens unterstützt wird oder von solchen aus dem Süden, die den Norden destabilisieren wollen, oder von Präsident Jonathan, weil er Wahlen verhindern möchte. Jonathan scheint zu glauben, dass der Regierungsapparat bereits von Boko Haram unterwandert ist. Bei einem Gottesdienst im Jahr 2012 sprach er unvermittelt über seine Theorie: «Einige von Boko Haram sitzen in der Exekutive, einige in der Legislative und einige sogar in der Justiz. Es gibt auch Anhänger bei den Streitkräften, bei der Polizei und anderen Sicherheitsdiensten.»

Boko Haram ist zu einem nationalen Synonym für eine lähmende Angst geworden, zu einer Projektionsfläche für die schlimmsten Befürchtungen der Nigerianer über ihre Gesellschaft. Diese Besorgnis gilt elementaren Aspekten ihres Lebens wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion, regionalen Unterschieden, dem Erbe des Kolonialismus. Viele Menschen in Nigeria haben erkannt, dass ihre politische Führung unfähig und nicht willens ist, sich den Terroristen entgegenzustellen, geschweige denn die dem Aufstand zugrunde liegenden gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Und schlimmer noch: Sie glauben, dass die Regierung nicht besser ist als die Aufständischen – dass der Staat für Terror steht, genau wie Boko Haram.

Was keine völlig absurde Annahme wäre. Von den mehr als 4700 Todesopfern, die bis Juni 2013 Boko Haram zugeschrieben wurden, gehen nach Angaben von Human Rights Watch fast die Hälfte auf das Konto der Sicherheitskräfte. Viele der Toten waren Zivilisten, die im falschen Augenblick am falschen Ort waren. Nicht nur der Aufstand wird immer brutaler, sondern auch die Reaktion des Staates. Im Juli 2013 setzten mutmaßliche Boko­Haram­Kämpfer ein Internat in Mamudo in Brand, 42 Schüler und Lehrkräfte wurden getötet. Im April 2013 überfiel das Militär das Dorf Baga mit der Begründung, dort hätten sich Extremisten versteckt. Mindestens 200 Menschen verloren ihr Leben. Zeugen berichteten, dass Soldaten Dorfbewohner, die aus ihren Häusern flohen, erschossen hätten. Ich habe Einwohner aus Kano interviewt, die erzählten, sie seien von Sicherheitskräften verfolgt, geschlagen oder angeschossen worden.

Am Ende meines Aufenthalts in Nigeria reiste ich nach Abuja, wo ich die Berichte dieser Menschen einem General vortrug, der das staatliche Vorgehen gegen Boko Haram maßgeblich mitbestimmt hatte. Er wollte nicht einmal eingestehen, dass es Übergriffe gab. Als ich nachhakte, fing er an, zu brüllen und auf seinen Schreibtisch zu schlagen. Er sagte, solche Geschichten würden von Journalisten erfunden, die mit Boko Haram sympathisierten. Schließlich beruhigte er sich und fuhr fort: «Nigerianer verstehen immer noch nicht, vor welcher großen Herausforderung wir stehen, wie ernst die Lage ist. Sie verstehen es nicht.»

Als er dies sagte, musste ich an eine Frau denken, der ich im Krankenhaus in Kano begegnet war. Sie hatte am Tag des Bombenattentats an der Busstation Trinkwasser verkauft. Ihre kleine Tochter hatte ihr geholfen. Nach der Explosion fehlte von dem Mädchen jede Spur. In dem Chaos rief die Frau den Namen, es kam keine Antwort. Sie begann unter den Leichen zu suchen. Als sie ihre Tochter auch dort nicht fand, hielt sie nach einem Arm, einem Bein, einem Kleidungsstück, einem Schuh oder sonst einem Hinweis Ausschau. Sie fand nichts. Sie sagte bei der Polizei aus, was geschehen war, aber sie wurde weggeschickt. Ihr Mann ging zu jedem Krankenhaus in Kano. Vergebens.

«Seit jenem Tag habe ich meine Tochter nicht mehr gesehen», sagte sie. In ihrer Stimme schwangen Verzweiflung und Kummer mit. Doch als sie von der Polizei sprach, änderte sich ihr Tonfall. Die Frau bebte vor Zorn.

(NG, Heft 9 / 2014, Seite(n) 68 bis 93)

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