Orkney-Inseln: Ein Tempel der Steinzeit

Eines Tages vor mehr als
 5000 Jahren beschlossen die Bauern und Hirten auf
 den entlegenen Orkney-Inseln, etwas Großes zu bauen.
 Etwas wirklich Großes...

Von Roff Smith
bilder von Jim Richardson
Foto von Jim Richardson

Sie verfügten zwar nur über steinzeitliche Techniken, aber die Vision der Baumeister am rauen Rand Europas war ihrer Zeit um Jahrtausende voraus. Um 3200 v. Chr. errichteten die Ureinwohner der Orkneys eine monumentale Tempelanlage, die alles Dagewesene übertraf. Ihre Entdeckung stellt Europas Vorgeschichte auf den Kopf.

Auf dem fruchtbaren Archipel vor der Nordspitze des heutigen Schottland bauten die Bewohner Tausende von Tonnen feinkörnigen Sandstein ab, behauten und schliffen ihn und transportierten ihn mehrere Kilometer weit auf einen grasbewachsenen Hügel mit einem majestätischen Rundblick über die Landschaft. Das handwerkliche Können dieser frühen Architekten war beeindruckend: Die mächtigen Mauern, die sie errichteten, hätten den römischen Legionären alle Ehre gemacht, die etwa 30 Jahrhunderte später rund 650 Kilometer weiter südlich den Hadrianswall bauten.

Diese Mauern umschlossen Dutzende Gebäude, darunter eines der größten überdachten Bauwerke, die je im prähistorischen Nordeuropa gebaut wurden. Es war mehr als 25 Meter lang und 19 Meter breit und hatte vier Meter dicke Wände. Durch die Anlage führten gepflasterte Wege, es gab Steinschnitzereien, bemalte Fassaden, sogar Schieferdächer – ein Luxus zu einer Zeit, in der Gebäude gewöhnlich mit Grassoden, Tierhäuten, Stroh oder Reet gedeckt waren.

Auf unserer Zeitreise springen wir nun fünf Jahrtausende vorwärts und landen an einem milden Sommernachmittag auf einer malerischen Landzunge, dem Ness of Brodgar, unweit von Kirkwall, der Hauptstadt der Orkneys. Hier gräbt ein Team aus Archäologen, Universitätsprofessoren, Studenten und Freiwilligen eine Ansammlung großartiger Gebäude aus, die lange Zeit verschüttet unter einem Acker lagen. Der Archäologe Nick Card, Grabungsleiter am Archäologischen Institut der University of the Highlands and Islands in Kirkwall, sagt, die Entdeckung der Ruinen stelle die britische Vorgeschichte auf den Kopf. «Das hier hat beinahe die Dimension einiger prachtvoller Stätten im Mittelmeerraum, zum Beispiel der Akropolis in Griechenland, nur sind diese Bauten eben 2500 Jahre älter», erklärt Card. «Wie die Akropolis wurde diese Anlage gebaut, um die Landschaft zu beherrschen, sie sollte den Betrachter beeindrucken, ihn begeistern, Ehrfurcht und vielleicht sogar Angst einflößen. Die Erbauer hatten Großes im Sinn. Sie wollten ein Statement abgeben.»

Was genau das war und an wen es sich richtete, bleibt ein Geheimnis, ebenso wie der Zweck der Anlage. Sie wird zwar gewöhnlich als Tempel bezeichnet, doch wahrscheinlich erfüllte sie in den tausend Jahren, in denen sie genutzt wurde, verschiedene Funktionen. Fest steht, dass sich hier viele Menschen versammelten, um jahreszeitliche Rituale abzuhalten, Feste zu feiern und Handel zu treiben.

Die Entdeckung ist deshalb so faszinierend, weil die Ruinen im Herzen einer der dichtesten Ansammlungen prähistorischer Monumente in Großbritannien gefunden wurden. Schon viktorianische Antiquare, später Archäologen, haben diese Gegend in den vergangenen 150 Jahren systematisch durchkämmt.

Zeitraffer-Video: So arbeiten die Archäologen am Ness of Brodgar

Wenn man heute auf dem Ness steht, hat man mehrere steinzeitliche Kulturdenkmäler im Blick, die zusammen ein Weltkulturerbe bilden, The Heart of Neolithic Orkney. Einen Kilometer entfernt auf einem mit Heidekraut bewachsenen Hügel erhebt sich ein gigantischer, an Tolkiens Romane erinnernder Steinkreis, Ring of Brodgar genannt. Ein zweiter zeremonieller Steinkreis, die Stones of Stenness, ist jenseits des Fahrdamms zu sehen, der zum Ness führt. Und anderthalb Kilometer entfernt thront ein unheimlich wirkender Grabhügel, genannt Maes Howe, ein gewaltiger, über 4500 Jahre alter Kammerbau. Sein Eingang ist präzise so ausgerichtet, dass die Strahlen der untergehenden Sonne am Vorabend der Wintersonnenwende eindringen können und so die innerste Kammer am kürzesten Tag des Jahres erleuchten.

Maes Howe ist außerdem auf die Mittelachse und den Eingang des vor kurzem entdeckten Tempels am Ness ausgerichtet. Archäologen halten das nicht für einen Zufall. Sie vermuten, dass die jüngst freigelegten Ruinen ein wichtiges Stück eines größeren Puzzles sein könnten, von dessen Existenz niemand auch nur geträumt hat. Bis vor 30 Jahren sah man den Ring of Brodgar, die Stones of Stenness und das Hügelgrab Maes Howe als isolierte Monumente mit unterschiedlichen Entstehungsgeschichten. «Das Ness erzählt uns jetzt, dass hier eine wesentlich stärker zusammenhängende Struktur existierte», sagt Card. «Die Monumente sind untrennbar durch ein großes Hauptmotiv miteinander verbunden. Und die Menschen, die das alles gebaut haben, gehörten zu einer weitaus komplexeren und fähigeren Gesellschaft, als es bisher gewöhnlich dargestellt wurde.»

Die Orkneys sind schon seit langem ein dankbares Objekt für Archäologen wegen ihrer langen Besiedlungsgeschichte und der Tatsache, dass fast alles hier aus Stein gebaut ist. Tausende Fundorte – die Mehrzahl unberührt – finden sich über die Inseln verstreut: mesolithische Lagerplätze und eisenzeitliche Siedlungen bis hin zu Überresten altnordischer Versammlungshallen und Ruinen mittelalterlicher Paläste.

«Ich habe gehört, dass man diesen Ort als Ägypten des Nordens bezeichnet», sagt die Archäologin Julie Gibson. «Man braucht hier bloß einen Stein umzudrehen, und schon stößt man mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine neue Stätte.» Manchmal muss man nicht einmal das tun. Im Jahr 1850 fegte ein Sturm in der Bucht von Skaill, an der Westküste der Hauptinsel Mainland, einige Sanddünen weg und legte ein erstaunlich gut erhaltenes steinzeitliches Dorf frei. Archäologen datieren Skara Brae auf etwa 3100 v. Chr., und sie sind überzeugt, dass das Dorf mehr als 600 Jahre lang bewohnt war.

Skara Brae muss zu seiner zeit ein gemütliches Plätzchen gewesen sein. Rundliche Steinbehausungen, verbunden durch überdachte Wege, drängten sich zum Schutz gegen die harten Winter eng aneinander. Im Inneren gab es Feuerstellen, die Wohnräume waren mit steinernen Bettstellen und sogar Schränken ausgestattet. Das Bühnenbildhafte der Ansiedlung und der Einblick, den das Dorf in den Alltag der Jungsteinzeit, des Neolithikums, gewährt, machte Skara Brae zum spektakulärsten Fund der Orkney-Inseln – bis jetzt.

Der erste Hinweis auf weitere erstaunliche Dinge, die im Boden am Ness ruhen, tauchte im Jahr 2002 auf, als eine geophysikalische Studie große, von Menschenhand gemachte Besonderheiten unter der Erdoberfläche aufspürte. Man begann mit Erkundungsgrabungen, aber erst im Jahr 2008 begriffen die Archäologen allmählich, wie groß die Stätte war, auf die sie zufällig gestoßen waren. Bislang sind erst zehn Prozent freigelegt, zahlreiche weitere Steinbauten liegen noch in der Umgebung unter dem Rasen verborgen. Doch allein dieser Grabungsabschnitt hat Tausende kostbare Artefakte hervorgebracht: zeremonielle Keulenköpfe, polierte Steinäxte, Feuersteinmesser, die Tonfigurine eines Jungen, des sogenannten Brodgar Boy, in Daumendrucktechnik hergestellte Miniaturgefäße, wunderschön gearbeitete Steinspatel und bemalte Keramiken, die raffinierter und zarter sind, als man das für Gegenstände aus dieser Zeit erwartet hätte. Außerdem mehr als 650 Stücke neolithischer Kunst – die bei weitem größte Sammlung, die je in Großbritannien gefunden wurde.

Vor meinem Besuch am Ness hatte ich mir steinzeitliche Grabungsstätten eher mit mäßiger Neugier angeschaut. Das Leben in längst vergangenen Zeiten schien mir fremd. Doch Kunst kann einen tiefen Einblick gewähren in das Denken und die Vorstellungen der Menschen, die sie erschaffen haben. Am Ness schaute ich plötzlich in eine Welt, die ich verstehen konnte, auch wenn die Lebensumstände völlig andere waren als meine.

«Nirgendwo sonst in Großbritannien und Irland finden sich so gut erhaltene Steinhäuser aus dem Neolithikum», sagt Antonia Thomas, Archäologin an der University of the Highlands and Islands. «Dass wir in der Lage sind, diese Gebäude mit Kunst zu verbinden, dass wir so unmittelbar und bis ins Detail erkennen können, wie die Menschen ihre Umgebung verschönert haben, das ist eine tolle Sache.» Zu den besonders erstaunlichen Entdeckungen gehören Spuren farbiger Pigmente auf Teilen des Mauerwerks. «Ich habe immer vermutet, dass Farbe im Leben dieser Menschen eine wichtige Rolle gespielt hat», sagt Cards. «Ich habe geahnt, dass sie ihre Mauern bemalt haben, aber jetzt wissen wir es genau.» Tatsächlich diente eines der Gebäude offenbar als eine Art Farbenladen. Auf dem Boden liegen noch immer Pigmenthäufchen: pulverisierter Hämatit (rot), Ocker (gelb) und Galenit (weiß); außerdem raue Steine und Mahlsteine, die als Stößel und Mörser dienten.

In den Ruinen fanden sich auch kostbare Handelswaren wie vulkanisches Glas von so weit entfernten Orten wie der Insel Arran im Westen Schottlands. Diese Artefakte legen nahe, dass die Orkneys an einer etablierten Handelsroute lagen und die Tempelanlage am Ness eine Pilgerstätte gewesen sein könnte.

Faszinierender noch als Gegenstände, die die Händler mitbrachten, war, was sie wieder mitnahmen: Ideen und Inspiration. Markant bemalte Tonscherben, die am Ness und anderswo gefunden wurden, lassen vermuten, dass die mit Mustern dekorierten Töpfereien, die im neolithischen Britannien verbreitet waren, ihren Ursprung auf den Orkneys hatten. Es könnte gut sein, dass reiche und kultivierte Bewohner des Archipels die Trends der damaligen Zeit bestimmten. «Das steht völlig im Widerspruch zur gängigen Auffassung, alles Kulturelle müsse aus dem vornehmen Süden gekommen sein, um den barbarischen Norden zu zivilisieren», sagt Roy Towers, Archäologe und Keramikexperte. «Hier scheint das Gegenteil der Fall gewesen zu sein.»

Händler und Pilger nahmen auch Erinnerungen an die phantastische Tempelanlage mit nach Hause, Vorstellungen davon, wie man auf den Orkneys besonderen Orten in der Landschaft huldigte – Ideen, die Jahrhunderte später ihren vollendeten Ausdruck in Stonehenge fanden.

Aber warum ausgerechnet die Orkneys? Wie konnten diese verstreuten Inseln vor der Nordspitze Schottlands zu einem solchen technologischen, kulturellen und spirituellen Energiezentrum wachsen? «Man sollte die Orkneys nicht länger als abgelegen betrachten», sagt Caroline Wickham-Jones, Dozentin im Fachbereich Archäologie an der Universität von Aberdeen. «Die Inseln waren jahrtausendelang ein bedeutender maritimer Knotenpunkt, ein Ort, der auf dem Weg nach überall lag.»

Zeitraffer-Video: So arbeiten die Archäologen am Ness of Brodgar

Die Orkneys waren gesegnet mit fruchtbarem Ackerland und einem durch den Golfstrom bedingten, milden Klima. Zudem gab es viele Arbeiter, die für das Bauvorhaben eingespannt werden konnten. Die Bevölkerungszahl der Orkney-Inseln im Neolithikum wird auf bis zu 10000 geschätzt – das entspricht etwa der Hälfte der Menschen, die heute dort leben. Dies ist auch eine Erklärung für die Dichte der archäologischen Stätten auf dem Archipel.

In weiten Teilen Britanniens wurden die Häuser aus Holz, Stroh, Reet oder anderen Materialien gebaut, so dass sie im Laufe der Zeit verrotteten. Die Bewohner der Orkneys hingegen verfügten über große Vorkommen des leicht zu bearbeitenden Sandsteins zum Bau von Häusern und Tempeln, die so Jahrhunderte überdauern konnten.

Mehr noch: Die neolithischen Siedler und Pioniere, die sich auf den Orkneys niederließen, wussten, was sie taten. «Die Bauern dort gehörten zu den ersten in Europa, die bewusst ihre Felder düngten, um die Ernteerträge zu steigern», sagt Jane Downes, Direktorin des archäologischen Instituts der University of the Highlands and Islands. «Jahrtausende später profitierten mittelalterliche Bauern noch immer von der Arbeit, die jene steinzeitlichen Bauern einst in den Boden investiert hatten.»

Die Insulaner importierten auch Rinder, Schafe, Ziegen und möglicherweise Rotwild, das sie vom schottischen Festland mit aus Tierhäuten gefertigten Booten kilometerweit über das offene Meer herüberbrachten. Die Herden wurden fett auf den üppigen Weiden der Inseln. Rindfleisch von den Orkneys erzielt bis heute Spitzenpreise auf dem Markt.

Kurz gesagt: Als die Bauern der Orkneys sich ihrem ehrgeizigen Bauprojekt am Ness of Brodgar zuwandten, waren sie reich und hatten eine starke spirituelle Bindung zu ihrem Land.

Tausend Jahre lang, länger als Westminster Abbey und die Kathedrale von Canterbury stehen, zog die Tempelanlage am Ness die Landschaft und Generationen von Bewohnern der Orkneys in ihren Bann – ein Symbol für Reichtum, Macht und kulturelle Energie. Doch irgend­ wann um das Jahr 2300 v. Chr. ging alles zu Ende – aus Gründen, die im Dunkeln bleiben.

Ein Klimawandel könnte eine Rolle gespielt haben. Indizien sprechen dafür, dass es in Nordeuropa gegen Ende des Neolithikums kälter und feuchter wurde. Dies könnte die Landwirtschaft erschwert haben. Vielleicht beschleunigte auch die neuartige Technologie der Bronzezeit den Niedergang: Die Metalllegierung ermöglichte die Herstellung besserer Werkzeuge und Waffen, und sie brachte neue Ideen, Werte und womöglich einen Umbau der sozialen Ordnung mit sich. «Bis jetzt haben wir am Ness of Brodgar noch keine Artefakte aus Bronze gefunden», sagt Grabungsleiter Card. «Aber eine Gesellschaft, die so mächtig war und so gute Verbindungen hatte wie diese, wusste mit Sicherheit, dass große Veränderungen auf sie zukamen. Es ist durchaus möglich, dass die Bewohner der Inseln zu den Verweigerern des Neuen gehörten.»

Was immer der Grund war, der uralte Tempel wurde ausgemustert und zum Teil zerstört – absichtlich und symbolisch. Bevor die Menschen weiterzogen, hinterließen sie den Archäologen eine letzte Überraschung: die Überreste eines gigantischen Abschiedsfestes. Mehr als 400 Rinder wurden geschlachtet – genug Fleisch, um Tausende von Menschen zu bewirten.

«Es sieht so aus, als stammten die Knochen von einem einzigen Ereignis», sagt die Archäozoologin Ingrid Mainland von der University of the Highlands and Islands, die sich mit prähistorischen Nutztieren beschäftigt. Seltsamerweise hinterließen die Menschen, die an jenem letzten Festmahl teilnahmen, nur die Schienbeine der Tiere, die sie geschlachtet hatten. «Was das Schienbein für sie bedeutet hat, wie das in die Geschichte passt, ist ein Rätsel.»

Die Menschen brachen die Knochen auf, um das nahrhafte Knochenmark herauszuholen, und arrangierten sie nach einem komplizierten System um den Tempel herum. Auf den Knochenhaufen drapierten sie anschließend Rotwildkadaver, vermutlich als Opfergaben. In die Mitte legten sie einen Rinderschädel und einen großen Stein, in den eine Art Kelch­Motiv geritzt war. Dann folgte der finale Akt des Abschiednehmens.

«Mit voller Absicht zerstörten sie die Gebäude und begruben sie unter Tausenden Tonnen Geröll und Abfall», sagt Card. «Es scheint, als ob sie versucht haben, die Stätte und ihre Bedeutung aus dem Gedächtnis zu löschen, möglicherweise um die Einführung neuer Glaubenssysteme zu markieren.»

Im Laufe der Jahrhunderte nach der Aufgabe der Tempelanlage am Ness forderten Zeit und Elemente ihren Tribut. Was immer an Steinen der alten vergessenen Mauern noch sichtbar war, wurde von den neuen Siedlern zum Bau ihrer eigenen Häuser und Höfe verwendet. Jetzt waren sie an der Reihe, ihren Teil der Geschichte auf der windgepeitschten Bühne der Orkneys zu spielen.

(NG, Heft 8 / 2014, Seite(n) 38 bis 61)

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