Sokotra, die Insel des Drachenbaumes

Sokotra im Indischen Ozean ist so isoliert, dass es dort speziell angepasste Pflanzen und Tiere gibt. Immer mehr ausländische Reisende besuchen die raue Insel wegen ihres außergewöhnlichen Artenreichtums - auf Kosten der einzigartigen Lebenswelt.

Von Mel White
bilder von Mark W. Moffett und Michael Melford
Foto von Mark W. Moffett und Michael Melford

Im Drachenbaumwald ist es beinahe Mitternacht. Ein voller Mond taucht die zerklüftete Landschaft des Firmihin-Plateaus in kalt-silbernes Licht. Im Gehöft eines Schäfers erleuchtet Flammenschein die Gesichter mehrerer Gestalten. Sie sitzen barfuß um ein Feuer und teilen sich eine Schale heißen Tee mit frischer Ziegenmilch.

Neehah Maalha trägt ein sarongähnliches Wickelgewand, das fouta genannt wird; seine Frau Metagal ein langes purpurrotes Kleid und ein farblich dazu passendes Kopftuch. Sie un­terhalten sich über ihren Alltag auf der Insel in einer alten Sprache, die sich seit Jahrhunderten nicht verändert hat, deren Wurzeln aber nie­mand kennt. Heute wird sie von weniger als 50.000 Menschen gesprochen.

Das Paar kann zwar nicht lesen, aber die bei­den wissen, was auf dem neuen Schild am Fuße des Hügels steht: Firmihin wurde zum Natur­schutzgebiet erklärt. Seitdem besuchen ausländische Reisende ihr Dorf, um die Drachen­bäume und die Wüstenrosen und die in Sokotra mishhahir genannten Aasblumen zu fotografieren. Auch Wissenschaftler durchstöbern die Insel und schauen unter jeden Stein, angeblich auf der Suche nach Insekten und Eidechsen. Aber wonach suchen sie wirklich?

350 Kilometer des Arabischen Meers liegen zwischen Sokotra und dem Jemen. Die Insel war einst ein sagenumwobener Ort am äußersten Rand der damals bekannten Welt. Seefahrer fürchteten die gefährlichen Untiefen, die tosen­den Stürme und die Inselbewohner, die im Ruf standen, die Winde zu kontrollieren und Schiffe gegen die Klippen zu lotsen. Heute lockt Soko­tras großer Artenreichtum Entdecker auf die Insel. Sie hoffen, die Geheimnisse der Insel zu entschlüsseln, bevor sie ganz der modernen Welt zum Opfer fällt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckten Forscher, dass diese kleine tropische Insel eine unglaublich große Artenvielfalt beherbergt. Bio­logen beeindruckte vor allem die Vermischung afrikanischer, asiatischer und europäischer Merkmale. Mit der Zahl endemischer (also nir­gendwo sonst existierender) Pflanzenarten pro Quadratkilometer stehen Sokotra und die drei kleineren Nachbarinseln unter allen Inselgrup­pen weltweit an vierter Stelle: nach den Seychel­len, Neukaledonien und Hawaii.

An einem drückend heissen Nachmittag war ich mit der Botanikerin und Sokotra-Ex­pertin Lisa Banfield in der Nähe der staubigen Stadt Hadibu unterwegs. Wir kletterten einen Felshang hinauf und machten schließlich neben einem Gewächs halt, das sehr gut in ein Gemälde von Salvador Dalí gepasst hätte: Ein ge­drungenes Etwas, das so aussah, als wäre ein eigentlich viel größerer Baum einfach in der flirrenden Hitze geschmolzen. Seinen purpur­roten Blüten verdankt es wohl seinen Namen: Wüstenrose. Auch wenn es sonst kaum etwas mit einer Rose gemein hat.

«Der Baum ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Pflanzen auf Sokotra an die extrem tro­ckenen Bedingungen angepasst haben», erklärte Banfield. «Er kommt auch auf dem arabischen und afrikanischen Festland vor, aber dort ist er lange nicht so groß wie hier. Sein Stamm spei­chert Feuchtigkeit, und er wächst in solch selt­samen Formen, um sich zwischen den Felsen festzukrallen. Manche Menschen finden dieses Gewächs skurril, aber für mich ist das ein sehr schöner Baum.» Ein Besucher des 19. Jahrhun­derts nannte die Wüstenrose dagegen den «häss­lichsten Baum der Schöpfung».

Wir wanderten ein paar Meter weiter zu einer Pflanze, die überall sonst auf der Welt jeden Selt­samkeitswettbewerb gewinnen würde. Ihr ver­dickter Stamm überragte unsere Köpfe, und oben wucherte ein wirres Büschel belaubter Zweige heraus, die an Rastalocken erinnerten. «Sie wächst sehr ähnlich wie die Wüstenrose», erklärte Ban­field, «aber dies ist Dendrosicyos socotrana – was so viel wie Gurkenbaum bedeutet.»
Gurkenbaum?
«Ja, es ist der einzige Baum unter den Kürbis­gewächsen. Von diesen Pflanzen erwarten wir eigentlich, dass sie filigrane Ranken ausbilden, aber hier gibt es wirklich große Exemplare mit gewaltigen Stämmen.» Allerdings ist es ein an­derer endemischer Baum, der mit seiner unver­wechselbar markanten Form Sokotra am besten symbolisiert und daher auf Jemens 20-Rial-Münze abgebildet ist: der Drachenbaum.

Für viele hier heimische Pflanzen ist der Ne­bel die einzige Feuchtigkeitsquelle. Einige der seltensten endemischen Pflanzen auf Sokotra wachsen an steilen Berghängen oder an den Küsten der Insel. Sie saugen dort die Nässe auf, die sich bei Nebelwetter auf dem Gestein nie­derschlägt. Auch die zum Himmel ragenden Äste des Drachenbaums sind eine evolutionäre Anpassung, um die kostbare Feuchtigkeit aus der Luft aufzufangen – doch davon gibt es in­zwischen immer weniger. Falls der Klimawandel tatsächlich der Grund dafür ist, dass kaum noch junge Pflanzen nachwachsen, dann gibt es keine schnelle Lösung für dieses Problem.

Die Bedrohungen, die vom Menschen ausgehen, machen Banfield und anderen Natur­schützern aber fast noch mehr Sorgen. Bis 1999 gab es auf Sokotra keinen richtigen Flughafen und auch keine asphaltierten Straßen. Doch seither geht die Entwicklung rasant voran. Ver­änderungen, die anderswo Jahrzehnte dauerten, spielten sich hier in wenigen Jahren ab. Immer mehr Fahrzeuge sind auf dem stetig wachsenden Straßennetz unterwegs.

Obwohl die politischen Unruhen viele aus­ländische Besucher abschrecken, haben Sokotras wunderbare Strände, seine zerklüfteten Berge , seine einzigartige Artenvielfalt und die traditionelle Lebensweise seiner Bewohner nach und nach immer mehr Reisende angelockt: Im Jahr 2000 waren es 140 ausländische Besucher, 2010 schon fast 4000.

Der belgische Biologe Kay Van Damme kam das erste Mal 1999 als Teilnehmer einer wissen­schaftlichen Expedition nach Sokotra. Der For­scher, ein Experte für Süßwasserkrebse, erinnert sich, dass er mit seinen Kollegen schon neue Arten fand, als sie einfach nur Pfade entlangspazierten oder durch Bäche wateten. Manch­mal entdeckten sie an einem Tag mehrere zuvor noch nicht bekannte Arten.

Jedes Jahr kehrte er nach Sokotra zurück, aber seine anfängliche wissenschaftliche Euphorie wich der Sorge um die Insel und ihrer Kultur. «Wir wurden von den Leuten in ihre Häuser eingeladen, und ich erlebte, welch enge Bindung sie zu ihrer Umwelt haben», sagt er. «Ich begriff, dass all diese Arten nur deshalb so lange über­leben konnten, weil die Menschen ihre Insel durch ihre Lebensweise beschützt haben.»

In Sokotra werden Streitfragen seit je friedlich geregelt, indem sich die Bewohner benachbarter Dörfer immer wieder zu Aussprachen zusam­mensetzen. Wer auf dieser rauen Insel überleben wollte, musste ganz einfach die kostbaren Res­sourcen zu schützen wissen. Das hatte den an­genehmen Nebeneffekt, dass dadurch auch der außerordentliche Artenreichtum dieser Inselwelt bewahrt wurde.

An einem Tag kletterten Lisa Banfield und ich die Klippen in der Nähe des Orts Qulansiyah hinauf. Dort zeigte sie mir seltene Myrrhe-und Aloepflanzen sowie eine knollenförmige Feigenart, Dorstenia gigas. Sie war mit nichts zu vergleichen, was ich zuvor gesehen hatte. Die Klippen von Maalah und die angrenzende Hochebene beherbergen nach den Hajhir-Ber­gen Sokotras größten Artenreichtum. Doch genau unter uns, aber außerhalb unserer Sicht­weite, verlief die bereits geteerte Strecke einer nicht fertiggestellten Straße, die diese biologische Schatzkammer durchschnitten hätte. Das Straßenprojekt war trotz Protesten von Umweltschützern in Angriff genommen wor­den. Am Ende blieben die Klippen nur deshalb unversehrt, weil den Bauarbeitern das techni­sche Wissen fehlte, sie zu überwinden. Als 2003 eine Straße durch das Gebiet Iryosh gebaut wurde, sind mindestens zehn Prozent der dort gefundenen einzigartigen Felszeichnungen zer­stört worden. Sie hätten möglicherweise Hin­weise auf die früheste Besiedlung der Inselgruppe liefern können.

Nur in den Hajhir-Bergen scheint die altbewährte Lebensweise so unveränderlich zu sein wie ihre Granitgipfel. In den Dörfern stehen die muqaddams immer noch im Morgengrauen auf und singen ihren Ziegen etwas vor. Die ländliche Bevölkerung vertraut auf traditionelle Heiler, die die Menschen von Krankheiten befreien, indem sie ihnen Verbrennungen zufügen. Und wenn hier die Sonne den nächtlichen Nebel ver­treibt, dann schwirren Sokotras Stare durch die Drachenbäume, kleine Tauben trällern ihr keh­liges Ruckediguh, und geheimnisvolle Blumen blühen auf Berghängen, auf die nie jemand sei­nen Fuß gesetzt hat.

«Sokotra ist noch vergleichsweise ursprüng­lich», sagte Van Damme. «Aber es werden im­mer mehr Straßen gebaut und Hotels errichtet. Die moderne Zivilisation ist nun auch hier an­gekommen. Diese Entwicklungen bedrohen Sokotras Artenvielfalt wie nichts zuvor in der Geschichte der Insel. Ihre Bewohner haben die Natur bislang geschützt, weil sie immer noch sehr traditionell und im Einklang mit ihrer Um­welt leben. Jetzt liegt es an uns allen, sie auch für die Zukunft zu erhalten. Sokotra ist einer der letzten Flecken der Erde, an dem wir noch die wunderbare Lebenswelt einer einzigartigen Insel bewahren können, bevor es zu spät ist.»

(NG, Heft 06 / 2012, Seite(n) 132 bis 147)

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