Ulan-Bator: Die Erben von Dschingis Khan

In der Mongolei ziehen immer mehr Menschen in die Hauptstadt Ulan-Bator. Doch im Herzen bleiben sie Nomaden.

Von Don Belt
Foto von Mark Leong

Alles, was von seinem Leben übrig geblieben war, packte Ochkhuu Genen auf einen geliehenen chinesischen Kleinlaster. Dabei zeigte der schlanke Viehhirte keine Gemütsregung. Er konzentrierte sich nur auf seine Arbeit: sein ganzes Hab und Gut nach Ulan-Bator zu verfrachten.

Schon wenige Stunden nach der Ankunft in der immer weiter ins Umland wuchernden Hauptstadt der Mongolei war sein Ger – die traditionelle runde Jurte der Nomaden – wieder aufgebaut. Ochkhuu hat in Ulan-Bator ein kleines, eingezäuntes Stück Land gepachtet. Tausende solcher Grundstücke ziehen sich die Berghänge am Rande der Stadt hinauf, jedes mit einer Jurte in der Mitte. 60 Prozent der 1,2 Millionen Einwohner von Ulan-Bator leben dort – ohne feste Straßen, sanitäre Einrichtungen oder fließendes Wasser. Kriminalität und Alkoholismus sind an der Tagesordnung. Deshalb tun die Leute hier etwas, das einem Viehhirten in der Steppe normalerweise nie in den Sinn kommen würde: Sie verschließen nachts ihre Türen.

Nomaden sind für so ein Leben nicht geschaffen, aber Ochkhuu und Norvoo hatten keine Wahl. Im Winter 2009/2010 erfroren oder verhungerten die meisten ihrer Tiere. Das Land wurde damals von einem weißen Zud heimgesucht – einer Naturkatastrophe, bei der auf eine sommerliche Dürre ein sehr strenger Winter mit starken Schneefällen, Wind und bitterer Kälte folgt. Als es endlich wärmer wurde, lebten nur noch 90 ihrer 350 Tiere. In der gesamten Mongolei gingen in jenem Winter mehr als acht Millionen Rinder, Yaks, Kamele, Pferde, Ziegen und Schafe ein.

«Danach sah ich für uns keine Zukunft mehr in der Steppe», sagt Ochkhuu leise. «Also entschlossen wir uns, das restliche Vieh zu verkaufen und ein neues Leben zu beginnen.» Es war auch eine Entscheidung für die Kinder. Auf dem Land gibt es kein Krankenhaus und keine Schule, in Ulan-Bator hingegen ist die Gesundheitsversorgung für Ulaka kostenlos, und Anuka kann die öffentliche Schule besuchen.

In UB, wie die Mongolen ihre Hauptstadt nennen, leben mittlerweile mehr als eine halbe Million Menschen so wie Ochkhuu und Norvoo. Das harte Leben hat sie aus der Steppe vertrieben. Angelockt wurden sie auch von der Hoffnung auf Jobs, denn ausländische Investoren pumpen Milliarden in die ergiebigen Kohle-, Gold- und Kupferminen des Landes.

Jenseits der Plattenbauten im Stadtzentrum wirkt UB wie außer Kontrolle geraten. Die Häuser sind in einem Flusstal verstreut wie Schotter nach einer Sturzflut. Im Jahr 1639 als ambulante buddhistische Gebetsstätte gegründet, entwickelte sich daraus von 1778 an die heutige Siedlung.

Der einzige direkte Weg von einem Ende der Stadt zum anderen ist die „Straße des Friedens“ am Fuß eines niedrigen Berges. Von morgens bis abends staut sich hier der Verkehr. Wer sich einreiht, wird wie auf einem Förderband weitergeschoben, vorbei an verfallenen Wohnblocks aus der Sowjet-Ära und an Seitenstraßen, in denen Schrott- und Betonhaufen den Weg versperren. Bürogebäude liegen oft so versteckt, dass selbst Taxifahrer die Adresse nicht finden.

Die vielen Zuzügler aus der Steppe kommen sich hier verloren vor. Viele Nomaden sind nicht mit den Verkehrsregeln, den Gefahren beim Überqueren einer Straße oder den Gepflogenheiten einer urbanen Umgebung vertraut. «Diese Leute fühlen sich vollkommen frei», sagt Baabar, ein prominenter Verleger und Historiker. «Sie tun, was sie wollen und wann sie es wollen. Schauen Sie nur, wie sie die Straße überqueren. Nie kämen sie darauf, auf andere Leute oder sich nähernde Autos Rücksicht zu nehmen. Wir sind ein Volk von hartgesottenen Einzelkämpfern, die keine Regeln kennen.»

Eines Sonnabends fahren Ochkhuu, Norvoo und ihre Kinder hinaus aufs Land, um Norvoos Eltern zu besuchen und ihnen zu helfen. Acht Stunden lang bringen Ochkhuu und Norvoos Vater Jaya Heu in die Scheune. So können die Eltern die Tiere über den Winter bringen, selbst wenn es noch einmal einen Zud geben sollte. Im letzten harten Winter verlor Jaya allein mehr als 700 Tiere. Aber er wollte sich auf keinen Fall unterkriegen lassen und vertraute auf seine jahrzehntelange Erfahrung als Hirte.

Bis 1990 wurde die Mongolei kommunistisch regiert – sie galt als „16. Sowjetrepublik“. Jaya vermisst die Zeit. «Klar war manches schlecht. Ich hasste es, wenn Bürokraten mir Anweisungen gaben», sagt er. «Aber der Kommunismus bewahrte uns vor Katastrophen wie im vergangenen Winter. Selbst wenn du alle Tiere verloren hattest, musstest du nicht hungern.»

Als nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems viele Fabriken geschlossen wurden, verließen Tausende die Hauptstadt und versuchten sich wieder als Hirten. «Aber sie hatten das gesamte Wissen der Nomaden verloren: wie man Vieh züchtet und wie man diese harten Winter überlebt», erklärt Baabar. «Leider waren sie aber auch dem Konkurrenzkampf in der Stadt nicht gewachsen.»

Eingeschlossen von den Großmächten Russland und China , die sich jahrhundertelang um das Steppenland stritten, versucht die Mongolei nun, sich in der modernen Zeit zu behaupten. Das führt zu gesellschaftlichen Problemen. In UB nehmen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zu, weil viele Mongolen „die Ausländer“ für ihre Probleme verantwortlich machen. Chinesischen Geschäftsleuten werfen sie vor, sich zu bereichern. Viele Chinesen trauen sich im Dunkeln nicht mehr auf die Straße: aus Angst vor jungen Männern in schwarzer Lederkluft, die sich als moderne Erben von Dschingis Khan betrachten.

Der Eroberer ist als Symbol für Nationalstolz wieder zu Ehren gekommen. Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion waren Darstellungen von Dschingis Khan in der Mongolei verboten. Heute ziert sein Konterfei Wodkaflaschen und Spielkarten. Eine Fahrstunde östlich von UB steht ein kolossales Standbild aus Stahl. Es ragt 40 Meter aus der Steppe auf und zeigt den Herrscher der Mongolen zu Pferd. Er schaut finster nach China hinüber.

Er ist nicht der Einzige, dessen Blick in diese Richtung geht. Schätzungen zufolge liegen in der mongolischen Erde Kohle, Kupfer und Gold im Wert von fast einer Billion Euro, ein großer Teil davon rund um Oyuu Tolgoi („Türkishügel“) nahe der Grenze zu China. Der kanadische Bergbaukonzern Ivanhoe Mines will dort mit dem britisch-australischen Konsortium Rio Tinto von 2013 an die größte bislang unberührte Gold- und Kupferlagerstätte der Welt ausbeuten.

Die mongolische Regierung ist mit 34 Prozent an dem Projekt beteiligt. Sie würde Milliarden Euro einnehmen. Experten der Weltbank und der Vereinten Nationen drängen die Mongolei, die Einnahmen aus dem Verkauf von Bodenschätzen in die Infrastruktur, das Bildungswesen und die Wirtschaftsentwicklung zu investieren. Die Regierung unter Ministerpräsident Sukhbaatar Batbold möchte das Geld aber lieber auszahlen und hat jedem mongolischen Bürger eine Summe von umgerechnet 900 Euro als Anteil aus den Bergbauerlösen versprochen.

Ochkhuu glaubt nicht daran, dass er das Geld jemals erhalten wird, und hat sich als Kleinunternehmer versucht. Mit einem Partner mietete er ein Zimmer in einem nahegelegenen Hotel und bot anderen Jurtenbewohnern an, sich dort zu duschen oder zu baden. Aber nur wenige waren interessiert. Ochkhuu verlor bei dem Geschäft mehr als 150 Euro – einen großen Teil seiner Ersparnisse.

Jetzt denkt er darüber nach, ein gebrauchtes Auto zu kaufen und als Taxi zu nutzen. Dazu müsste er sich Geld leihen, aber er hätte ein gutes Auskommen. Außerdem wäre er sein eigener Chef und könnte seine Tochter zur Schule bringen und wieder abholen. «Wir können in UB zwar keine Tiere halten», sagt er. «Aber hier ist es leichter, unsere Kinder großzuziehen.»

Er geht durch den Zaun, der sein kleines Grundstück umgibt, und zieht das Holzgatter hinter sich zu, bis der Riegel einschnappt. «Mein Gott», sagt er. «Ich vermisse meine Pferde.»

(NG, Heft 5 / 2012, Seite(n) 74 bis 91)

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