Die Hazara

Im Herzen Afghanistans gibt es zwei Felsnischen, die durch ihre Leere auffallen. Hier standen einmal die riesigen Buddhastatuen von Bamian. Im März 2001 beschossen die Taliban sie zuerst tagelang mit Raketen, dann wurden sie gesprengt. Etwa 1500 Jahre la

Von Phil Zabriskie
bilder von Steve McCurry
Foto von Steve McCurry

Im Herzen Afghanistans gibt es zwei Felsnischen, die durch ihre Leere auffallen. Hier standen einmal die riesigen Buddhastatuen von Bamian. Im März 2001 beschossen die Taliban sie zuerst tagelang mit Raketen, dann wurden sie gesprengt. Etwa 1500 Jahre lang hatten die Buddhas über Bamian geblickt. Auf der Seidenstraße, die hier entlangführte, kamen und gingen Händler und Missionare der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen. Abgesandte von Imperien zogen hier vorüber - Mongolen, Safawiden, Moguln; später Briten und Sowjets -, oft hinterließen sie blutige Fußspuren. Ein Land namens Afghanistan nahm 1919 Form an. Regimes entstanden, scheiterten oder wurden gestürzt. Die Statuen überstanden alles. Für die Taliban waren die Buddhas nicht islamische Idole, in Stein gemeißelte Ketzerei. Es machte ihnen nichts aus, dass man sie für unzivilisiert halten oder weiter isolieren würde. Mit der Zerstörung der Statuen behaupteten sie ihre Form des Glaubens gegen den Rest der Welt. Und sie setzen ein Zeichen gegen jenes Volk, das im Schatten der Buddhas lebt: die Hazara, die in dieser abgelegenen Region mit dem Namen Hazarajat im afghanischen Zentralhochland beheimatet sind.

Hazara-Bauern in der Provinz Bamain auf dem Weg zur Arbeit. In der leeren Feelsnische stand jene riesige, 1 500 Jahre alte Buddhastatue, die 2001 von den Taliban gesprengt wurde. Sie war einst vermutlich von Vorfahren der Hazara aus dem Fels gemeißelt worden.
Foto von Steve McCurry

Hazara-Bauern in der Provinz Bamain auf dem Weg zur Arbeit. In der leeren Feelsnische stand jene riesige, 1 500 Jahre alte Buddhastatue, die 2001 von den Taliban gesprengt wurde. Sie war einst vermutlich von Vorfahren der Hazara aus dem Fels gemeißelt worden.

Die Hazara stellen etwa ein Fünftel der afghanischen Bevölkerung. Als Schiiten in einem überwiegend sunnitischen Land sind sie seit je als Außenseiter abgestempelt. Sie gelten als fleißig, verrichten aber die niederen Arbeiten. Wegen ihrer asiatischen Gesichtszüge - schmale Augen, flache Nase, breite Wangenknochen - gelten sie als minderwertig. Man erinnert sie oft an ihre Unterlegenheit, viele von ihnen haben dies regelrecht verinnerlicht.

Für die herrschenden Taliban - zumeist ethnische Paschtunen und fundamentalistische Sunniten - waren die Hazara Ungläubige, Tiere, eben anders. Sie sahen nicht wie anständige Afghanen aus und verehrten Gott nicht wie anständige Muslime. In einer Redensart der Taliban heißt es: "Tadschiken nach Tadschikistan, Usbeken nach Usbekistan, Hazara nach goristan" - auf den Friedhof. Nach der Zerstörung der Buddhas besetzten die Taliban das Land der Hazara, brannten ihre Dörfer nieder, um die Region unbewohnbar zu machen. Als der Herbst kam, fragten sich die Menschen, wie sie den Winter überleben würden. Dann kam der 11. September. Was für die Welt eine Tragödie war, bedeutete für das Volk der Hazara zunächst die Rettung.

BELIEBT

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    Mit geübtem Handgriff ziehen Männer Zuckermasse zu langen Strängen, aus denen Bonbons geformt werden. 450 Kilo verarbeiten sie täglich in dieser Fabrik in Kabul.
    Foto von Steve McCurry

    Mit geübtem Handgriff ziehen Männer Zuckermasse zu langen Strängen, aus denen Bonbons geformt werden. 450 Kilo verarbeiten sie täglich in dieser Fabrik in Kabul.

    Sieben Jahre nach dem Sturz der Taliban sind in der Heimat der Hazara zwar Narben geblieben, aber es herrscht eine Aufbruchstimmung, die vor einem Jahrzehnt noch undenkbar gewesen wäre. Heute zählt die Region zu den sichersten Afghanistans. Mohnfelder, wie sie in anderen Gebieten vorherrschen, gibt es hier kaum. In Kabul, dem Sitz der Zentralregierung von Präsident Hamid Karsai, hat eine neue politische Ordnung Einzug gehalten. Neuerdings haben Hazara Zugang zu Universitäten, Stellen im öffentlichen Dienst und anderen Aufstiegsmöglichkeiten, die ihnen lange verwehrt waren. Einer der Vizepräsidenten des Landes ist Hazara. Die erste und einzige Gouverneurin des Landes ebenfalls.

    In dem Bestseller "Drachenläufer" von Khaled Hosseini kommt eine fiktive Hazara-Figur vor. Und ein Hazara gewann die erste Staffel von "Afghan Star", einer Sendung der Art "Deutschland sucht den Superstar".

    Nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg arbeitet das Land mühsam an seinem Wiederaufbau. Viele glauben, dass die Region Hazarajat Vorbild für die Zukunft aller Afghanen sein könnte. Doch dieser Optimismus wird durch die Rückschläge der Gegenwart nur zu oft gedämpft: Straßen werden nicht gebaut, die Taliban erstarken wieder, und unter den Sunniten nimmt der Extremismus zu. Derzeit sammelt und sortiert ein internationales Projektteam Tausende von Fragmenten, um die Buddhas zu rekonstruieren. Auch die Hazara sind dabei, sich aus den Bruchstücken ihrer von Vertreibung und Verfolgung geprägten Vergangenheit eine Zukunft zu bauen.

    Seine Familie ist arm, doch das schreckt den 15-jährigen Ali Aqa nicht: Er will Anwalt werden. Zu seinen Kindheitserinnerungen gehört die Besetzung seines Dorfs in Bamian durch die Taliban.

    Phil Zabriskie hat für das Magazin Time ausführlich über Afghanistan berichtet. Steve McCurry fotografiert seit gut 20 Jahren für NATIONAL GEOGRAPHIC. Seine bekannteste Aufnahme ist das 1985 erschienene Titelfoto eines afghanischen Mädchens.

    Für die Hazara bedeuteten die Auswirkungen des 11. September zunächst die Rettung. Nach dem Sturz der Taliban und jahrzehntelangem Bürgerkrieg arbeitet das Land an seinem Wiederaufbau. Welche zukünftige Rolle sehen Sie für die Hazara in Afganistan? Schreiben Sie Ihre Meinung an leserbriefe@nationalgeographic.de und vergessen Sie bitte nicht, Ihre Anschrift anzugeben.

    (NG, Heft 2 / 2009)

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