Sven Hedin

Ein Schwede mit Sympathien für den Nationalsozialismus durchquert die Gebirge, Wüsten und Steppen im westlichen China und in Tibet. Der letzte große Landreisende der Geschichte hinterlässt ein gigantisches Kartenwerk.

Von National Geographic

Ein Schwede mit Sympathien für den Nationalsozialismus durchquert die Gebirge, Wüsten und Steppen im westlichen China und in Tibet. Der letzte große Landreisende der Geschichte Sven Hedin hinterlässt ein gigantisches Kartenwerk.

Als Schuljunge zeichnet Sven Hedin die ersten Karten. Zu Hause zieht er die Linien der Länder nach, die im Erdkundeunterricht behandelt werden. «Schon im Alter von zwölf Jahren», schreibt er später, «sah ich mein Ziel ziemlich deutlich vor mir.»

Mit 13 verschlingt Sven Hedin die Bücher der großen Afrikaforscher Henry M. Stanley und David Livingstone . Mit 15 erlebt er in Stockholm den triumphalen Empfang für Adolf Erik Nordenskjöld , der als Erster die Nordostpassage geschafft hat. Polarforscher – das ist von nun an sein Traum. Mit 16 beginnt Hedin, von «einem wahren Größenwahn gepackt», einen Weltatlas zu entwerfen – sechs Bände, mehrere hundert Karten, das Werk ist nach zwei Jahren fertig.

Mit 20, kurz vor dem Abitur, verschlägt es Sven Hedin für acht Monate nach Baku ans Kaspische Meer. Sein Gymnasialdirektor hat ihm dort eine Stelle als Hauslehrer für den Sohn eines schwedischen Ingenieurs vermittelt. Hedin nutzt die Zeit, um nach Deutsch gleich drei weitere Sprachen zu lernen: Tatarisch, Persisch und Russisch. Sein Gehalt von 300 Rubel gibt er dafür aus, zu Pferd durch Persien zu reiten. Sein Buch darüber hat 461 Seiten, 128 Fotos, zwei Karten. Schon bei der ersten Begegnung macht die «asiatische Freiheit» ihn süchtig. Von nun an wird er ihr für den Rest seines Lebens verfallen.
Sven Hedin studiert noch ein wenig in Stockholm, Uppsala und Berlin. Doch im Grunde sind ihm die Hörsäle der Universitäten viel zu eng. Sein Sprungbrett ins Abenteuerleben wird die schwedische Botschaft in Teheran, wohin er 1890 als Dolmetscher geht. Kaum ein Jahr später ist er weg, auf dem Marsch nach Samarkand und Kaschgar im chinesischen Turkestan. Dort knüpft er diplomatische Kontakte, sucht Mäzene zur Finanzierung seiner Pläne. «Von nun an wollte ich nur noch Pfade gehen, die vor mir noch kein Europäer betreten hatte.»

Beim Aufbruch seiner ersten Expedition in die Wüste Taklamakan 1895 schreien die Bewohner des Dorfs Merket: «Die kommen nie wieder!» Sie sind an der Wahrheit sehr nahe dran. Nach ein paar Wochen trinken seine Begleiter vor Durst Kamelurin, Schafs- und Hühnerblut, Sven Hedin selber rettet sich gerade noch an einen Wassertümpel. Von seinen acht Kamelen gehen sieben zugrunde. Nur das Tier, das seine Aufzeichnungen trägt, überlebt.

Kaum hat Hedin sich von der mörderischen Tour erholt, stellt er eine neue Karawane für die Wüste zusammen: vier Mann, drei Kamele, zwei Esel. Aus den Dünen der Taklamakan sieht er Holzpfähle und Mauerreste ragen, buddelt Terrakottafiguren von Buddha und buddhistischen Gottheiten aus dem Sand, legt alte Häuser frei, sieht Spuren einer früheren Oase: Reste von Gärten und Pappelalleen. Sven Hedin nähert sich dem wandernden See von Lop Nur, der im Nordteil wächst, wenn er im Süden schrumpft und umgekehrt, «ganz wie das Messinggewicht am Ende eines schwingenden Pendels». Zum Schluss reist er monatelang über endlose Plateaus nach Osten bis nach Peking. Das Ergebnis sind 552 Kartenblätter, eine vermessene Weglänge von 10498 Kilometern, davon 3250 Kilometer bislang völlig unbekanntes Gebiet.

Bei der zweiten Expedition dringt Sven Hedin 1899 im Boot auf dem Tarim bis Lop Nur vor. Entwickelt die Fotos vom Tage in einer auf der Fähre eingerichteten Dunkelkammer. Zeichnet den Flusslauf mit einer Präzision, die viele Karten von europäischen Flüssen nicht haben. Hedin nimmt alles so intensiv wahr, dass er glaubt, bei einem neuen Besuch jeden einzelnen Baum wiedererkennen zu können. Er fährt so lange, wie es das Eis des nahenden Winters erlaubt, und als ihm die Tinte gefriert, notiert er mit dem Bleistift weiter.

Nahe Lop Nur findet Hedin die Ruinenstadt Loulan, einen alten Karawanenstützpunkt. Er wurde vor anderthalb Jahrtausenden von seinen Bewohnern verlassen, als das Wasser des See von Lop Nur zurückging. Hedin gräbt einen buddhistischen Tempel aus, findet Münzen aus der Zeit kurz nach Christi Geburt, die von regem Handel mit dem Römischen Reich zeugen, dazu 36 chinesisch beschriebene Blätter und 120 Holzstücke mit Schriftzeichen.

Sven Hedin will nach Tibet, in den geheimnisumwobenen, vom Ausland fast völlig abgeriegelten Staat lamaistischer Mönche. Als Pilger verkleidet, eskortiert von einem Kosaken und einem Bettelmönch, zieht er über elf Bergketten des Kunlun. Hedin entdeckt ein «Labyrinth von Tümpeln, Seebuchten und Wasserläufen» und ein «tibetisches Totes Meer», wo sein Boot anderthalb Kilometer durch den Salzschlamm gezogen werden muss. Tibetische Truppen enttarnen ihn am Ende aber doch. Sie stoppen seinen Versuch, in ihre Hauptstadt Lhasa vorzudringen, zu der Ausländern jeder Zutritt streng verboten ist. Sie geleiten ihn Richtung Ladakh aus dem Land.

Sein Bericht über diese Reise zählt 3450 Textseiten. Der zugehörige zweiteilige Atlas enthält 87 Karten, die sich auf 1149 Blätter verteilen. Auf ihnen hat er 10000 Kilometer Marschstrecke kartiert, davon neun Zehntel bislang unbekanntes Gebiet. Die von ihm gewählten Maßstäbe (1:30000 und 1:40000) bedeuten: Die Blätter haben, nebeneinander gelegt, eine Gesamtlänge von 300 Metern.

Seine dritte Expedition beginnt 1905. Sie stellt alles, was Sven Hedin vorher geleistet hat, in den Schatten. Er will «wie ein Lasso die letzten großen Geheimnisse des Kontinents in ihrer Schlinge fangen». Weil die Briten ihm das Überschreiten der indischen Grenze verbieten, verschafft er sich von Ladakh aus die nötigen Papiere. In einem weiten Bogen dringt Sven Hedin von Nordwesten her nach Tibet ein. Stößt auf eine gewaltige Gebirgskette, die er Transhimalaja nennt. Zieht über Pässe von nahezu 6000 Metern. Besucht die Klöster am Manasarowar, dem heiligen See der Tibeter, den zu befahren verboten ist. Trifft zwei Mönche, die Tag und Nacht eine riesige Gebetsmühle in Gang halten. Wilde Yaks greifen seine Gruppe an, feindselige Mönche erschweren ihm den Weg, ein Provinzgouverneur fordert ihn zur Ausreise auf. Hedin aber setzt sich nach harten Verhandlungen durch und zieht weiter.

Auf dem Dach der Welt entdeckt Sven Hedin die Quellen des Indus, Brahmaputra und Sutlej. Er gelangt nach Xigazeˆ im Tal des Tsangpo und darf das berühmte Kloster Tashilumpo besuchen. Der zweithöchste Lama lädt ihn dort zu einem religiösen Fest ein. Um den tibetischen Behörden zu entkommen, verkleidet Hedin sich als Hirte. Nach insgesamt acht Überschreitungen des Transhimalaja ist die Menge seiner Aufzeichnungen, verglichen mit der zweiten Expedition, auf das Doppelte angewachsen: 1736 Panoramastreifen von zusammen 875 Meter Länge.

Die vierte Expedition startet 1926. Der deutsche Flugzeugbauer Heinrich Junkers soll sie mit seinen Maschinen ausrüsten. Die Lufthansa plant eine Strecke Berlin–Schanghai. Doch der Generalgouverneur von Sinkiang weigert sich, seine Provinz überfliegen zu lassen. So macht Hedin noch eine große Landreise, führt einen ganzen Stab von chinesischen, schwedischen und deutschen Wissenschaftlern – Geologen und Geographen, Archäologen und Meteorologen, Zoologen und Botanikern, Paläontologen und Paläobotanikern. Das Ergebnis sind 55 Bände, deren letzte erst mehr als 30 Jahre nach seinem Tod erscheinen.
Der „Zentralasien-Atlas“ soll die Krönung seiner Forschungen werden. Sein eigenes Land sieht sich außer Stande, die enormen Mittel für die geplanten 55 Blätter aufzubringen. So wendet Sven Hedin sich an die deutsche Regierung und die Deutsche Forschungsgemeinschaft. 1939, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, fangen in Justus Perthes’ Geographischer Anstalt in Gotha die Arbeiten an. 1945, am Ende des Kriegs, sind gerade mal drei Blätter fertig. Sie kommen erst 1952, in Hedins Todesjahr, heraus. Ein viertes Blatt, erstellt vom Army Map Service der Amerikaner, erscheint 1959 – der Rest des Monumentalwerks wird in der Geschichte versinken.

Sven Hedin hat sein Denkmal selber beschädigt. Der große Forscher, der sieben Sprachen beherrschte und dessen Werke in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, hat sich von der Ideologie des Nationalsozialismus faszinieren lassen – ungeachtet der Tatsache, dass er jüdische Vorfahren hatte. Er schrieb Texte, die den deutschen Imperialismus und die Hitler-Diktatur verherrlichen. Sven Hedin ließ sich mit dem „Führer“ und anderen Nazi-Größen ablichten. 1944 nahm er einen Ehrendoktortitel der Universität München an. So ist er an seinem Lebensabend nicht mehr geachtet, sondern geächtet – das ist die Tragödie des „schwedischen Marco Polo“.

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