Frauen in Afghanistan - Aufschrei der Herzen
Veröffentlicht am 10. März 2022, 07:31 MEZ

Zwei mit Burkas verhüllte Frauen ohne männliche Begleitung auf einem Hügelkamm. Noor Nisa war etwa 18 und hochschwanger, ihre Fruchtblase war gerade geplatzt. Ihr Ehemann hatte seine erste Frau bei einer Geburt verloren, nun war er entschlossen, Noor Nisa in ein vier Stunden entferntes Krankenhaus zu fahren. Das geliehene Auto blieb liegen, daher machte er sich auf die Suche nach einem anderen Fahrzeug. Ich fuhr Noor Nisa in die Klinik, wo sie ein Mädchen zur Welt brachte. Mein Dolmetscher, der Arzt ist, und ich waren unterwegs, um Fotos über Schwangerschaftsversorgung und Kindersterblichkeit zu machen. Unvermittelt waren wir mitten im Thema.
Foto von Lynsey AddarioZur Zeit meiner ersten Reise nach Afghanistan herrschten dort die Taliban. Frauen sah man in der Öffentlichkeit nur als Bettlerinnen – in der Regel waren es Witwen oder Frauen von Kriegsversehrten. An Freitagen vollstreckten die Taliban im Sportstadion von Kabul öffentlich Todesurteile. Zehn Jahre später findet dort eine Wahlversammlung für einen Präsidentschaftskandidaten statt. Auch Frauen nehmen daran teil, einige mit Burka, andere ohne.
Foto von Lynsey Addario«Ich nahm die Flasche mit Benzin und zündete mich an», erzählte mir Fariba, eine Elfjährige aus Herat. «Als ich wieder in die Schule kam, haben sich die Kinder über mich lustig gemacht. Sie sagten, ich sei hässlich.» Warum sie es tat, ist unklar. Fariba behauptet, ihr sei im Traum eine Frau erschienen, die ihr befohlen habe, sich zu verbrennen. Immer wieder setzen sich afghanische Frauen selbst in Flammen, weil sie glauben, dass ihnen nur der Suizid als Fluchtmöglichkeit vor ehelichem Missbrauch, familiärer Gewalt, Armut oder Krieg bleibt. Wenn sie überleben, fürchten sie, verachtet oder bestraft zu werden, manche sagen, es habe beim Kochen eine Gasexplosion gegeben. Fariba sagt heute: «Ich bereue meinen Fehler.»
Foto von Lynsey AddarioIch war durch entlegene Gegenden gereist, in denen die meisten Frauen zu Hause gebären und nicht einmal eine Hebamme haben. Dann kam ich ins Krankenhaus der Provinzhauptstadt Faizabad. Dort arbeiten Ärztinnen, Krankenschwestern und Hebammen rund um die Uhr. Sie wurden in Russland und in Kabul ausgebildet und verfügen über Fähigkeiten und Geräte, um mit Komplikationen umzugehen – auch wenn sie kaum Geld für Gummihandschuhe und Kittel haben. Auf dem Foto bringt die 25-jährige Kokogol Zwillinge zur Welt. Ihre Mutter blieb an ihrer Seite.
Foto von Lynsey AddarioIn Herat gibt es den Schrein von Shahzada Qasim, einem Nachkommen des Propheten Mohammed. Er ist mehr als tausend Jahre alt. An jeweils einem Tag pro Woche wird dort mit einem Tuch ein Bereich abgetrennt, in dem Besucherinnen beten können. Es sind Gebetsräume, die mir als die sichersten und intimsten Orte im ganzen Land erscheinen. Diese Frauen in Herat sind in Tschadors gehüllt, die sie von Kopf bis Fuß bedecken. Vor diesem und anderen Schreinen in ganz Afghanistan weinen manche Frauen oft hemmungslos. Ich frage mich stets, warum sie Tränen vergießen. Ist es wegen des sehr emotionalen Charakters des öffentlichen Gebets und der Heiligkeit der Stätte?
Foto von Lynsey AddarioBibi Aisha war 19, als ich sie im November 2009 in Kabul im Frauenhaus der Organisation „Women for Afghan Women“ traf. Als Zwölfjährige wurde sie mit einem Talib verheiratet, der sie vom ersten Tag an schlug. Als er sie einmal so heftig verprügelte, dass sie um ihr Leben bangte, suchte sie Schutz bei Nachbarn. Ihr Ehemann wollte sie bestrafen, weil sie das Haus ohne Erlaubnis verlassen hatte. Er verschleppte sie an einen einsamen Ort in den Bergen. Mehrere Männer hielten sie fest, dann schnitt er ihr Nase, Ohren und das Haar ab. «Wenn ich die Macht hätte, würde ich sie umbringen», sagte sie mir. Im August flog Aisha in die USA, wo plastische Chirurgen die entstellte Frau operieren wollen.
Foto von Lynsey AddarioDie Schauspielerin Trena Amiri chauffiert eine Freundin durch Kabul und zeigt dabei offen Gesicht, Haar und Arme. Eine Kassette mit ihren Lieblingsliedern läuft, sie singt mit, wiegt sich im Takt und schlägt rhythmisch auf das Lenkrad. Selbst im eher weltoffenen Kabul starren, hupen und schreien Männer sie an. Sie fühlen sich provoziert. Eine solche Demonstration individueller Freiheit ist für sie immer noch befremdlich. Amiri floh nach sieben Jahren Ehe vor ihrem Mann. Er habe sie zu Hause festgehalten und geschlagen, sagt sie. Ihre drei Söhne ließ sie zurück. Sie hat nicht vor, wieder zu heiraten, aber sie weiß, dass ihr möglicherweise
keine Wahl bleibt, wenn sie in Afghanistan überleben will, wo Frauen in so vielen Dingen von Männern abhängig sind. Ihren neuen Lebensgefährten könne sie nicht heiraten, sagt sie. «Er würde mich nicht mehr schauspielern lassen, aber ich möchte das nicht aufgeben.»
Foto von Lynsey AddarioDiese jungen Afghaninnen gehören zu dem Team, das 2012 in London erstmals bei den Olympischen Spielen antreten will. Frauenboxen wird dort als neue Disziplin eingeführt. Die Athletinnen feierten es bereits als Sieg, dass ihnen ihre Familien die Teilnahme an diesem Sport erlaubten. Bei Wettkämpfen bedecken die Boxerinnen des von Oxfam unterstützten Teams ihr Haar und ihren Körper mit einem Hidschab, der unter dem Schutzhelm getragen wird. Das stellt für den Internationalen Boxverband so lange kein Problem dar, wie das Gesicht der Sportlerin erkennbar bleibt. Wenn die Boxerinnen wie auf diesem Bild aus Kabul in geschlossenen Räumen trainieren, müssen sie ihre Köpfe nicht verhüllen.
Foto von Lynsey AddarioAm Stadtrand von Kabul lernen Polizistinnen den Umgang mit AMD-65-Sturmgewehren. Ihre Ausbilder sind italienische Carabinieri. Es ist sehr mutig für eine Afghanin, sich für den Polizeidienst zu melden, denn die Ordnungshüter werden besonders oft von den Taliban angegriffen. Nur wenige bekommen die Erlaubnis ihrer Ehemänner oder männlichen Verwandten. Unter den 100000 Polizisten gibt es nur 700 Frauen. Sie übernehmen Aufgaben, die Männern verwehrt sind: Frauen abzutasten etwa oder die Frauen vorbehaltenen Bereiche von Häusern zu durchsuchen. Viele sind Witwen von Polizisten, die im Dienst ums Leben kamen. Nun müssen sie ihre Familie ernähren. Sie verdienen umgerechnet etwa 120 Euro im Monat.
Foto von Lynsey AddarioMit einem Klageschrei reagiert die 22-jährige Maida-Khal auf die Entlassung einer anderen Insassin aus dem Gefängnis von Masar-e Scharif – denn sie muss in ihrer Zelle bleiben. Als sie zwölf war, wurde sie mit einem gelähmten 70-Jährigen verheiratet. «Ich war noch so klein, dass ich ihn nicht tragen konnte, und seine Brüder schlugen mich», erzählt sie. Als sie vor vier Jahren geschieden werden wollte, wurde sie weggesperrt. «Ich bin im Gefängnis, weil ich keinen mahram (männlichen Begleiter) habe. Ich kann nicht geschieden werden, aber ohne einen Mann kann ich auch nicht das Gefängnis verlassen.»
Foto von Lynsey AddarioEine reisende Hebamme erteilt den Frauen eines Dorfs Gesundheits- und Hygieneunterricht. Auf diesem Bild trägt sie einen weißen Hidschab und eine Brille. Sie arbeitet für eine mobile Krankenstation, die vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen und der internationalen medizinischen Hilfsorganisation Merlin finanziert wird. Damit wird medizinische Hilfe für Schwangere und Mütter in entlegenen Dörfern wie diesem in der nordöstlichen Provinz Badachschan geleistet.
Foto von Lynsey AddarioViele Mädchen in Afghanistan erhalten keine Ausbildung. Selbst wenn sie in die Schule gehen, werden sie meist nur vier Jahre unterrichtet. Daher sind diese Absolventinnen der Fakultät für Sprachen und Literatur an der Universität von Kabul eine winzige Minderheit. Sie tragen Kopftücher unter ihren Doktorhüten und sind von ihren männlichen Kommilitonen getrennt. Die Taliban hatten Unterricht für Frauen verboten, nach dem Sturz des Regimes wurde Ende 2001 wieder damit begonnen. Diese Abschlussfeier fand in einem Kabuler Hotel unter strengen Sicherheitsvorkehrungen statt, da auch dort immer öfter Terroanschläge verübt werden.
Foto von Lynsey AddarioDiese beiden Mädchen sind für die Hochzeit eines Verwandten in Kabul festlich gekleidet und geschminkt. Viele afghanische Frauen und Mädchen legen für eine solche Feier Make-up auf und verbringen Stunden beim Friseur. Kleine Mädchen dürfen sich noch so herausgeputzt zeigen. Aber sobald sie in die Pubertät kommen, verhüllen sie sich mit einem Tuch über Kopf und Schultern oder mit dem Ganzkörperschleier.
Foto von Lynsey Addario