Bretagne: Europas stolzes Ende

Im rauen Westen Frankreichs kommt man nicht zufällig vorbei. Zu Besuch im Département Finistère.

Von Christopher Hall
Veröffentlicht am 13. Juli 2018, 06:00 MESZ
Haus an der Küste in Ménéham, Bretagne
Giganten aus Stein schützen dieses Haus aus dem 17. Jahrhundert an der Küste in Ménéham.
Foto von Colour Box

Siebzig Meter unter mir tobt der Atlantik. Er faucht und schäumt und schlägt gegen die Felsen, als wolle er sie zertrümmern. Ich bin wie berauscht von dem spektakulären Anblick. Der Wind zerrt wild an mir, ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Vorsichtig balanciere ich am Klippenrand entlang, hoch über dem rasenden Meer. Die Pointe du Raz in der Bretagne hat schon so manchem Besucher Respekt eingeflößt, an diesem Kap beginnt der europäische Fernwanderweg nach Venedig, E 5 genannt. Die schlichte Bezeichnung lässt nichts von der fantastischen Natur erahnen, die mich hier, am nordwestlichsten Zipfel Frankreichs in Atem hält.

Ich bin im Département Finistère, dessen Name aus dem Lateinischen Finis Terrae, „Ende der Erde“, abgeleitet ist. Früher hörte für die Menschen die Welt an dieser Stelle auf.

Finistère im Westen der Bretagne ist etwas größer als der Schwarzwald. Obwohl es nur 500 Kilometer von Paris entfernt liegt, ist das Département eine Welt für sich. Mit Wucht rauscht die Brandung an die Steilküsten oder läuft an den Stränden ins Leere, und hinter jeder Kurve der Küstenstraße warten fantastische Begegnungen mit dem Ozean.

Hier, in ihrer historischen Hochburg am äußersten Rand Frankreichs, scheint die keltische Kultur der Bretagne gerade ein Wiedererwachen zu erleben. Ich höre es in den Radioprogrammen, deren Moderatoren bretonisch sprechen, und sehe es in den Menschenmengen, die sich für einen historischen Kostümumzug oder ein Fest Noz versammeln, einen traditionellen bretonischen Musik- und Tanzabend. Besonders spüre ich diese Renaissance, wenn ich mich mit den Menschen unterhalte. Sie verstehen sich zuerst als Bretonen, erst in zweiter Linie als Franzosen.

Traditionelle Tracht für den Tanz

Wie Hervé Lavanant. Ich lerne ihn in seinem Haus außerhalb von Plougonven kennen, am östlichen Rand von Finistère. Der Maschinist im Ruhestand trägt einen großen schwarzen Hut mit flacher Krempe und Pluderhosen, die in wadenhohen Stiefeln stecken, eine traditionelle bretonische Tracht. Gleich werde er mit seiner Folkloregruppe zu einer Vorführung „ins Ausland“ fahren, erklärt er mit bald nach meiner Ankunft. „Nach England?“, will ich wissen. Mein Gastgeber lacht. „Aber nein. Wir bezeichnen alles als Ausland, was außerhalb von Finistère liegt.“

Ich habe eine viertägige Entdeckungsreise durch Finistère hinter mir. Habe mir Kirchhöfe mit steinernen Statuen und Bauerngärten angesehen, in denen riesige rosafarbene und blaue Hortensien blühen. Natürlich war ich beim Cairn de Barnenez, einer der größten jungsteinzeitlichen Grabanlage Europas, älter als die ägyptischen Pyramiden. Auch die Monts d’Arrée im Binnenland habe ich erkundet, ein Höhenzug im Naturpark Armorique, und bin auf den mit Farn- und Heidekraut bewachsenen, 381 Meter hohen Montagne Saint-Michel gestiegen.

Am Morgen nach meiner Ankunft zeigte mir Lavanant ein paar Tanzschritte. „Was ich am bretonischen Tanz liebe“, erklärt er mir, „ist, dass er die Menschen zusammenbringt. Reich und arm, jung und alt, hübsch und nicht so hübsch – alle machen mit.“

Über Jahrhunderte mussten die Menschen hier sich gegen die Versuche der französischen Regierung wehren, ihre Traditionen und besonders ihre Sprache zu unterdrücken. Der beste Schutz der bretonischen Kultur war stets ihre Abgeschiedenheit. Besonders trifft das auf die Île d’Ouessant (Enez Eusa) zu, eine Insel im Norden von Finistère. Sie hat 800 Bewohner, ist etwas kleiner als Spiekeroog und Teil eines Unesco-Biosphärenreservats. Unbefestigte Wege und enge, holprige Straßen ziehen sich durch eine felsige, violett schimmernde Heidelandschaft. Sie verbinden kleine Siedlungen, deren Häuser sich eng zusammenkauern, als wollten sie sich vor den heftigen Stürmen schützen. Manchmal herrscht hier dichter Nebel, der den Fährverkehr für Tage zum Erliegen bringt.

Zu Mittag gibt es frisch gefangenem Petersfisch, danach treffe ich Mickaël Grunweiser, einen rotwangigen, 33 Jahre alten Fischer, dessen Vorfahren um 1880 nach Ouessant kamen.

„Ich war gerade mal vier Tage alt, als ich zum ersten Mal mit einem Boot fuhr “, erzählt er. „Das war auf dem Heimweg vom Krankenhaus auf dem Festland, in dem ich geboren wurde. Bis vor vier Jahren habe ich auf großen Trawlern gearbeitet und bin dafür aufs Festland gezogen. Dazu habe ich keine Lust mehr. Nun kann ich auf Ouessant wohnen und bin mein eigener Herr. Es ist keine leichte Arbeit, aber hier bin ich am glücklichsten.“

Rock und keltische Klänge

Die Bretagne, das ist mehr als Stille und Meeresrauschen wie auf Grunweisers Heimatinsel. Einen Tag später lerne ich auf der Place Saint-Corentin vor der Kathedrale in Finistères Hauptstadt Quimper einen ganz anderen Sound kennen. Zwischen der mächtigen, aus Granit erbauten Kirche und kleinen Fachwerkhäusern erreicht das Fest Noz gerade seinen Höhepunkt. Auf der Bühne spielt die Band „Digresk“, sie begeistert ihre Zuschauer mit einer Mischung aus Rock und keltischen Klängen, gespielt mit dem Dudelsack und der Bombarde, einem mit der Oboe verwandten Instrument, das hier an talabard genannt wird. An die tausend Besucher tanzen atemlos und mit geröteten Wangen. Hände werden gefasst, und es entstehen enge Kreise, kurz darauf wieder lange Reihen. Mir kommt das Konzert wie ein Stammestreffen vor. Es markiert das Ende des Festival de Cornouaille Quimper. Jedes Jahr im Juli wird in der Altstadt eine Woche lang die bretonische Kultur gefeiert.

Und diese entwickelt sich auf überraschende Weise weiter. An einem sonnigen Tag sehe ich am breiten Strand von Tronoën außerhalb der Stadt viele Surfer. Spontan melde ich mich zu einer Surfstunde an, der ersten meines Lebens. Am nächsten Morgen stehe ich, umgeben von zappeligen Schulkindern, am nahen Strand von La Torche. Mein Surflehrer heißt Bérenger Fontaine. Auf seinem rechten Unterarm sind die Buchstaben „BZH“ eintätowiert, das ist die Abkürzung für Breizh, den bretonischen Namen der Bretagne.

„Wir sind wie eine Bruderschaft“, erzählt der 29-jährige Lehrer. Die Menschen dieser Gegend hätten eine uralte Beziehung zum Meer, die Surfer seien ihr moderner Ausdruck. Wie auch die Fischer und Seefahrer nehmen sie seit Kurzem an den traditionellen Pardons teil: den jahrhundertealten religiösen Prozessionen, die so typisch für die Bretagne sind. Während des Pardon der Gemeinde Notre-Dame de Tronoën im September bringen die Surfer sogar ihre Bretter in die Kirche, damit sie gesegnet werden.

Ein paar Abende später komme ich an einem weiteren Fest Noz vorbei. In einem einfachen Unterstand aus Wellblech außerhalb von Ploumoguer haben sich mehrere hundert Bretonen versammelt, um zu feiern. Ehe ich mich versehe, holen mich zwei Männer auf die Tanzfläche und stellen mich zwischen zwei ältere Frauen mit sehr ernsten Mienen. Die Damen korrigieren sofort meine Handhaltung, dann geht es los.

Zuerst mache ich nur irgendwie mit. Doch nach kurzer Zeit beginne ich, den Rhythmus zu spüren und bewege mich, ohne groß darüber nachzudenken. Ich lächle den Frauen neben mir zu. Sie lächeln zurück. Für einen kurzen Moment bin ich ein Teil von ihnen.

Dieser Artikel wurde gekürzt. Lesen Sie die ganze Reportage in Heft 2/2018 des National Geographic Traveler. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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