Die Welt meines Vaters

Auf einer Reise in das Dorf seiner Vorfahren fand unser Autor seine verloren geglaubten griechischen Wurzeln. Und was sind die schönsten Orte des Landes? Da haben wir ein paar Tipps.

Von Christopher Vourlias
Veröffentlicht am 10. Juli 2019, 09:13 MESZ
Griechenland Reisetipps
Einer der schönsten Strände Griechenlands liegt in der Navagio-Bucht auf der Ionischen Insel Zakynthos. Er ist nur mit dem Boot zu erreichen.
Foto von Colour Box

Wie immer ist mein Vater schon im Morgengrauen auf den Beinen. Ich höre ihn im Gästezimmer, wie er seine Sachen packt. Solange ich denken kann, geizt mein Vater mit Zeit. Nur keine Minute verlieren. Am Küchentisch brütet er über Straßenkarten und sucht penibel die Route, die ihn wenige Minuten früher ans Ziel zu bringen verspricht oder mit der er einen Stau umfahren kann.

Zwei Tage nach unserer Ankunft in Athen bereiten wir uns im Haus meines Onkels auf den Weg ins Agrafa-Gebirge vor: in die Heimat unserer Vorfahren. Es liegt an der Südspitze des Pindos – des Gebirges also, das das Rückgrat von Zentralgriechenland bildet.

Hinter den imposanten Gipfeln des Agrafa-Gebirges liegt das Dorf, in dem er geboren wurde. Das bergige Hinterland erstreckt sich nach Norden in Richtung Albanien. Im 19. Jahrhundert trieben hier Banditen und Straßenräuber ihr Unwesen. Im Unabhängigkeitskrieg wurden viele von ihnen zu Freiheitskämpfern gegen die Türken. Später, im Zweiten Weltkrieg, wehrten sich meine Vorfahren aus den Bergen gegen italienische Truppen.

Fast jeden Sommer besucht mein Vater, der seit zehn Jahren Rentner ist, sein Dorf, schwelgt in Erinnerungen, lässt alte Freundschaften wiederaufleben und irgendeinem Groll seinen Lauf, und er kauft Honig aus der Imkerei seines Cousins Spiro. Dieses Mal begleite ich ihn auf dieser Reise, weil ich das Heimatland meines Vaters noch viel zu wenig kenne.

Mit seinen sehnigen Armen hievt er das Gepäck in den Kofferraum. Ich habe Rettungssanitäter erlebt, die den Transport von Schwerverletzten weniger eilig erledigten. Wir verabschieden uns mit einem kurzen Hupen. Mein Onkel nimmt seine Baseballmütze mit der Aufschrift „Pebble Beach“ ab und winkt damit fröhlich im Wind. Die Ankunftszeit auf dem Navi verschiebt sich gerade von 11.48 Uhr auf 11.49 Uhr. „Schon eine Minute verloren“, sagt mein Vater grimmig.

Das Auto eilt an trockenen Olivenhainen vorbei, hinauf ins Vorgebirge. Unter uns brütet das thessalische Tal in der Hitze. Wenn es Griechenland mit all seinen Errungenschaften nicht gegeben hätte, wie stünde es dann heute mit der Menschheit?“, fragt mein Vater. Die unausgesprochene Antwort: Wir würden noch wie die Neandertaler in Höhlen leben. Dann schwärmt er von der Architektur seiner Heimat und von ihren Philosophen. Nach fast einem halben Jahrhundert, das er nun schon in Übersee lebt, ist seine Treue zum Heimatland eher noch gewachsen.

Ich lasse das Fenster herunter, um den Duft der Pinien am Berghang zu schnuppern. Vor 50 Jahren gab es hier nur eine schmale Piste aus Kies. Damals stiegen mein Vater und sein Bruder mit dem Familienesel acht Stunden lang hinunter ins Tal nach Karditsa, um einzukaufen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass mein Vater einmal einen Esel in die Stadt trieb – er, der zwei Autos besitzt und einen Flachbildfernseher, der sein Wohnzimmer wie ein Nasa-Kontrollzentrum aussehen lässt.

Als der Bürgerkrieg zwischen linken und rechten Kräften in den Vierzigerjahren das Land verwüstete, musste er, noch ein Kleinkind, sein Dorf verlassen. Auf unserem Weg durch die Haarnadelkurven erzählt er mir von dem Waisenhaus, in dem er die Kriegsjahre verbrachte, von der kommunistischen Guerilla und den rechten Todesschwadronen, die in die Dörfer einfielen. Von Verrat, der Familien zerriss.

Das Dorf meines Vaters besteht aus einem Dutzend Gebäuden, die an einen schroffen Hang gebaut sind. Im Haus meiner Cousins begrüßt man uns überschwänglich und tischt auf: frischen Joghurt, hausgemachte Konfitüren und kandierte Früchte. Zur Mittagszeit biegen sich die Tische unter gebratenem Lamm, Teigtaschen und Ziegenkäse. Die Menschen hier haben die jüngste, jahrelange Wirtschaftskrise besser überstanden als Griechen anderswo. Das Land ist fruchtbar, fast alles, was wir gerade essen, stammt aus eigenem Anbau. Als wir später das Haus einer alten Nachbarin verlassen, überhäuft sie uns mit Tomaten, Paprika, Auberginen und Feigen. „Ti allo theleis?“, fragt sie meinen Vater. „Was möchtest du sonst noch?“ Sie pflückt zwei Basilikumstängel und drückt sie mir in die Hand.

Erinnerungen an die Besuche in meiner Kindheit kommen mir wieder in den Sinn: Bilder von glücklichem Chaos, Festessen an Heiligentagen und herzlicher Gastfreundschaft. Kein Wunder, dass ganze Generationen von Reisenden für dieses Land schwärmten. Der englische Schriftsteller Lord Byron behauptete sogar: „Wenn ich ein Dichter bin, dann weil mich die Luft Griechenlands dazu gemacht hat.“

Schmeichelhafte Worte. Aber es ist eine Sache, griechische Luft zu atmen, und eine ganz andere, griechische Verwandte zu haben. In jedem Haus, das wir besuchen, hören wir uns ihre Klagen an: über heuchlerische Nachbarn, niederträchtige Schwager und geizige Cousins in weit entfernten Provinzen. Mein Vater schwelgt darin wie in einem warmen Bad. Offenbar hat er über die Jahre gedanklich Buch darüber geführt, wer ihm irgendwann einmal Unrecht getan hat. Damit tritt er hier auf aufmerksame Zuhörer – die aber mit ziemlicher Sicherheit ebenso über ihn herziehen werden, sobald wir uns verabschiedet haben.

Am Sonntagmorgen hallen Kirchenglocken durchs Tal. Von allen Seiten kommen die Menschen herbei, viele der alten Frauen gebeugt und in schwarzem Kleid. Wir kommen gerade rechtzeitig, als der Messwein ausgegeben wird. Der griechisch-orthodoxe Gottesdienst wird in altertümlichem Griechisch abgehalten, ich verstehe kein Wort. Als alles vorbei ist, versammelt sich die Gemeinde an der Kirchentür. Mein Vater setzt eine Sonnenbrille mit dem eingravierten Wort „Ironman“ auf. „Wenn du ins Freie gehst, musst du immer eine Sonnenbrille tragen, damit niemand deine Augen erkennen kann“, sagt er. Ich erkenne ein leichtes Schmunzeln auf seinem Gesicht.

So habe ich mir die Woche hier eigentlich nicht vorgestellt. Ich hatte eine triumphale Rückkehr in ein Dorf erwartet, das ich seit 30 Jahren nicht gesehen hatte und wo meine Brüder und ich einst kleine Stars waren – die Amerikanakia in kurzen Hosen, die hinten im Laden von Cousin Perikles die Videospielautomaten mit Drachmen fütterten. Aber die ganze Woche über meidet mein Vater bestimmte Häuser. Wie so oft in Familiendramen sind die Feindschaften zeitlos, und niemand weiß mehr, was eigentlich die Ursache war. Eines Nachmittags fahren wir einen Umweg, damit wir nicht am Haus seiner Schwester vorbeikommen, zu der er keinen Kontakt mehr hat. Der Groll, den mein Vater über die Jahrzehnte angehäuft hat und der mir immer übertrieben vorkam, hat hier seine Wurzeln.

Ich lerne jedoch meinen Vater auch als Funken sprühenden Erzähler kennen. Die ganze Woche über sprudeln Geschichten aus ihm heraus. Sein Gesicht wirkt dann jünger, fast spitzbübisch. „Ich weiß noch ...“, sagt er immer wieder zu mir und hält an einem alten Haus, einem Flussbett oder einem unscheinbaren Steinhaufen. Durch seine Erzählungen erwachen die Schafspferche, Pappeln und selbst gebauten Bienenstöcke plötzlich zum Leben. Selbst mein Griechisch, das ich nur schlecht beherrsche, klingt hier flüssiger. Mir wird klar, dass das alles zu meiner Lebensgeschichte gehört – ein Erbe, das ähnlich wie mein schütteres Haar in meine DNA eingeschrieben ist.

An einem anderen Nachmittag steigen wir über Nebenstraßen zum Dorffriedhof hinauf. Das Tor hängt lose und quietscht in den Angeln. Mein Vater öffnet es mit missbilligendem Grunzen. In der Nähe beugen sich zwei wasserstoffblonde Frauen über ein Grab und suchen in einem Holzkasten nach Reinigungsmitteln. Witwen, Schwestern und Töchter schrubben regelmäßig die Grabsteine, richten sorgfältig die Plastikblumen und kümmern sich um die Messinglaternen, in denen stets Kerzen brennen. Mein Vater stellt ihnen seinen amerikanischen Sohn vor. Auch sie gehören zur Verwandtschaft.

Während ich durch das hochgewachsene Gras von Grab zu Grab gehe, stelle ich mir den Sommerabend vor fast 50 Jahren vor, als mein Vater, damals ein junger Matrose auf einem griechischen Schiff, in einem Hafen südlich von New York Hals über Kopf abheuerte. Wie er immer mal wieder erzählte, stürzte er sich an jenem Abend voller Elan in ein neues Leben in Amerika. Aber in Wahrheit hat ein Teil von ihm sein Dorf nie verlassen. Sehnsucht bindet ihn untrennbar an diesen Ort. Ich musste um die halbe Welt reisen, um zum ersten Mal meinem griechischen Vater zu begegnen.

 

 

 

 

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