Die wahre Geschichte des Robinson Crusoe

Ein schönes Eiland, ein Schiffbrüchiger und ein Wilder: Daniel Defoes Werk ist eine Ausgeburt der Fantasie. Den einsamen Seemann auf einer entlegenen Insel gab es allerdings wirklich - nur ganz woanders.

Von Claus Lutterbeck
bilder von Philipp Spalek
Veröffentlicht am 26. Sept. 2019, 06:59 MESZ
Die Robinson-Crusoe-Insel
Robinson-Crusoe-Insel, so heißt die sturmgepeitschte Insel heute. Sie liegt 700 Kilometer vor dem südamerikanischen Festland im Pazifik. 1704, als ihr Name noch Más a Tierra war, wurde hier der schottische Steuermann Alexander Selkirk ausgesetzt. Seine Geschichte diente vermutlich Daniel Defoe als Vorlage für seinen Roman.
Foto von Philipp Spalek

Er war alt, er war pleite, und er brauchte Geld. Seine Tochter wollte heiraten, aber die Firmen, die er gegründet hatte, waren alle bankrott. Er war gescheitert als Strumpf- und Ziegelfabrikant, als Parfümhersteller, Zeitungsverleger, Geheimagent und Steuereintreiber. „13-mal reich und wieder arm“ sei er in seinem aufregenden Leben gewesen, stöhnte Daniel Defoe, der Sohn eines Kerzenmachers aus London. Eines aber konnte der fromme Mann richtig gut: schreiben. Er besaß eine überbordende Fantasie und eine flinke Feder; er verstand es, wenig Wahres und viel Erfundenes geschickt zu vermengen. Und vor allem: Er hatte einen unglaublichen Riecher dafür, was die Leute lesen wollten. Viele Hundert Pamphlete und religiöse Traktate, politische Schmähschriften und Satiren hatte der Topjournalist seiner Zeit verfasst, zumeist unter einem seiner 198 Pseudonyme.

Ein Roman war noch nicht dabei, als er im reifen Alter von 59 Jahren eine Abenteuergeschichte niederschrieb, wie sie England, ja Europa bis dahin nicht gelesen hatte. Die Botschaft seines Buches war kurz: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Der Titel war lang: „Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann: Welcher acht und zwanzig Jahre ganz allein auf einer unbewohnten Insel an der amerikanischen Küste, nahe der Mündung des großen Flusses Oroonoque lebte; an deren Strand er geworfen wurde nach einem Schiffbruch, bei dem die ganze Besatzung außer ihm selbst ums Leben kam. Nebst einem Bericht, wie er wundersam durch Piraten gerettet wurde. Geschrieben von ihm selbst.“

Das war natürlich gelogen. Es gab keinen Robinson, der etwas hätte aufschreiben können, die Figur hatte Defoe erfunden. Es gab diese Insel nicht, auf der nackte Menschenfresser ihre Feinde verspeisten, und es gab auch keinen Freitag, keinen gehorsamen Wilden, den Robinson hätte zum gottesfürchtigen Protestanten erziehen können. Was es allerdings gab, war ein schottischer Matrose namens Alexander Selkirk, der von 1704 bis 1709 allein auf einer abgelegenen Insel namens Más a Tierra im Pazifik überlebt hatte. Er war das Stadtgespräch an der Themse, als er 1711 nach London zurückkehrte. Es ist anzunehmen, dass Defoe den Seemann getroffen und interviewt hat.

Was an der abenteuerlichen Geschichte wahr ist, die er dann schrieb, woher seine Informationen kommen, wer die Vorbilder waren für seine Romanfigur und wo sie gehaust hat, darüber streiten bis heute die Gelehrten.

Weil Defoe den Schauplatz in die Karibik legte, glaubte man damals (einige Forscher sogar bis heute), Tobago nahe der Orinoko-Mündung sei die wahre Robinson-Insel. Tatsache aber ist: Tobago war weder klein noch einsam noch von Menschenfressern bewohnt. Dort schufteten Sklaven auf den Zucker- und Baumwollplantagen der Briten. Auch die reiche Flora, die Defoe in seinem Roman zauberte, war frei erfunden. Nirgendwo in der Karibik wuchsen Trauben, Zitronen, Dattelpalmen, Melonen oder Kakaobäume. Es gab auch keine Pinguine oder Seehunde, wie im Roman, und das milde Klima, das Robinson genoss, herrschte dort ebenfalls nicht – die Karibik ist tropisch heiß und feucht.

Wahr oder unwahr? Den Lesern damals war das egal, sie verschlangen das Buch. Defoe verstand es meisterhaft, zeitlose, elementare Themen mit brandaktuellen, politischen Fragen zu verflechten. Geschickt bediente er die imperialen Sehnsüchte seiner Zeitgenossen, die nach einer größeren Rolle Englands in der Welt gierten.

Die aufstrebende Seemacht England befand sich in einem nicht erklärten Wirtschaftskrieg mit der absteigenden Weltmacht Spanien, die den südamerikanischen Kontinent 200 Jahre lang weitgehend ungestört ausgeplündert hatte. Weil man es nicht wagte, die Spanier offen anzugreifen, überließ man das Beutemachen privaten Investoren aus der Londoner City.

Die staatlich anerkannte Freibeuterei funktionierte so: Man besorgte sich beim König einen „Kaperbrief“, in dem die Krone gegen eine Beteiligung von 20 Prozent an der Beute erlaubte, fremde Schiffe zu überfallen. Mit diesem Dokument schickten die Investoren dann von ihnen angeheuerte Kapitäne auf Kaperfahrt.

Die Freibeuter Ihrer Majestät waren die Helden ihrer Zeit, sie mehrten nicht nur den Reichtum von Krone und City sondern lieferten auch abenteuerliche Berichte aus den entferntesten Gegenden der Erde. Unter ihnen war William Dampier eine Ausnahmegestalt. Kein anderer hatte die Erde so oft umrundet wie er, nämlich dreimal, und kein anderer betrieb das Piratenhandwerk so systematisch, geradezu wissenschaftlich.

Wo immer er aufkreuzte, ließ er Karten anfertigen, fragte Einheimische aus, untersuchte Meeresströmungen, Wetter, Flora und Fauna und schrieb darüber detaillierte Berichte für seine Geldgeber.

Dampier war ein unsagbares Raubein, er war bei den Seeleuten verhasst, weil er ein Säufer, tyrannisch und brutal war. Die Investoren aber rissen sich um ihn, weil er ihnen hohe Profite versprach.

Mit zwei kleinen Schiffen, der „Saint George“ und der „Cinque Ports“, lief Kapitän Dampier 1703 von Irland aus, grobe Richtung: Pazifik. Man hatte 180 Mann Besatzung angeheuert, dreimal so viele, wie man eigentlich brauchte, denn man richtete sich auf eine besonders lange, verlustreiche Fahrt ein. Das Objekt der Begierde war ein sagenhaft reich beladenes Schiff der Spanier, das jedes Jahr im Juni Gold- und Silbermünzen im Wert von vielen Millionen Real vom spanischen Pazifikhafen Acapulco über den Ozean nach Manila brachte, in die Kolonie Philippinen.

Was von der Beute übrig blieb, nachdem der König zugelangt hatte, sollte so aufgeteilt werden: Zwei Drittel für die Eigner, ein Drittel für Offiziere und Matrosen. Wie damals üblich, bekamen diese keinen Sold, sondern nur einen Anteil an der Beute.

Es fanden sich immer genug Abenteuerlustige und entlaufene Sträflinge, die schnell reich werden wollten. Schwieriger war es, gute Offiziere zu finden. Dampier schätzte sich glücklich, den 27-jährigen schottischen Steuermann Alexander Selkirk angeheuert zu haben, einen rohen, streitlustigen Gesellen, der gleich zwei Frauen an Land zurückließ und als erfahrener Navigator galt.

Als die beiden Schiffe endlich im Pazifik aufkreuzten, war das eigentliche Ziel, das Goldschiff, längst weg. Die Seeleute waren krank, viele an Skorbut, Durchfall und Fieber gestorben, Meutereien und der Rum machten alles noch schlimmer. Vor der chilenischen Küste trennte man sich im Streit. Dampier ging mit der „Saint George“ weiter an der Küste auf Jagd, Thomas Stradling, der despotische, erst 21 Jahre alte Kapitän der „Cinque Ports“ beschloss, erst Proviant und Frischwasser zu fassen.

Im Oktober 1704 ankerte er vor einer einsamen Insel, von der Dampier ihm berichtet hatte. Sie war im Jahr 1574 von Kapitän Juan Fernández entdeckt worden und lag 650 Kilometer westlich der chilenischen Hafenstadt Valparaiso mitten im Pazifik.

Sie erhob sich fast tausend Meter hoch schroff aus dem Meer, war bis 1574 nie von Menschen besiedelt worden und besaß eine einzigartige Pflanzen- und Tierwelt. Viele Arten waren endemisch, darunter ein winziger Kolibri und eine Pelzrobbenart, die heute stark dezimiert ist. Die steilen Berge waren mit niedrigem Wald bedeckt, vom ewigen Wind krumm gebogen. An den Hängen nah am Meer wuchsen kostbare Sandelbäume. Im Winter regnete es unaufhörlich, es war kühl und stürmisch, im Sommerhalbjahr dagegen mild und sonnig.

Das feucht-ozeanische Klima auf den Juan-Fernández-Inseln lässt eine üppige Vegetation gedeihen.
Foto von Philipp Spalek

Die junge Insel, die erst bei einem Vulkanausbruch vor fünf Millionen Jahren aus dem Meer gestiegen war, hatte einem Garten Eden geähnelt – bis der Mensch kam. Dann nahm die Katastrophe umgehend ihren Lauf. Die ersten spanischen Siedler im Jahr 1591 hatten ein paar Ziegen mitgebracht, die sich explosionsartig vermehrten. Innerhalb weniger Jahre war der niedrige, südliche Teil der Insel kahl gefressen.

Nachdem die Männer sich erholt hatten, wollte der junge Kapitän mit der „Cinque Ports“ umgehend aufbrechen, um endlich an die Goldtöpfe zu kommen. Sein Steuermann Selkirk war dagegen. Das Schiff werde untergehen, warnte er, man müsse es reparieren, denn der hölzerne Rumpf sei vom Wurm zerfressen. Es kam zum Streit, Selkirk weigerte sich weiterzusegeln. Der Kapitän setzte den Quertreiber im Oktober 1704 aus und fuhr los. Noch vor der chilenischen Küste soff das Schiff ab, und Selkirk saß allein auf der Insel, alles, was er besaß, waren eine Matratze, eine Muskete, eine Pistole, etwas Schießpulver, eine Axt, ein Messer, seine Navigationsinstrumente, ein Kochtopf, zwei Pfund Tabak, etwas Käse und Marmelade, eine Flasche Rum und eine Bibel.

Er war überzeugt, bald wieder wegzukommen, doch es wurden vier Jahre und vier Monate daraus, eine schreckliche Zeit, die mit der Dschungelcamp-Romantik aus dem „Robinson“-Roman wenig zu tun hatte. Nachts fraßen ihn Ratten an, tagsüber war er damit ausgelastet, Essbares zu finden. Er litt an Durchfall, starb fast daran. Es dauerte Monate, bis er seine tiefe Depression überwunden hatte und anfing, Ziegen zu zähmen. Anders als Robinson hatte er keinen Papagei, mit dem er reden, und auch keinen treuen Wilden, dem er Englisch beibringen konnte. In seiner grenzenlosen Einsamkeit sang er Kirchenlieder, um nicht Sprache und Verstand zu verlieren.

BELIEBT

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    Diese Höhle in San Juan Bautista auf der Robinson-Crusoe-Insel wurde erst 1750/51 geschaffen, möglicherweise als Gefängnis für Aufständische. Selkirk wird hier kaum Unterschlupf gefunden haben. Bis heute weiß niemand, wo auf der Insel er sich aufhielt.
    Foto von Philipp Spalek

    Als ihn englische Freibeuter am 1. Februar 1709 am Strand erblickten, wild gestikulierend, mit verfilztem Haar und in stinkende Ziegenhäute gekleidet, wollten sie ihn erschießen, weil sie ihn für ein affenähnliches Ungeheuer hielten. Kapitän Woodes Rogers schrieb in sein Tagebuch: „Unsere Pinasse kehrte vom Ufer zurück, beladen mit Langusten und einem Mann in Ziegenfellen, der wilder aussah als die ursprünglichen Eigentümerinnen derselben.“

    Zwei Jahre später, am 14. Oktober 1711, lief das Freibeuterschiff in London ein, gierig erwartet von den Investoren. Am Steuer Selkirk, der von seinen Rettern eingespannt worden war und dessen abenteuerliche Geschichte sich nun schnell herumsprach und von allen Zeitungen nacherzählt wurde.

    Drei Jahre lang stritt man sich um die äußerst magere Beute. Die einfachen Seeleute standen am Ende mit fast leeren Händen da, der mittlerweile prominente Selkirk erhielt ein Vielfaches mehr. Anders als sein Alter Ego im „Robinson“-Roman wurde Selkirk dennoch nie wieder glücklich. Er soff und prügelte sich wie früher, musste vor der Justiz fliehen und heuerte 1720 als Erster Maat auf der HMS „Weymouth“ an. Bei einer Fahrt an die westafrikanische Küste steckte er sich mit einer tropischen Krankheit an. Am 13. Dezember 1721 blutete Selkirk aus Augen und Nase, am Abend warf man ihn tot über Bord. Der Mann, der in seinem literarischen Leben Robinson hieß und unsterblich war, wurde im realen Leben nur 45 Jahre alt. Er starb arm. Um seine letzte Heuer von 35 Pfund stritten sich seine zwei Witwen.

    Im National Geographic-Traveler 3/2019 lesen Sie mehr über Alexander Selkirks Spuren auf der Robinson-Crusoe-Insel.

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