Forscher im Eis

Eine Fotografin driftet auf einer Eisscholle durch die Polarnacht. Die Expedition führt ihr unglaubliche Schönheiten und ihre eigenen Grenzen vor Augen.

Von Esther Horvath
bilder von Esther Horvath
Veröffentlicht am 8. Okt. 2021, 09:25 MESZ, Aktualisiert am 28. Okt. 2021, 10:29 MESZ
Eisbärenwache auf dem Eis des Arktischen Ozeans

Eisbärenwächterin Trude Hohle sucht bei einer Forschungsexpedition 2019 einen sicheren Weg über das Eis des Arktischen Ozeans. 

Foto von Esther Horvath

Gefangen im Eis, trieb das Forschungsschiff Polarstern fast ein Jahr lang auf dem transpolaren Driftstrom. An Bord trotzten etwa hundert Wissenschaftler und Besatzungsmitglieder dem eisigen Winter, um den Klimawandel in der Arktis zu erforschen. Ich fotografierte die erste Etappe der MOSAiC-Expedition – die längste und größte Arktisforschungsreise der Geschichte. Für mich war sie ein Geschenk des Himmels.

Als die Polarstern am 20. September 2019 vom norwegischen Tromsø aus in See stach, hatte ich bereits an neun Polarexpeditionen teilgenommen. MOSAiC war anders. Zum einen fanden die ersten Etappen während der langen, dunklen Polarnacht statt. Zum anderen war Hilfe sehr weit weg. Das Schiff trieb im Winter, während das Eis am dicksten war, in der Nähe des Nordpols. Wäre etwas schief gegangen, hätte es zwei oder drei Wochen gedauert, bis Hilfe eingetroffen wäre. Und dann noch einmal zwei bis drei Wochen, um wieder zu irgendeiner menschlichen Behausung zurückzukehren. Wir mussten im Ernstfall mit allem selbst fertig werden – von einem Feuer über einen Sturz ins eiskalte Wasser bis hin zum Herzinfarkt. Zahnschmerzen wurden präventiv behandelt: Ein Zahnarzt entfernte meine Weisheitszähne vor der Reise.

Hilfe war sehr weit weg

Das Training begann lange im Voraus. In einem Wasserbecken schwammen wir während eines simulierten Sturms durch tosende Wellen zu einer Rettungsinsel. Wir sahen Blitze, sonst nur Dunkelheit. Ohrenbetäubender Wind und Donner hinderten uns daran, miteinander zu kommunizieren. Beim Sicherheitstraining zur Abwehr von Eisbären übten wir im Dunkeln, mit einem Gewehr und einer Leuchtpistole zu schießen, während um uns herum Menschen schrien. An manchen Tagen war ich so müde, dass ich nur noch weinte.

Ich habe jedes Training zweimal gemacht – als Teilnehmerin und als Fotografin. Die Brandbekämpfungsübungen waren am schlimmsten. Wir trugen eine 30 Kilogramm schwere Ausrüstung in einem Raum, der Temperaturen von bis zu 120 Grad erreichte. Die anderen Teilnehmer verbrachten darin etwa zehn Minuten, ich war dort oft stundenlang. Dabei hielt ich die ganze Zeit völlig verschwitzt meine schwere Kamera in der Hand. Als alles vorbei war, brach ich zusammen.

Beim Training für die MOSAiC-Forschungsexpedition lernen die Besatzungsmitglieder, wie sie sich beim Sturz ins eiskalte arktische Wasser verhalten müssen. Hier zieht eine Seilwinde einen erschöpften Teilnehmer aus dem Pool, nachdem dieser durch die tosenden Wellen und peitschenden Winde eines simulierten Sturms geschwommen ist. 

Foto von Esther Horvath

Trotzdem hat es Spaß gemacht. Ich wusste jetzt, wie ich mich und meine Kollegen selbst unter extremen Bedingungen schützen kann und wo meine Grenzen liegen. Ich meldete mich sogar freiwillig für ein Überlebenstraining an, bei dem 14 Teilnehmer auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen zurückgelassen wurden. Wir mussten unsere begrenzten Vorräte untereinander aufteilen (nur fünf Schlafsäcke), Wasser finden und uns vor den 3000 Eisbären in der Gegend in Acht nehmen. Am Ende war ich total erschöpft, blickte der bevorstehenden Expedition aber überraschend gelassen entgegen. Ich war vorbereitet.

Wir erreichten die Eisscholle, die unser Zuhause werden sollte, am 4. Oktober – einem der letzten Tage, an denen die Sonne über den Horizont stieg. Schon bald blieb es den ganzen Tag über dunkel. Der Mond und die Sterne waren oft von Wolken verdeckt. Das einzige Licht kam vom Scheinwerfer der „Polarstern“ und von den Stirnlampen der Crew.

Bald blieb es den ganzen Tag über dunkel

Fotografieren war schwierig. Aufgrund von Wind und Schneeverwehungen konnte ich im Sucher meiner Kamera kaum etwas erkennen. Vor allem wenn ich eine Schneebrille trug. Oft sah ich etwas Schönes, konnte aber den Auslöser nicht drücken, weil meine Hände vor Kälte erstarrt waren.

Jeden Tag musste ich mir bewusst machen, dass ich nicht an Land war. Zwischen mir und dem Meer lagen ungefähr 60 bis 90 Zentimeter zerbrechliches Eis. Durch die Lichter des Schiffs erschien das Eis grau; der Himmel war pures Schwarz. Es erinnerte mich an die berühmten Nasa-Bilder vom Mond, auf denen man die Mondoberfläche und im Hintergrund das Universum sieht. Das waren die Tage, die ich am meisten genoss.

In der Dunkelheit lauerten aber auch Gefahren: Eisbären. An meinem zweiten und letzten Tag als Eisbärenwache stand ich allein mit meinem Gewehr vor einem Zelt, in dem zwei Wissenschaftler arbeiteten. Es war zu windig, zu verschneit und zu dunkel, um irgendetwas zu sehen, nicht einmal einen drei Meter großen Eisbären. Aber ich erinnerte mich daran, dass es um die Forschungsstation einen Signalzaun gab. Sobald ein Eisbär hindurchtrottete, würde ein Alarm ausgelöst.

Als plötzlich eine orangefarbene Leuchtkugel in die Luft schoss, dachte ich nur noch: Der Eisbär wird jetzt Angst bekommen haben und läuft direkt auf mich zu. Ich versuchte, meine Signalpistole zu zücken, um den Bären zu verscheuchen. Aber meine Hände waren zu klamm. Einer der Wissenschaftler riss mir die Pistole aus der Hand. Als wir es zurück zum Schiff geschafft hatten, zitterte ich. Später stellte die Mannschaft fest, dass der Wind den Alarm ausgelöst hatte.

Am 13. Dezember sahen wir ein Schiff am Horizont: den Eisbrecher „Kapitan Dranitsyn“, der das nächste Team absetzen und uns abholen sollte. Die Rückfahrt nach Tromsø durch die oft dicke Eisschicht dauerte 16 Tage. Etwa eine Woche nach meiner Rückkehr war ich in Washington, D.C. auf dem National Geographic Storytellers Summit. Als ich durch die Straßen ging, wurde mir plötzlich bewusst: Ich konnte nicht mehr in das Eis einbrechen und ins Meer fallen. Ich musste den Horizont nicht länger nach Eisbären absuchen. Ich war in Sicherheit. In diesem Moment begriff ich, wie wachsam ich geworden war und wie viel Angst ich gehabt hatte.

Und doch vermisste ich die Dunkelheit – so sehr.

Esther Horvath ist eine in Deutschland lebende Fotografin, die regelmäßig die Polarregionen bereist. Für die September-Ausgabe 2019 dokumentierte sie das Leben auf einer Forschungsstation in Grönland.

Die Oktober 2021-Ausgabe von National Geographic

Foto von National Geographic

Dieser Artikel erschien in der Oktober 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen! 

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