Verborgene Geschichten: Die Gräber von Hegra

Eine faszinierende Totenstadt offenbart nicht nur die Bestattungsrituale eines verschwundenen Volkes.

Hegra: Ein außergewöhnlicher Ort, an dem es noch viele Geschichten zu entdecken gibt. 

Foto von Matthieu Paley
Von Royal Commission for AlUla
Veröffentlicht am 26. Sept. 2022, 18:07 MESZ

Die Nabatäer dominierten mehrere Jahrhunderte lang die antiken Karawanenhandelsrouten zwischen dem Mittelmeer und Südarabien. Aber sie schrieben ihre Geschichte nicht auf: Sie begruben sie. Im äußersten Süden des nabatäischen Landes, im Nordwesten Saudi-Arabiens, erzählen die 109 Gräber der antiken Stadt Hegra von der glorreichen Vergangenheit der Nabatäer.

Gemeißelt aus hoch aufragenden, honigfarbenen Felsen, die sich aus dem sonnenverbrannten Sand erheben, formen die Gräber eine Totenstadt, die das Stadtzentrum von Hegra umschließt. Von der Lehmziegel-Architektur der ummauerten Stadt ist nur wenig erhalten geblieben. Die Gräber haben jedoch die Jahrhunderte der harten Sonneneinstrahlung und Erosion in bemerkenswert gutem Zustand überstanden. Auch die über 130 noch erhaltenen Brunnen, die damals von den Nabatäern angelegt wurden, sind ein Beleg für deren kompetentes Wassermanagement.

Ein Tor zur Vergangenheit
Die gut erhaltenen Grabstätten von Hegra geben Einblick in die Religion und Kultur der Nabatäer.

Die vielen Gräber mit ihren verzierten Fassaden geben einen Einblick in die Beziehungen, die diese arabische Stammesgesellschaft mit anderen Kulturen pflegte, bis sie 106 n. Chr. ihre Unabhängigkeit an Rom verlor. Alle datierbaren Gräber stammen aus dem ersten Jahrhundert n. Chr., und viele sind mit geschnitzten Adlern, mythologischen Figuren, Schlangen und Sphinxen verziert.

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    Dieser kunstvolle Giebel eines Grabmals ist ein Beispiel für die Handwerkskunst der Hegra-Steinmetze.

    Foto mit freundlicher Genehmigung der Royal Commission for AlUla

    Es ist aber das geschriebene Wort, das diese Grabstätten einzigartig nabatäisch und auch typisch für Hegra macht. Diese Totenstadt liegt etwa 500 Kilometer von der nabatäischen Hauptstadt Petra entfernt. Im Gegensatz zu nahezu allen Gräbern in Petra tragen jedoch mehr als 30 der Grabfassaden von Hegra in den Fels gemeißelte Inschriften. Es sind juristische Texte, die den Namen der Eigentümer und manchmal auch ihre Rolle in der Gemeinschaft angeben. Sie wurden in nabatäischer Schrift verfasst, einer Variante des Aramäischen, aus der sich später das Arabische entwickelte.  

    Diese in Stein gemeißelte Grabinschrift gibt Aufschluss über den Besitzer des Grabes. Die Inschrift wurde in der nabatäischen Schrift verfasst, die sich später zur arabischen Schrift entwickelte.

    Foto von Matthieu Paley

    Was wir über die Nabatäer wussten, stammt vor allem von griechischen und römischen Historikern. Bis 2008 liefen große Ausgrabungen in Hegra an – genau in dem Jahr, in dem die Stadt zum ersten UNESCO-Weltkulturerbe Saudi-Arabiens erklärt wurde. Diodorus von Sizilien schrieb über sie: „Es gibt zwar viele arabische Stämme, die die Wüste als Weideland nutzen, aber die Nabatäer übertreffen die anderen bei Weitem an Reichtum, obwohl sie nicht viel mehr als 10.000 an der Zahl sind.“

    Die Gräber waren Ausdruck dieses Reichtums und sollten das Prestige der jeweiligen Familie unterstreichen. Die größten und am meisten verzierten Gräber wurden ganz bewusst so angelegt, dass sie vom Stadtzentrum Hegras aus sichtbar waren. Zahlreiche Eigentümer waren strategoi – ein griechisches Wort, das die Nabatäer entlehnt hatten, um einen lokalen Gouverneur mit militärischen und administrativen Aufgaben zu bezeichnen. In den Gräbern wurden auch viele Artefakte gefunden, von denen einige aus Mesopotamien, dem Mittelmeerraum oder oftmals auch aus Petra stammten. Bronzearmbänder, Ringe, Saatgut- oder Glasperlenketten sowie Gegenstände des täglichen Lebens wie Kämme, Kosmetikdosen, bestickte Taschentücher und Münzen fanden sich in den Gräbern. Die Grabpflege umfasste auch die körperlichen Überreste. Die Analyse von Rückständen organischen Materials auf Knochen und Textilfragmenten, die in den Gräbern gefunden wurden, ergab, dass die Nabatäer den Körper des Verstorbenen mit einer Mischung aus Fetten und Harzen von Weihrauch spendenden Bäumen und Sträuchern bestrichen.

    Manche der Gräber sind nach Frauen benannt, was auf ihr Recht hinweist, Gräber zu besitzen, und die Texte besagen auch, dass ihre Nachkommen die Gräber vererben können. Wie in vielen Gesellschaften enthalten die Inschriften Flüche, die sich gegen alle richten, die das Grab schänden oder versuchen, es für sich zu beanspruchen.

    Eine in den Sandstein gemeißelte Nische. 

    Foto von Matthieu Paley

    Ein typisches Beispiel für eine dieser Inschriften, für eine Frau namens Wushuh, kann etwa so übersetzt werden:

    Dies ist die Grabnische, die Wushuh, die Tochter von Bagrat, für sich selbst in dem Felsengrab angelegt hat, das ihr und ihren Töchtern zusteht. Wer sie für sich selbst öffnet oder sie für immer aus dieser Grabnische entfernt, soll unserem Herrn Haretat, dem König der Nabatäer, dem Verehrer seines Volkes, mit einer Summe von tausend Haretitle sela's haften. Und möge Dushara, der Gott unseres Herrn, und alle Götter denjenigen verfluchen, der diese Wushuh für immer aus dieser Grabnische entfernt.

    Rätselhaft bleibt weiterhin, warum einige der Gräber nie fertiggestellt wurden. Das größte Grab von Hegra – Lihyan, der Sohn von Kuza – ist 22 Meter hoch, aber unvollendet und wirft viele Fragen darüber auf, was in dieser Familie geschehen sein mag.

    Heute sind die Gräber einer der interessantesten Bereiche von Hegra, sowohl für Besucher als auch für Archäologen, die mit Untersuchungen, Ausgrabungen und Materialanalysen weiterhin die Geschichte der nabatäischen Kultur erforschen. Diese Grabstätten sind nicht nur sehenswert, sondern dienen auch als lebendige Archive – nicht zuletzt für saudische Besucher, die zum ersten Mal diesen Teil ihres langen Erbes erkunden und erfahren, wie ihre nabatäischen Vorfahren das Familienleben, die Religion, die Wirtschaft und die Gesellschaft sahen.

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