Zu Fuß von Garmisch an den Gardasee? Wie man eine Alpenüberquerung meistert

Es ist mehr als nur eine Wanderung. Es macht Landschaft, Architektur, Esskultur und ihre Wandlungen spürbar. Unsere Autorin hat eine besonders reizvolle Route gewählt – Gletscherquerungen und brennende Füße inklusive.

Von Franziska Haack
Veröffentlicht am 16. Mai 2023, 13:33 MESZ
Foto: Franziska Haack

Unsere Autorin Franziska Haack beim Aufstieg beim Atterkarjöchl, nahe Sölden, Österreich.

Foto von Franziska Haack

Bergerfahren bin ich, aber normalerweise wandere ich nicht mit 18-Kilo-Rucksack. Vorsichtig taste ich mich den schmalen Steig, über Felsen und Geröll, hinunter. Der Boden ist noch feucht vom Regen der vergangenen Nacht. Jetzt bloß nicht ausrutschen! Immer wieder bleibe ich stehen, um mich zu sammeln. Und um zu staunen. Schroffe Kalkwände erheben sich aus dem Grün des Bergwalds, ein Bach mäandert durch Kiesbänke. Irgendwann sind die vielen Wanderer auf dem gemütlicheren Weg unten im Reintal zu erkennen. Sie wollen zur Knorrhütte und am nächsten Tag auf die Zugspitze. Ich will zum Steinernen Hüttl und in den nächsten drei, vier Wochen bis zum Gardasee. Kurz bin ich Teil der Massen, dann wieder ganz allein. 

In 20 Tagen über die Alpen

Ich bin unterwegs auf einer Variante des L1, einer Alpenüberquerung, die als eher unbekannt und anspruchsvoll gilt. Die Originalroute führt nach Brescia, ich wandle sie etwas ab und wandere an den Gardasee, um zum Abschluss der Tour ins Wasser springen zu können. Insgesamt 20 Tage werde ich unterwegs sein, dabei etwa 30000 Höhenmeter und über 400 Kilometer zurücklegen. Und nur zwei Menschen treffen, die ebenfalls den L1 gehen. 

Die Landschaft ist extrem abwechslungsreich, die Übernachtungsmöglichkeiten sind es ebenso. Das Steinerne Hüttl ist eine rustikale Alm mit Plumpsklo und Platz für maximal zehn Gäste. Eine Handvoll Personen sitzt auf der Terrasse, als ich gegen sieben Uhr abends endlich ankomme. Im Matratzenlager unter dem Dach ist noch ein Bett frei, aber für das Abendessen bin ich zu spät. Gut, dass ich meinen halben Vorratsschrank und üppige Reste aus dem Kühlschrank dabeihabe. Während des Zähneputzens im „Spabereich“, einem Brunnen vor dem Hüttchen, in dem auch die Getränke kühl lagern, zeigt mir der Wirt und Hirte einen Hirsch am gegenüberliegenden Hang. 

Es sind diese Momente der Ruhe in den Abend und Morgenstunden, die für mich den Reiz des Weitwanderns ausmachen. Mit etwas Vorsprung loslaufen, wenn noch kein Trubel ist am Berg und die Luft angenehm kühl. Dafür trödle ich um die Mittagszeit gern ein bisschen. Suche mir ein schattiges Plätzchen für eine ausgiebige Pause, hüpfe in einen Bergsee. So durchquere ich eine Berggruppe nach der anderen, bin tagelang „oben“, weit entfernt vom Lärm der Zivilisation, bis ich wieder durch einen Talort komme. Weitgehend unberührte Natur im Wechsel mit Skigebieten, Landwirtschaft sowie Wander- und Mountainbike-Hotspots. 

Zu spät für die Idylle Ein eindrückliches Beispiel des Interessenskonflikts von Naturschützern und Naturnutzern erlebe ich recht am Anfang meiner Wanderung. Es ist schon früher Abend, als ich den Gipfel des Pirchkogels erreiche. Ich schaue mich um, will das Panorama genießen und sehe: eine Baustelle. Ich realisiere: Ja, ich bin wirklich zu spät. Das idyllische Längental ist passé. In dem einst unverbauten, artenreichen Hochtal gegenüber entsteht ein riesiger Speichersee, der aus sechs Wildbächen gespeist werden soll. Wasserkraft für die Verkehrswende – und den stetig wachsenden Energiehunger der Menschen. 

Höhlen bieten Schutz vor Gewitter

Meine Ausweichroute führt ein Tal weiter östlich an einem Speichersee entlang. Es ist ein seltsames Bild: links die riesige Staumauer des Finstertaler Speichers, in der Mitte der grüne Hang des Zwöflerkogels, der mit Lanzen zur Kunstschneeproduktion gespickt ist, und rechts die Baustelle. Der Lärm der Bagger und Lastwagen begleitet meinen Abstieg nach Kühtai, das ein belebter Skiort im Winter ist, traurig leer und hässlich im Sommer. Vom nächsten Tag bleibt mir vor allem eines in Erinnerung: die eineinhalb Stunden, die ich in einer Höhle kauere, gerade groß genug für mich und meinen Rucksack. Es ist unbequem und tropft von der Decke, aber ich bin in Sicherheit. 

Wie dumm, denke ich. Wie unfassbar dumm, im Angesicht der herankommenden dunklen Wolken immer noch weiter aufzusteigen. Zu glauben, ich wäre schneller als das Gewitter. Anscheinend bin ich schon am fünften Tag meiner Alpenüberquerung so sehr im Weit(er)- wandermodus, dass ich nicht mehr rational handeln, sondern nur noch laufen kann. Schließlich ist der Spuk vorbei, ich traue mich raus. Die Bergspitzen rundherum sind plötzlich weiß verschneit, Nebelschwaden hängen zwischen den Felsen. 

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Foto von National Geographic

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