Weddellmeer: Die extremste Ecke der Antarktis entdecken
Auf dem berüchtigten Weddellmeer in der Antarktis bekommt „abseits der Massen“ eine völlig neue Bedeutung.
Schiff im Weddellmeer
Als ich in das türkisfarbene Wasser gleite, bin ich sofort froh über die drei Paar Socken, die ich unter meinem Trockenanzug trage. Langsam schwimme ich an der zerklüfteten Kante eines Eisbergs vorbei, der über die Wasseroberfläche herausragt, und passe auf, dass ich ihm nicht zu nahe komme, falls er plötzlich umkippen sollte. Ich versuche, nicht an die vielen Möglichkeiten zu denken, wie ich auf dem eisigen Meeresgrund der Antarktis ein grausames Ende finden könnte, und konzentriere mich stattdessen auf das, was vor meiner Schnorchelmaske liegt: Tausende winziger, gallertartiger Kreaturen, die aussehen, als kämen sie aus einer anderen Welt.
„Wir können zum Mond fliegen, aber es gibt immer noch so viele Dinge auf diesem Planeten, die wir nicht verstehen“, sinnierte die Leiterin des Expeditionsteams, Florence „Flo“ Kuyper, zu Beginn unserer Reise. In der Tat habe ich hier draußen, in einer der wildesten und abgelegensten Ecken des Planeten, das Gefühl, durch meine Brille eine fremde Spezies zu beobachten. Plötzlich gibt es ein Gewusel von Flossen und GoPros, als unsere kleine Gruppe bemerkt, dass wir nicht alleine sind. Ein kurzes Erschrecken beim Anblick einer dunklen Gestalt, die sich unter Wasser auf uns zubewegt, verwandelt sich in pure Freude, als ich erkenne, dass es sich nur um ein neugieriges Pelzrobbenjunges handelt, das einen Blick auf die bunten Eindringlinge wirft, die in seinem eisigen Revier unterwegs sind. Die junge Robbe schwimmt spielerisch um uns herum und hält kurz inne, um mich mit großen, runden und tintenfarbenen Augen anzustarren, bevor sie in einem Blitz aus silbergrauem Fell davonschwimmt.
Dankbar nehme ich die Hilfe von „Scuba Pete“ Szyszka an, um meinen erfrorenen Körper zurück ins Schlauchboot zu hieven. Ich bin von unserer unerwarteten Begegnung so überwältigt, dass mir Freudentränen über die purpurfarbenen Wangen kullern. Ich hatte erwartet, dass meine erste Reise in die Antarktis eine emotionale Erfahrung sein würde, und ich hatte recht.
Durch das Weddellmeer: Auf den Spuren von Shackleton
Unsere Reise „Wild Antarctica“, die nur ein- oder zweimal pro Saison von Aurora Expeditions angeboten wird, führt uns direkt durch die „Hintertür“ der Antarktis in das Weddellmeer, das die Ostküste der Antarktischen Halbinsel umspült. Das Weddellmeer, von Sir Ernest Shackleton als „das schlimmste Meer der Welt“ bezeichnet, ist bekannt für seine riesigen, tafelförmigen Eisberge, das ganzjährige Meereis und seine Rolle in der maritimen Geschichte: 2022 wurde das Wrack von Shackletons Schiff Endurance in 3008 Meter Tiefe entdeckt.
Die zunehmende Zahl an Polarschiffen umfährt die tückischen Gewässer meist weiträumig. Dieses einsame Meer ist so weit vom Netz entfernt, wie es nur geht, obwohl ich feststelle, dass das Satelliten-Wi-Fi an Bord immer noch erstaunlich gut funktioniert. Die Mitglieder von Shackletons gescheiterter „British Imperial Trans-Antarctic Expedition“ waren nicht die einzigen Polarforscher, die dieses Schicksal ereilte. Die frühere Schwedische Antarktis-Expedition mit dem jungen Geologen Otto Nordenskjöld von 1901 bis 1903 war gezwungen, einen zweiten Winter auf Snow Hill Island zu verbringen, als die Antarctic, das Schiff, das die Expeditionsmitglieder im Sommer 1902/03 abholen sollte, nicht wieder auftauchte. Sie war vom Packeis zerdrückt worden, gesunken und ließ ihre Besatzung auf der weiter nördlich gelegenen Paulet-Insel zurück – eine Vorahnung auf das Schicksal der Endurance im Jahr 1915. Wie durch ein Wunder überlebten die Besatzungen beider Expeditionen – mit Ausnahme einer einzigen Seele der schwedischen Reise.
Klimawandel und Verantwortung: Ein Nachdenklicher Blick auf den Planeten
Als wir auf der Paulet-Insel aus den Booten steigen, um die Überreste einer Steinhütte zu besichtigen, die die Besatzung der Antarctic gebaut hat, ist der Gestank nach Guano und Tod überwältigend. Wir bahnen uns unseren Weg zwischen faulenzenden Robben und einer Handvoll verendeter Adeliepinguinkadaver. Unser Guide, der Antarktis-Historiker Steve Martin, bemerkt erstaunt, dass er zum ersten Mal so wenige Adeliepinguine an diesem Strand sieht. Normalerweise wimmelt es zu dieser Jahreszeit von jungen Pinguinen.
„Man kann über den Klimawandel sagen, was man will, aber er zeigt einem, dass etwas passiert“, sagt er mürrisch, während ich einer Skua – einer fleischfressenden Raubmöwe – dabei zusehe, wie sie die Überreste eines unglücklichen Pinguins zerpflückt, der von seinen Verwandten zurückgelassen wurde. Es ist einer von mehreren Momenten auf dieser Expedition, die mich zum Nachdenken über meinen eigenen Fußabdruck auf unserem zerbrechlichen Planeten bewegen.
Ich bin mir bewusst, dass eine Reise in die Antarktis sehr CO2-intensiv ist. Deshalb reise ich mit einem Unternehmen, das sich verpflichtet hat, seinen eigenen Fußabdruck zu reduzieren, um die Auswirkungen zu minimieren. Aurora Expeditions wurde 2021 als klimaneutral zertifiziert, und das sogenannte X-Bow-Rumpfdesign unseres Schiffes, der Greg Mortimer, steigert die Energieeffizienz und macht unsere Reise ruhiger – ein willkommener Bonus. Das in Australien ansässige Unternehmen strebt derzeit die Benefit-Corporation-Zertifizierung an, die die soziale, ökologische und ökonomische Gesamtleistung von Firmen auszeichnet.
Aurora Expeditions gehört auch zu einer wachsenden Zahl von Veranstaltern, die ihre Gäste ermutigen, während ihrer Reise einen Beitrag zur Wissenschaft zu leisten. Der Naturforscher und Meeresbiologe John Kirkwood unterrichtet mich in der Kunst der Seevogelbeobachtung, um gesichtete Tiere in eBird, einem Onlinearchiv für Vogeldaten, zu erfassen. Und als Flo ankündigt, dass eine Gruppe von Buckelwalen vor dem Bug gesichtet wurde, haste ich auf das Aussichtsdeck, um ihre Fluken (Schwanzflossen) zu fotografieren und in das Walbeobachtungsprojekt Happywhale hochzuladen.
Cover National Geographic Traveler 6/24
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